Am 7.11.1911 versammeln sich etwa 2000 Demonstrant/inn/en vor dem Haus Herthergasse 26 in Meidling, um gegen ungerechtfertigte Kündigungen zu protestieren. „Die Menge warf Steine gegen das Haus, und einige Fensterscheiben wurden durch Steinwürfe zertrümmert“, schreibt die Arbeiterzeitung. Die Sicherheitswache löst die Versammlung gewaltsam auf.
Wohnen im Kapitalismus ist keine Selbstverständlichkeit, es verwirklicht sich nur über ein bürgerliches Rechtsverhältnis, einen Miet- oder Kaufvertrag. Jedes Wohnrecht ist der Zahlungspflicht untergeordnet. Das gilt übrigens auch für andere Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Kleiden.
Die Handhabung, Flüchtlinge an den Peripherien, in der Einöde unterzubringen, ist inoffizielle politische Regel und gesellschaftlich umstandslos akzeptiert. Ohne dass es geschrieben stünde, gilt: Flüchtlinge haben in dieser Gesellschaft kein Recht auf soziale Teilhabe.
Baudelaire wählt das „Doppelte Zimmer“, das Sein im Wohnen als Maß der Entropie der modernen Existenz.
Mein Leben spielt sich nicht im weit verbreiteten Stakkatostil, dem täglichen Gehetze zwischen Drinnen und Draußen, ab. Meinereins, zur forschenden und schreibenden Zunft gehörend, bevorzugt so wie Künstler generell als Platz der Inspiration meist die eigenen vier Wände.
Diese amerikanische Spruchweisheit bringt zwar nicht die Ansprüche an ein befreites Leben jenseits der Zwänge der Warenwirtschaft, dafür aber diese selbst umso besser auf den Punkt. Dass sich Warenwert stur gegen Warenwert austauscht und sich im Laufe dieses Geschäfts trotzdem zunehmend in Luft auflöst, begründet letztendlich das ganze Dilemma des Kapitalismus.
Spätestens nachdem am „Gipfel von Lissabon“ im Jahre 2000 durch die Europäischen Bildungsminister deklariert worden war, die Europäische Union zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ machen zu wollen, ist der Begriff „Wissensgesellschaft“ zum fixen Bestandteil von Festreden, Forschungsprogrammen und bildungspolitischen Absichtserklärungen geworden.
Die gesellschaftlichen Formen der Herrschaft wirken auf die sozialen Prozesse und Kämpfe der Menschen. Umgekehrt aber existieren diese Strukturen nur als ein Ergebnis dieser Prozesse, als Ergebnis von Kämpfen um die Hegemonie, das sich als fragmentierter, widersprüchlicher Alltagsverstand in den Menschen sedimentiert und Handlungsmotiv wird.
Ein aufgeregtes „Wo wohnen?“ war einer der ersten Zweiwortsätze, die meine Zwillingsneffen sprechen konnten. Sie fragten nach der Behausung eines großen Vogels, den sie gerade bestaunten. Wo und wie wohnen, ist in der Menschheitsgeschichte eine unausweichliche Frage.