Streifzüge 41/2007
von Martin Scheuringer
Der homo academicus verkörpert jenen Typus des Bürgers, der Lesen und Schreiben am intensivsten zu seiner beruflichen Praxis macht und dabei als zu bestaunendes Resultat eine Unmenge an Gescheitheit akkumuliert. Er darf auf einen Platz in dem gesonderten System der Gesellschaft hoffen, das sich der Fabrikation neuer Erkenntnisse verschrieben hat und mit viel symbolischem Kapital verbunden ist.
Die Exemplare dieser Subkultur sind getrieben vom Imperativ, ständig neues Wissen zu erzeugen, geradezu von einem Lesewahn ergriffenBeschleunigung ist auch in diesem scheinbar vom realen Warenverkehr entkoppelten System ein spürbares Phänomen: Es wird immer schneller gelesen und immer schneller geschrieben. Sogar die Begutachter von wissenschaftlichen Arbeiten haben nicht mehr die Zeit, eine eingehende Prüfung von Art und Stringenz der Begründung zu leisten. Vielmehr wurde die Begutachtung zu einer Bewertung rationalisiert: Relevant ist die Anzahl der zitierten Quellen; je länger das Literaturverzeichnis, desto gescheiter ist wohl das vorgelegte Forschungsergebnis. Die Arbeit scheint mehr Wert darzustellen, da wohl mehr Lesezeit drinnen steckt. Geprüft wird die Rasanz des akademischen Akkumulationsmechanismus, nicht die Brisanz des Denkens.
Wissenschaftler ähneln zusehends Sammlern, die sich durch den bibliothekarischen Dschungel schlagen, auf der Suche nach Früchten, die sie gewinnbringend in ihren Publikationen zitieren können. Das Buschmesser wetzt der eine schärfer als der andere, um eine Überleitung von Strauch zu Strauch freizuschlagen – wehe, es bleibt einer im Dickicht hängen. Das relativ sicher Ertrag bringende Sammeln wird nur von Waghalsigen unterlassen, zugunsten der riskanteren Jagd nach dem kaum zu findenden brennenden Dornenbusch, dessen göttliches Zitat Anerkennung und Auflage verspricht.