Streifzüge 35/2005
2000 Zeichen abwärts
von Lorenz Glatz
Der „Passagengouverneur“ unterm Opernring hat die Obdachlosen schon aufgeweckt; die sind jetzt beim Frühstück mit der Doppelliterflasche. Weiter hinten redet der erste Junkie Passanten an. Die hasten vorbei, jeder zu seinem Geschäft – Verkauf, Verwaltung, Versicherung, Finanzen heißt das hier in der City. Die Rolltreppen rauf oder runter zur U-Bahn. Bettler in den Waggons sind in Wien noch recht selten. Die glücklichen Arbeitsplatzbesitzer mit ihren leeren Morgengesichtern werden über die Stadt verteilt, damit sie ihre Lebenszeit verschwenden an Sachen und Abläufe, die wir sicher so und großteils überhaupt nicht brauchten, wenn’s nicht um Geld ginge. Aber worum anders geht es denn sonst, dass es einen hier unten durch die Tunnels dröhnen lässt? Und worum könnte es denn sonst gehen? Wie soll eins in der vollen U-Bahn denken? Und erst recht dort, wo eins hinfährt?
Die Gymnasiasten waren mit mir in Rom. Sie geben ihre Tagebücher ab. Bei den meisten steht drin, was sie haben sehen und denken müssen, wenn sie nicht haben machen dürfen, wonach ihnen war. Aber das war ganz sicher nicht besser, hatte meist mit Kaufen zu tun. Fast alle sind diszipliniert und freundlich. Damit aus ihnen noch was wird. Die, aus denen nichts geworden ist, lassen sich bei den andern und den alten Lehrern kaum blicken.
Sie fehlen auch beim Treffen eines alten Maturajahrgangs am nächsten Abend. Aber man kennt sie und weiß Bescheid. So nebenbei. Selber hat man das Leben ja einigermaßen im Griff. Oder ganz und gar. Nur eine (ein Mann hätte wohl eher geschwiegen) geht in die Offensive: Sie klopft mit dem Löffel an ihr Glas und erzählt allen, „bevor ihr mich fragt“, vom Schulabbruch ihrer Tochter. Und dass sie nicht weiß, „was aus dem Mädel werden soll“. Wenn darauf ein anderer von den schulischen Schwierigkeiten des Sohns erzählt, zählt vor allem, dass der sie schafft. Wenn wir die Versager nicht hätten, müssten die mit den Schwierigkeiten den Mund halten. In der Nacht, beim Heimfahren, stehen die Gemeinderatswahlergebnisse in der Zeitung. So etwas von wurscht!