von Franz Schandl
„Ja, was tue ich denn da eigentlich? Ja, was tut man mir denn da eigentlich?“
(Günther Anders, Antiquiertheit I, München 1956, S. 101)
Kann ich fernsehen? Welch Frage! – Nun, die Situation ist offensichtlich: das Gerät läuft und ich sitze davor und schaue. Aber ist es ein Können? Vermag dieses Ich etwas? Ist es aktiv? Oder bloß reaktiv? Gibt es in diesen Momenten ein Ich? Ist nicht das Ich ausgeschaltet, wenn das Gerät eingeschaltet ist? Indes, auch wenn das Ich abgeschaltet ist, ist da noch immer etwas da, das der Beflimmerung affektiv und – auch wenn das als Widerspruch erscheint – beiläufig wie intensiv verbunden bleibt.
Aufzeichnung
Nehmen wir eine banale Geschichte. Im Winter 1998, ich schrieb gerade den Aufmacher für die Wiener Volksstimme (Besoffene Tage nationaler Euphorie, Volksstimme 9, 26. Februar 1998), besuchte ich den Ballhausplatz, um das Spektakel nach Hermann Maiers Rückkehr aus Nagano mitzuerleben. Indes, der Andrang zu dieser Veranstaltung hielt sich in Grenzen, da waren viel weniger zugegen, als das anschließende Abendprogramm des ORF suggerierte.
Aber zweifellos, da war keine Sequenz gelogen, doch die präparierte Konsequenz vermittelte eine große Lüge, die Lüge vom vollen Platz. Denn genau der war im Fernsehen zu sehen und wäre ich nicht direkt vor Ort gewesen, hätte ich die televisionäre Inszenierung keine Sekunde hinterfragt. Nicht, weil ich zu dumm zum Fragen bin, sondern weil mir in diesem Augenblick eine solche Fragestellung gar nicht geschossen wäre. Das Interesse an Maier war geringer als die Übertragung suggerierte. Diese trug dem Ereignis in ganz bestimmter Weise Rechnung. Sie rechnete es hoch. Doch wie das wissen?
Im Fernsehen wird jede Darstellung zur Vorstellung. Realität wird fiktiv aufgeladen wie reduziert. Wirklichkeit und Fiktion geraten nicht nur aneinander, sondern durcheinander, und sie werden von den Zuschauern kaum auseinander gehalten werden können. Ob etwas „echt“ oder „wahr“ oder „wirklich“ ist, wie soll man das beim Televisionieren wissen? Da es schon sein könnte, wird es schon sein. Wahrscheinlichkeit ist zu einer zentralen Kategorie aufgestiegen. Wir sehen es im Fernsehen und vermögen nicht zu zweifeln. Die Dichte der Meldungen und Nachrichten lässt uns Wahrscheinliches, aber auch Unwahrscheinliches gleich Wahrem erscheinen. Ich hab’s gesehen.
Keine Inszenierung wird ihrem Ereignis gerecht. Freilich gilt auch umgekehrt: Kein Ereignis kommt an seine Aufzeichnung heran. In Zeiten, wo als Ereignis nur noch das Event gilt, wird das Ereignis zu einem Produkt seiner Aufzeichnung. Die Welten verkehren sich. Kein Ereignis ohne Aufzeichnung! Ohne Aufzeichnung kein Ereignis! Die Aufzeichnung ist das Ereignis! Schon Günter Anders wusste: „Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger werde als in seiner Originalform, dann muss das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden.“ (S. 111)
Während jedes originäre Ereignis letztlich singulär, ein mit Handlungen, Geschehnissen, Blicken, Gesten, Düften, Schwingungen, Geräuschen, Ablenkungen, Atmosphären, Helligkeiten, Schattierungen, Nebensächlichkeiten erfülltes Kontinuum ist, ist jede Aufzeichnung unendlich multiplizierbar, ohne jedoch in Ansätzen den sinnlichen Reichtum der Situation wiedergeben zu können. Trotz aller Finessen (Vergrößerung, Verzögerung, Wiederholung, Kameraführung) ist mediale Performance immer aspektuell reduziert. Letztlich eine Kümmerform der Totalität und zwar gerade aufgrund der immensen technischen Möglichkeiten. Liegt die Qualität der Wirklichkeit in ihrer Vielfalt, so die der Fiktion in der Vervielfältigung.
Beeindruckungen
Der Universalismus der bewegten Tonbilder verändert unsere Eindrücke grundlegend, sie sind fortan primär Beeindruckungen, was meint, dass die Ausgangsorte über die Eingangsorte, die Objekte über die Subjekte bestimmen. Der Begriff der Videokratie ist nicht falsch, weil er diesen Vorrang eindeutig benennt. Die Technologie hat sich unser bemächtigt, uns umstellt und gefesselt, vernetzt und formatiert, wir dienen den Apparaten, obwohl das Versprechen doch andersrum in die Welt gekommen ist und dies auch immer noch behauptet wird. Es denkt sich uns, was wir zu denken haben. Wir sind ganz baff.
Das Staccato der Bilder in unseren Köpfen kann so nicht einmal reflektiert werden, weil es gar nicht als solches wahrgenommen wird. Wir nehmen es als Selbstverständlichkeit hin, erkennen keine Besonderheit. Es ist halt so. Warum sollte es nicht so sein? Dafür gibt es kein Register, geschweige denn ein Bewusstsein. Nicht, dass wir aus dem Staunen nicht rauskommen, ist das Problem, wir kommen in das Staunen erst gar nicht rein. Wie heißt es bei Debord: „Dort, wo sich die wirkliche Welt in bloße Bilder verwandelt, werden die bloßen Bilder zu wirklichen Wesen und zu den wirkenden Motivierungen eines hypnotischen Verhaltens.“ (Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, 1967, übers. von Jean-Jacques Raspaud, Berlin 1996, § 18, S. 19)
Die Kiste garantiert jedenfalls Andacht, ohne dass eins selbst dächtig wird. Andacht ergreift vom Objekt her das Subjekt. Dieses braucht sich seinen Gott gar nicht imaginieren, er ist da und legt los. Fernsehen gilt als inverses Beten. Wenn es zu uns kommt, braucht gar niemand mehr in sich zu gehen. Es geht automatisch. Es ist in uns. Man muss nichts leisten, alles wird für einen erledigt. Es meditiert uns.
Blick
Wie sehe ich Bildfolgen? Was dominiert den Blick? Der Blicker oder das Erblickte? Nun, beim Fernsehen, das die Bilder seriell vorgefertigt hat, liegt der Schwerpunkt wohl auf dem Erblickten oder besser noch: geht vom Erblickten aus. Womit nun die „reale Lebenswelt“ nicht dahingehend interpretiert oder gar rehabilitiert werden soll, dass hier der Blicker als Souverän bezeichnet werden kann. Aber eines ist er zweifellos: souveräner. Das erlaubt alleine die Gemächlichkeit, die das Medium ja dezidiert ausgeschaltet hat.
Das herkömmliche Sehen ist dezentriert, es schweift durch die Gegend, der Blick fokussiert sein eigenes Bild, im Fernsehen hingegen ist der Blick durch die Mattscheibe bereits fokussiert. Nichts Überflüssiges soll sich meiner behelligen, ich soll konzentriert werden. Bilderfolgen nehmen mich zu sich. Wenn alles filmisch komprimiert ist, kann ich nicht schweifen. Die Sequenzen des Blicks sind vorgegeben, reduziert auf Sekunden und Sekundenbruchteile. Ein Foto kann mehr aufnehmen als ein Auge, aber ein Auge kann mehr sehen.
Fenster
Das Fernsehen ist kein Fenster zur Welt, sondern ein Fenster der Welt ins Zimmer. Ein einseitiges Fenster, eines von außen nach innen. Es kann nicht geöffnet, sondern nur aufgedreht werden. Mit dem Gerät erhalten wir einen ganz spezifischen Anschluss, ja Zugang zur Welt. We’re connected. Die Welt kommt rein, aber wir kommen nicht raus. Ich kann mit dem Fernseher lediglich empfangen, aber nicht senden. Passivierung ist sogar oberflächlich, nicht wie am PC bloß hintergründig präsent. Ich erscheine als lediger Konsument.
Glück
Das Glück im Fernsehen hat seine Heimat im Glücksspiel. Millionenshows schauen überall gleich aus. Wenn es etwas zu gewinnen gibt, dann Geld. Unglück ist das Geld, das man nicht hat.
Kanäle
Die Menüpläne sind groß, wenn auch einander sehr ähnlich. Man speist nicht, man wird gefüttert, man trinkt nicht, man wird abgefüllt. Kanäle funktionieren wie Zuleitungen, die geflutet werden. Es sind Einbahnen. Die Behauptung einer Kommunikation oder gar Interaktion ist ein Luftschloss. Der Strom verläuft vom Medium zum Publikum. Meinungsumfragen und Quoten dienen bloß der Überprüfung, ob die Botschaften auch angekommen sind. Heute herrscht andauernd Überflutung. Die Unmenge der Reize ist jenseits unserer Aufnahmefähigkeit. Wir, die wir nicht genug bekommen, kriegen immer zu viel.
Kompromate
Wir leben in einer Welt der Kompromate. Kompromittierende Sendungen oder Mitschnitte gehören schon länger in das Arsenal medialer Intervention. Intimität ist antiquiert, Indiskretion obligat. Gerade das Private ist zu einer öffentlichen Sache geworden. Auch Sexualleben oder Krankheiten sind nicht mehr sakrosankt. Mental baut da viel auf Missgunst und Schadenfreude, die ja nicht unbedingt als Affekte der Emanzipation bekannt sind.
Läufig
Bilder haben im Film laufen gelernt und dann im Tonfilm auch noch sprechen. Auge und Ohr, die beiden Hauptsinnesorgane, werden hier abgefüttert. Television kennt nicht bloß ein dynamisches Element, sie besitzt eine dynamische Struktur. Diese Struktur ist permanent läufig, d.h. sie kann nicht still sitzen. Aufregung ist ihr Stachel, Empörung ihr Elixier. Es muss immer etwas los sein. Sensationieren! Skandalisieren! Eskalieren! Man könnte was versäumen. Die Läufigen haben auf dem Laufenden zu sein.
Magie
„Jede Fernsehbotschaft hat einen fiktiven Charakter. Alle Bilder und Töne erscheinen, als wären sie Symbole. (…) Dadurch wird die ganze Welt, welche das Fernsehen vorstellt – auch wenn es sie angeblich darstellt –, fiktiv. Die Folge ist ambivalent zu werten: Entweder verliert für den Empfänger der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion jede Bedeutung oder er überlässt die Unterscheidung einem anderen. Beides sind Symptome einer perniziösen Entfremdung.“ (Vilem Flusser, Medienkultur, übers. von Stefan Bollmann, Frankfurt am Main 1997 S. 108-109)
Frei nach Flusser, der puncto Fernsehen von „magischen Spiele(n)“ (S. 106) spricht, könnte man den Fernseher als moderne Zauberkiste beschreiben, die einen zentralen Platz in zentralen Räumen erobert hat und eingeschaltet ihren Flimmer verbreitet. Ausstrahlung ist Einstrahlung. Die Empfänger geben sich dem Zauber hin, einem Zauber, der zwar nicht unmittelbar aus ihrer Welt stammt, aber doch von dieser Welt ist.
Manipulation
Das Fernsehen kann zwar als ein großes Instrument der Täuschung verstanden werden, aber nicht in der Weise, dass da auf der einen Seite die Täuscher und auf der anderen Seite die Getäuschten sitzen. Es geht nur in begrenztem Ausmaß um Manipulation. Die „Manipulierten“ manipulieren sich selbst durch ihr alltägliches Handeln, das direkt nach Illusionen schreit, um ja den Enttäuschungen zu entkommen. Das Fernsehen ist mehr eine Bestätigungs- als eine Betätigungsmaschine.
Mannigfaltige
„Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen; vorher muss sie also die Eindrücke in ihrer Tätigkeit aufnehmen, d. i. apprehendieren.“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1781, Werkausgabe, Band III, Frankfurt am Main 1990, S. 176). Das Mannigfaltige ist in der Television aber bereits zusammengefaltet, das Bild ist schon da. Der Grad der Vorfertigung ist so hoch, dass aus dem Apprehendieren ein Apportieren wird. Und das ist weniger eine Frage der inhaltlichen Vorgaben (das wohl auch), als vielmehr eine Folge der formalen Konstruktion der Television selbst. Die Form bedingt eine stete Reduktion des Objekts und somit auch seiner Anschauungs- und Interpretationsmöglichkeiten. Präsentation und Zurichtung werden methodisch vielfältiger (vergrößern, scannen, verzögern u.v.m.), aber sinnlich ärmer. Nur zwei Sinne werden angesprochen, und auch die beschnitten.
Außerdem lässt das Tempo der Maschine die Scheidung in vorher und nachher immer weniger zu; es wird simultan. Ein Erkennen, das mehr ist als ein Erfassen, gibt es aber immer nur als Mittelbares, nicht als Unmittelbares, es kann nicht mit dem Gegenstand der Erkenntnis zusammenfallen resp. sich direkt aus ihm ergeben. Es braucht Distanz, doch die ist beim Fernsehen nicht gegeben.
Die Frequenzen des Senders und die des Empfängers sind nicht synchron. Aber wenn sich jemand synchronisieren soll, dann immer der Empfänger. Er ist gefordert. Unsere Empathie ist dem Fernschauen nur partiell gewachsen, von unserer Sensibilität ganz zu schweigen. Wir stumpfen ab. Wir sehen nicht nur fern, wir fühlen uns auch fern.
Müll
Wir werden zugemüllt. Selten verfügen wir über Instrumente oder Sensoren der Mülltrennung. Denn wir sind zu. „Daher darf man den ganzen Müll, den man täglich hört und liest, auf keinen Fall abspeichern“, schlägt Karli Sackbauer alias Klaus Rott im VOR-Magazin vor. Das wäre einfach. Denkste, wir verfügen über keine Knöpfe und auch über keine Säcke, die den Abfall ausschalten oder wegsperren könnten. Wir entscheiden nicht, was gemerkt und vergessen werden soll. „Bei einem Ohr rein, beim anderen wieder raus“, funktioniert so nicht. Stets bleibt was hängen, mögen wir uns darüber Rechenschaft ablegen oder nicht. Der Zugriff ist nicht unserer, aber er hat uns fest im Griff. Wenn ich etwas nicht wissen will, heißt das nicht, dass ich es nicht weiß. Wir sind ein Resonanzkörper, unsere Schwingungen sind nicht unsere Schwingungen, aber doch schwingen wir. Fernsehen ist Schunkeln auf der Halde – der Müllhalde.
Müßiggang
Nach den anstrengenden Stunden sich vor die Kiste zu platzieren und berieseln zu lassen, das hat was. Diese Mühelosigkeit des Konsums ist geradezu komplementär: Wird der Tag schon nicht der Schöpfung gerecht, so der Abend der Erschöpfung. Das Matte und das Müde sind gute Voraussetzungen, auf denen das Fernsehen prächtig gedeihen kann. Es rundet sie ab, lässt den Tag beschaulich ausklingen. Das Fernsehen vermittelt eine falsche, aber reale Utopie der Entspannung. Man braucht sich nur fallen zu lassen. Man braucht nicht einmal mehr hingehen.
Fernsehen präsentiert sich als Bequemlichkeit par excellence. Man sitzt oder liegt und schaut. Selbst in die Schlafzimmer der Erwachsenen halten die Apparate Einzug und beschränken die Möglichkeiten der Bettgenossen beträchtlich. Genuss kommt fortan aus der Glotze. Je mehr action, desto weniger activity. Man kann sich hingeben, ohne dass es einen hernimmt, es läuft einfach ab, ohne dass wir etwas tun. In David Byrnes Film „True stories“ (1986) liegt eine Frau („Miss Rollings“) schon jahrelang im Bett, lässt sich füttern und gurrt in die Glotze. „Ich glotz TV“, sang einige Jahre zuvor Nina Hagen auf ihrem sehr gelungenen Debütalbum:
„Ich kann mich gar nicht entscheiden,
is alles so schön bunt hier (…)
TV is ne Droge! (…)
TV macht süchtich!!!“
Nachricht
Jede Nachricht richtet uns nach. Wonach?, hätte also die notwendige, stets präzise wie präsente Frage zu sein.
Passivieren
In den Momenten, wo der Fernseher läuft, ist man irgendwie weggetreten, die reale Umgebung verliert gegen die fiktive Welt. In der Zeit, in der man fernschaut, lebt man nicht, man wird belebt, beschallt, beschirmt. Die Organe funktionieren zwar, aber nur noch passiv, man ist auf Look by geschaltet, im Wachkoma. Der Modus hat sich geändert. Fernschauen, das ist die Anästhesie des Daseins. Aber die haben wir nötig, bitter nötig. Man stelle sich vor, die Geräte werden abgeschaltet. Unaushaltbar wäre das. Es ist schlichtweg nicht falsch, wenn viele Menschen meinen, dass sie sich vor dem Fernseher entspannen. Nur wovon und wohin? Fernsehen ist eine unmittelbare Erleichterung, die zu keiner Veränderung führt.
Fernsehen kommt in die Nähe der reinen Passivität, wir müssen nichts tun, lediglich zusehen und zuhören – also nicht einmal wirklich sehen und hören! –, was da geboten wird. Aktivität scheint auf Null zu sinken. Reaktivität scheint ohne Zutun möglich. Wir liegen am Sofa und dämmern, während es flimmert. Im Fernsehen geht der Blick aber nicht auf, er geht unter. Die Sicht ist verstellt durch die ablaufenden Bilder. Wir kriegen nichts mehr richtig mit.
Phantasievorgabe hat Phantasie ersetzt. Ich brauche sie nicht zu entwickeln, sie ist als serielle Vorgabe vorhanden. Der Kasten spuckt sie mir ins Zimmer. Die Lust am Spiel ist vom Spielfilm eingefangen und wird durch ihn „befriedigt“. Das Aktiv wechselt ins Passiv. Wir spielen nicht selbst, uns wird mitgespielt. Die Trennung der Zuschauer von der Aktivität ist konstitutiv. Wir bestimmen wenig, wir werden vielmehr bestimmt. Der Dienst besteht nicht nur darin, dass wir die Geräte kaufen und bei Zeiten erneuern müssen, wir sind auch ihrem Rhythmus, ihrer Lebensdauer und ihren Lebensverfügungen unterworfen. In doppeltem Wortsinne sind wir die Bedienten. Programmierung fällt nicht unter die Autonomie der Subjekte, sondern unter die Dominanz der Objekte. Fernsehen ist keine Tätigkeits-, sondern eine Leideform. Je mehr geliefert wird, desto mehr sind wir ausgeliefert.
Der Fernseher ist so etwas wie eine televisionäre Massenillustrierte, der niemand entkommt. Wer sich heute entschließt, keinen Fernseher haben zu wollen bzw. diesen aus dem Leben gänzlich zu verbannen, der beschließt auch, die anderen nicht mehr verstehen zu wollen. Nicht Kritik ist das, sondern Ignoranz. Man will gar nicht wissen, was die Leute zurichtet. Dies sind intellektuelle Dünkel.
Pausenlos
Die Freiheit, dass da zu irgendeiner Zeit keine Television läuft, die haben wir nicht. Wir sind programmiert. Fernsehen lässt sich im bürgerlichen Alltag kaum als bewusste Aktivität gestalten und einteilen. Auch kritische Zeitgenossen fallen immer wieder darauf rein. Sie möchten etwas Ausgewähltes sehen, und sehen sich dann alles Unmögliche an. Ähnlich wie im Supermarkt beim Einkaufen oder im Internet beim Surfen.
Fernsehen erfolgt nicht gezielt, sondern ziellos. Permanent läuft die Glotze, auch wenn gar niemand schaut, ja selbst wenn Besuch zugegen ist. Sie läuft einfach. Es gibt kaum noch fernsehfreie Zeiten und Räume. Interessant wären empirische Untersuchungen der Fernsehdichte in einem Haushalt. Wie viele Stunden? Wie viele Geräte? Vor allem auch die Standorte. Denn es ist schon noch ein Unterschied, ob der Apparat bloß im Wohnzimmer steht, oder auch im Kinderzimmer lagert oder gar schon im Schlafzimmer einen Stützpunkt errichtet hat. Die Geräte herrschen durch ihre Allgegenwart. Inzwischen ist das Medium pausenlos geworden. Das Fernsehen hat immer offen. Keine Bundeshymne und kein Testbild verkünden mehr Ende oder Unterbrechung des Programms.
Phantom
Da ist etwas, das nicht da ist, trotzdem da.
Quote
„Ich glaube nicht, dass man im Fernsehen viel sagen kann“, sagt Pierre Bourdieu (Über das Fernsehen, übers. von Achim Russer, Frankfurt am Main 1998 S. 15). Das mag stimmen, doch es geht auch gar nicht darum, etwas zu sagen, sondern vor allem sich zu zeigen und wahrgenommen zu werden. Peter Weibel hat darauf hingewiesen: „Aber im Zeitalter der visuellen Massenmedien ereignet sich diese Dialektik nicht zwischen Subjekten auf der Ebene des Bewusstseins, sondern auf der Ebene des Blicks. Im Televisions-Zeitalter sind Herr und Knecht nicht Subjekte, sondern Objekte, die gesehen oder nicht gesehen werden. Die Dialektik entfaltet sich zwischen dem, was gezeigt und gesehen wird, und dem, was nicht gezeigt und verhüllt wird.“ (Gamma und Amplitude: Medien- und kunsttheoretische Schriften, Berlin 2004, S. 142)
Was nicht erscheint, ist nicht. „Das Fernsehen entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und politisch existiert“, schreibt Bourdieu (S. 28). Gewichtig wird etwas, wenn es durch die televisonären Leitmedien rüberkommt, den Weg durch die Kanäle findet und auf den Schirmen erscheint. Unsere Wahrnehmung ist auf das mediale Vorkommen konditioniert.
„Alle Programme sind im Grunde Werbung“, meint Vilem Flusser (S. 109). Zweifellos, jede Sendung funktioniert wie Reklame. D.h. als unentwegte Anmache und Aufdringlichkeit, um ja Aufmerksamkeit zu erhalten und Quote zu erzielen. Denn die Quote ist es wiederum, die die Werbeaufträge lukriert. Sie ist das zentrale kommerzielle Kriterium der Konkurrenz. Zur Werbung gehört nicht nur die Täuschung, sondern ebenso die Selbsttäuschung, d.h. das Getäuscht-Werden-Wollen. Das bürgerliche Subjekt ist süchtig darauf, dass ihm vorgegaukelt wird, was es sich vorgaukelt. Das Fernsehen liefert genau das.
Realität
Das Bewusstsein der Fiktion kann beim Zuschauen nicht unmittelbar sein. Es ist nicht da, wenn man es braucht. Der Fernseher ist ein Gerät der Affirmation, ob man will oder nicht. Einmal eingeschaltet, schaltet er. „Massenmedien suchen und erzeugen den Konsens. (…) In ihrer Funktion sind die Medien redundant, sie bestärken das Bestehende.“ (Peter Weibel, S. 143) Das Fernsehen steht für eine große Synthesenmaschine, die stets behauptet, was zu sein sich behauptet. „Das Fernsehen überflutet die Realität. Die Realität wird zu kleinen Inseln im Ozean des Realen. Die Realität sind nur kleine Versatzstücke für die TV-Wirklichkeit, das Reale. Das Verhältnis dreht sich um. Nicht das Reale, das Fernsehen wird von der Realität umgeben, sondern das Reale, das TV umgibt, umschließt die Wirklichkeit.“ (ebenda, S. 160-161)
Schauen
Bezeichnend ist, dass sich die Fehlbezeichnung Fernsehen durchgesetzt hat und nicht Fernschauen. Zumeist ist man nämlich Schauer, nicht Seher. Schauen und Sehen sind nicht das Gleiche, ersteres meint die passive Aufnahme bewegter Tonbilder. Zweiteres bedeutet mehr, und zwar ein reflektiertes Wahrnehmen, ein Optimieren des Optischen, das immer skeptisch gegenüber dem schnellen Blick ist. Sehen ist langsam. Indes, wir können es uns nicht einfach aussuchen, ob wir bloß schauen möchten oder sehen wollen. Bezüglich der gesellschaftlichen Geschwindigkeiten herrscht Ohnmacht.
Scoopen
Auch der Zwang erster zu sein, ist omnipräsent. Indes, je früher etwas kommt, desto schneller muss es hergestellt sein. Sorgfalt und Prüfung verlieren aufgrund der strukturellen Zwänge jede Bedeutung. Idealtypisch hat die Fernsehnachricht schon vor dem Ereignis fertig zu sein. Und dieses soll sich dann gefälligst danach richten. Das heißt freilich auch, dass jedes reelle Geschehen formell wie inhaltlich möglichst auf seine optimale Reproduktion hin standardisiert wird. „Die Tagesereignisse müssen ihren Kopien zuvorkommend nachkommen.“ (Anders, Antiquiertheit I, S. 190)
Soaps
Interessant ist, dass Menschen die Probleme etwa in Soaps so besprechen und vor allem auch so fühlen, als ginge es um eine eigene Angelegenheit. Betroffenheit ist sodann eine Frage des medialen Make-Ups. Empfindungen sind schaltbar. Ob Cindy Gregg bekommt oder nicht, ob sie ihn haben soll oder doch lieber Frank, was die Mütter dazu sagen und die beste Freundin, darüber ereifern sich wahrlich die Gemüter, ohne dass ihnen die Verrücktheit überhaupt noch auffällt. Und wenn dann noch die Royals läufig werden, dann adeln unzählige Konsumenten sich in die geistige Nichtigkeit. Es schlägt die Stunde der Fans.
Spektakel
Um die Zuschauer im jeweiligen Kanal zu halten, ist eine ordentliche Portion Aufregung nötig. „Das Auswahlprinzip ist die Suche nach dem Sensationellen, dem Spektakulären. Das Fernsehen verlangt nach Dramatisierung…“ (Bordieu, S. 25) Da muss was los sein. Schaltungen und Schnitte kommen plötzlich, abrupt beenden sie eine Sequenz, sie kennen wenig Aufbau und noch weniger kennen sie einen Ausklang, bloß einen Abgang. Sie kommen so rasch wie sie gehen. Es geht nichts zu Ende, schon steht man vor einem Aus. Fernschauen ist Pop. „To pop“ heißt ja bekanntlich platzen. Immer platzt was rein. Es ist wie beim Populismus: Dort platzt immer wer was raus. Diese Verwandtschaft von Fernsehen, Populismus und Popkultur ist frappant, aber kennzeichnend für den medialen Stream. Hits und Charts nicht zu vergessen.
Talkshows
Egal ob da Politiker, Fachleute oder einfache Menschen diskutieren, mehr als mentale Darmspiegelungen hat das „bedeutungslose Geschwätz der Talkshows“ (Bourdieu, S. 131) kaum zu bieten. Politischer Journalismus etwa interessiert sich mehr für Montage und Demontage von Politikern als irgendwelche Inhalte. Bei den Konfrontationen der Politiker gleicht das Studio einer Arena, wo Konkurrenten zum Hauen und Stechen verpflichtet werden und das auch bereitwillig tun. Dazwischen johlen Fans in Studios und an den Apparaten. Es sind Augenblicke der Akklamation. Es herrscht Kampf. Das Wort „wortgewaltig“ sagt alles: Worte sollen als Gewalttäter zuschlagen können, Schlagworte sein, Schläge austeilen.
Tempo
Beim Fernschauen kann eins das Tempo nicht wählen, ist ausgeliefert, hat keine Eingriffsmöglichkeiten. Man sieht, was man zu sehen hat in der Geschwindigkeit, die vorgegeben ist. Dieses In-die-Ferne-Schauen ist jedoch kein In-die-Weite-blicken. Der Raum, der sich öffnet, ist eine enge Kammer, ein Kanal, aus dem es strömt. Der Vorgang ist einer der Formatierung.
Analyse ist fad. Und tatsächlich, sie braucht die lange Weile, sperrt sich gegen die kurze Sequenz, doch nur diese steht zur Verfügung. „Die Entfaltung denkenden Denkens ist unaufhebbar an Zeit gebunden.“ (Bourdieu, S. 40) Das Denken löst sich unter solchen Bedingungen in Gemeinplätzen und Phrasen auf, verkürzt sich auf Präsentieren und Registrieren. Reflexion braucht Zeit, Zeit, die sämtliche Beteiligte nicht haben. Stets leben sie aufgrund ihrer Terminisierung in bedrängten Fristen. Das Fernsehen ist wie das Huschen der Zeit in einem eilig verlaufenden Leben. Unsere Lebenszeit ist einer sich beschleunigenden Invasion unterworfen, die Disposition über sie wird immer geringer statt größer. Das Fernsehen ist eine zentrale Institution dieses Zeitraubs.
Die Beschleunigung der Bilder korrespondiert mit der Beschleunigung des Lebens. Charakteristisch ist das Verschwinden der Betulichkeit. Die Geschwindigkeit der optischen Abläufe, ja Überfälle ist atemberaubend. Man kommt nicht mit, aber man wird mitgenommen. Das Tempo, in dem der optische Eindruck über uns kommt, lässt uns immer nur reflexartig und nie reflektiert auf das Tonbild reagieren. Wir können uns gar nicht darauf einstellen, weil wir von einer Beeindruckung zur nächsten gerissen werden. Die Rasanz ist jenseits unserer kognitiven Kapazitäten.
Traumfabrik
Der Begriff von der Traumfabrik ist so falsch nicht. Tatsächlich vermittelt die Filmindustrie einen „traumlosen Traum“ (Theodor W. Adorno, Prolog zum Fernsehen, 1953, Gesammelte Schriften 10.2, S. 507). Dieser Traum ist ganz von dieser Welt. „Eher werden die Menschen ans Unvermeidliche fixiert als verändert. Vermutlich macht das Fernsehen sie nochmals zu dem, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind.“ (S. 508) „Bis heute realisieren die Utopien sich bloß, um den Menschen die Utopie auszutreiben und um sie aufs Bestehende und aufs Verhängnis desto gründlicher zu vereidigen.“ (S. 516)
Doch die Traumfabrik hat zugebaut. Sie funktioniert inzwischen auf doppelte Weise, als Illusionsmaschine und als Desillusionsmaschine. Simulierte das Fernsehen in seiner ersten Periode eine heile Welt, wo die Guten stets siegen und die Bösen unterliegen (gleich dem Märchen), so kommt inzwischen das Unheil selbst zu Ehren. Aufzeigbar wäre das auch durch die Relativierung und Eliminierung des Happy Ends (nicht bloß in Spielfilmen), sondern noch dezidierter in den Endlosschleifen. Episoden bestimmen hier eine Story, die am besten niemals enden soll. Man macht sich weniger vor als früher. Die unheile Welt wird nicht mehr bloß umnebelt, sie wird durchaus als solche akzeptiert. Seht, so ist es eben. Die Zumutung ist einem zumutbar. So ist aus der Traumfabrik auch eine Alptraumfabrik geworden, und niemanden stört’s. „Das Spektakel ist der schlechte Traum der gefesselten, modernen Gesellschaft, der schließlich nur ihren Wunsch zu schlafen ausdrückt. Das Spektakel ist der Wächter des Schlafes“, schreibt Guy Debord, im § 22 (S. 21).
Unterhaltung
Unterhaltung ist das Surrogat für Lust und Vergnügen, für Glück und Zufriedenheit. Was sollen wir mehr wollen? Jene prägt die Massenmenschen in all ihren Regungen, nicht nur den kommerziellen. Das Fernsehen ist eine der Hauptstützen dieser Entwicklung, neben dem Auto eines der zentralen Geräte unserer Zeit.
Zappen
Der Zuseher ist via Schaltung ein Vorbeischauer (noch deutlicher ist dieser Umstand im Internet ausgebildet), es ist ein Flitzen und Peepen. Zappen ist freilich ein Aktivismus, der nichts aktiviert, ein verächtliches Treiben, verbunden mit der Hoffnung, doch irgendwo hängen zu bleiben und in sich ruhen zu können. Indes, man darf nicht ruhen, spätestens der nächste Werbeblock lässt einen weiterschalten. Das Zappen erinnert an Verzweifelnde, die nicht mehr wissen, wie ihnen geschieht und was sie nun tun sollen. So zucken sie ziellos durch die Programme, entscheidungslos und unentschieden, aber unter dem steten Druck, sich entscheiden zu müssen, weil sie grenzenlose Freiheiten haben, sich entscheiden zu können. Unendliche Weiten der Belanglosigkeit tun sich auf. Die Konsumenten erfüllen ihre Pflicht, sie sind hemmungslos wie ratlos, vor allem aber hilflos. Immer mehr gilt: Fernsehen macht nervös. Zappen ist wie Zappeln, verdeutlicht Unruhe. Diese ist wohl auch ein Ausdruck dessen, dass sich so gar nichts mehr tut, aber unbedingt etwas geschehen sollte…
* Vergleiche zum Thema auch meine exemplarischen Programmkritiken an den Sendern MTV, Nick und ARD