Von Qualitäten, die man nicht kaufen kann
von Franz Schandl
„Der eigentliche Genuss, in einer sauberen Elbe zu baden, statt in Autokolonnen eine andere Erholungsregion suchen zu müssen, eine blumenreiche Wiese, die Artenvielfalt in einem Erholungsraum Wattenmeer oder eine erotisch spannungsreiche Liebesbeziehung statt des patriarchalisch zwanghaften Austauschs sexueller Dienstleistungen, das sind Qualitäten, die man nicht kaufen kann, mit denen kein Geschäft gemacht werden kann, also verkommen sie. Alle qualitativen Bedürfnisse, die nicht quantifizierbar, also nicht mit Geld käuflich sind, werden unterbunden und aus dem gesellschaftlichen Bedürfnissystem verdrängt.“
Das schreiben Thomas Ebermann und Rainer Trampert in ihrem Buch „Die Zukunft der Grünen“ aus dem Jahre 1984 (S. 221). – Warum ich die beiden hier zitiere? Nun in den Anfangstagen der bundesrepublikanischen Ökopartei waren hier einige Türen einen kleinen Spalt offen, die nachher brutal verriegelt worden sind. Diese Türen wieder aufzukriegen, ist eine Aufgabe, die nach wie vor besteht, auch wenn das mit den domestizierten Grünen nicht mehr geht. Und um Ebermann und Trampert noch einmal Referenz zu erweisen: „Die notwendige Rettung menschlicher Lebensbedingungen in der äußeren Natur erfordert einschneidende Veränderungen in der Produktion und damit in den Konsumgewohnheiten der Mehrheit der Menschen in den industriellen Metropolen“ (S. 194), notieren sie ganz richtig. Fraglos geht es immer noch und immer wieder um ein neues Paradigma betreffend Produktion, Distribution und Konsumtion.
Der konkurrenzistische Komparativ ist zu überwinden. Wir müssen lernen, in Qualitäten und nicht in Quantitäten zu denken. Unsere Bedürfnisse sind nicht indirekt über Geld, sondern direkt über den materiellen oder immateriellen Bezug zu definieren. Das ist nicht leicht und bedarf einiger gedanklicher Überlegung wie praktischer Übung, aber ausgeschlossen ist es nicht. Unsere Bedürfnisse sind nicht in Kosten zu rechnen, sondern als Ansprüche und Möglichkeiten zu behaupten. Nichts, was realisierbar wäre, soll am Geld scheitern.
Schon heute kennen wir geldfreie Zonen oder beschreiben wir sie vorsichtiger als Sequenzen. Liebe ist eine, Freundschaft eine andere, Sympathie eine dritte, Hilfe eine vierte. Auch Pflege und Erziehung fallen teilweise in ein unmittelbar nicht verwertetes Dasein. Da schenken wir uns ganz einfach etwas, schöpfen gemeinsam aus unseren existenziellen Energien, ohne dass Rechnungen präsentiert werden. Da spüren wir in einigen Momenten etwas, das auch ahnen lässt, was sein könnte, wäre die Matrix nicht primär jene, die wir haben. Warum lässt sich partout nicht verallgemeinern, was den Menschen am meisten gut tut? Warum folgen den Sequenzen keine Konsequenzen? – Natürlich, ganz frei sind auch jene nicht und das Kapital will alles kommerzialisieren, denken wir bloß an unsere Gespräche, die via Mobiltelefon kommodifiziert werden.
Mehr oder weniger?
Mehr oder weniger? , ist eine typische Fangfrage. Nicht wenige tappen in diese Falle. Gerade der Gesellschaftskritik wird oft vorgeworfen, sie will den Leuten etwas wegnehmen und sie gar um den Genuss bringen. Und auf vieles, was heute selbstverständlich ist, muss oder viel besser: darf tatsächlich verzichtet werden: auf die schamlose Plünderung des Planeten, auf die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, auf die Festlegung der Menschen auf Arbeit und Herrschaft, auf den Zwang, sich am Markt als Konkurrenten zueinander zu verhalten. Etc. –
Derlei Verzicht ist kein Verlust, sondern ein Gewinn an Lebensqualität. Dieses Weniger ist gleichbedeutend mit einem Mehr. Gerade deshalb ist es wichtig, festzuhalten, was weniger und was mehr werden soll. Wirkliche Fülle ist ohne bestimmten Verzicht nicht zu haben. Opfer ist das keines, im Gegenteil, ein solcher Verzicht ist geradezu Quelle und Bedingung menschlichen Reichtums. In Qualitäten zu denken meint auch, das jeweils richtige Quantum in Zeit und Raum zu finden. Unsere Maßlosigkeiten sind ja Folge der Konkurrenz und nicht irgendeiner Gier oder irgendeines Neides. Fällig wäre ein breitgefächerter Katalog der Abschaffungen.
Dialektik schadet nicht. Nehmen wir etwa den Verkehr. Weniger Autos, weniger Staus, weniger Unfälle, weniger Lärm, das ist doch was. Man stelle sich nur vor, sogar befreiter und entspannter Auto fahren könnte man dann. Und zwar weil weniger auf den Strassen los ist, Bier nicht mehr aus Dortmund nach Bukarest, Milch von Palermo nach Wien und Jogurtbecher von Amsterdam nach Madrid transportiert werden. Auf Orangen wird deswegen niemand verzichten müssen, aber wenn es wieder mehr Äpfel als Bananen gibt, sollte das doch nicht groß stören.
Weniger Lärm bedeutet demnach mehr Ruhe. Auch laut mag es gelegentlich zugehen, aber wann und wo und zu welchem Anlass, das wollen wir selbst entscheiden, nicht der Lärmpegel der Großstadt. Man könnte unendlich viele Beispiele anführen. Besseres Essen bedeutet nicht mehr Essen, Slow food statt Fast food erfordert aber auch, mehr Zeit zum Kochen zu haben. Überhaupt geht es um unsere Zeitsouveränität, nur sie ermöglicht mehr Muße, mehr Lust, mehr Zufriedenheit. Gutes Leben heißt Zeit gewinnen.
Was wir brauchen, ist mehr Zeit für Liebe und Freundschaften, für die Kinder, Zeit zu reflektieren oder einfach um faul zu sein, aber auch Zeit, um sich intensiv und exzessiv mit dem zu beschäftigen, was einem gefällt, Marotten inbegriffen. Befreites Leben heißt, länger und besser zu schlafen und vor allem auch öfter und intensiver miteinander zu schlafen. Das ist doch eine Menge an Gewinn, noch dazu eines Gewinns, der mit Konkurrenz mal gar nichts am Hut hat. Für all das vermag die Kulturindustrie höchstens Surrogate zu bieten. Die verstellte Lebenszeit wird zwar auch in einer befreiten Gesellschaft nie Null sein, aber sie wird und muss weniger sein. Nur dann ist es möglich, dass das Individuum nicht bloß ein gebrochenes, fragmentiertes und durchgestrichenes ist, sondern eines, das sich mit seiner praktizierenden Selbstzusammenfügung befriedigt und sich nicht in positives Denken oder sonstige ideologische Esoterik retten muss.
Befreiung statt Freiheit
Wirtschaftswachstum ist das Vorletzte, was wir brauchen, benötigt wird es nur deshalb, weil sonst der zusehends rasende Status Quo der Wirtschaft und ihrer Geschäftswesen nicht reproduziert werden könnte. Wir brauchen weder ein Wachstum der Geschäfte noch ein Wachstum der Waren, sondern ein Wachstum der Möglichkeiten. Befreiung statt Freiheit ist der Slogan, denn die uns verkaufte Freiheit ist nichts anderes als eine hinterfotzige Chiffre für Rücksichtslosigkeit und Zwang. Befreiung ist nicht die Einsicht in die Notwendigkeiten. Es gilt also zu sagen, was Reichtum ist, das heißt auch zu sagen, worauf wir verzichten und was wir uns aneignen wollen. Wir sind jedenfalls die Vertreter eines imposanten Genusses, nicht einer sich kasteienden Enthaltung. Kein Geld, viel Glück!
Für Warensubjekte – und das sind wir ausnahmslos alle! – mögen solche Erkenntnisse vorerst einmal verstörend, ja beängstigend sein. Das heißt aber auch, dass eins in Zukunft konkreter ausführen muss, was werden soll und was wie werden soll, selbstverständlich auch, was etwa weniger und was mehr der Fall sein wird. Denn wenn sich die Leute kein Bild machen können, dann werden sie trotzig in ihrem alten Trott weitertun oder (was noch schlimmer ist) ihren Ressentiments freien Lauf lassen. Keine antipopulistische Volksbeschimpfung wird sie davon abhalten. Es geht also auch um die Aufhebung des absolut sinnlosen Bilderverbots. Kräftig ausmalen ist angesagt, selbst auf Ornamente sollte nicht verzichtet werden. Es gilt aus dem Vollen zu schöpfen, Perspektiven zu zeigen und zu entwickeln. Die Leute werden lediglich anstellen, was sie sich vorstellen können. Alles andere ist Quark oder wie man in Österreich sagen würde: Topfen.