Linke Irrwege zwischen Eugenik und Euthanasie
von Alexander Bogner
"Was sollte das Ziel der Eugenik sein? " fragte der amerikanische Genetiker Herrmann Joseph Muller 1932 auf dem dritten internationalen Kongreß für Eugenik. Seine Antwort sorgte für Tumulte unter der geladenen Genetiker-Prominenz. Um aus der Eugenik ein wirksames Rezept für die Verbesserung der Menschheit anzurühren, referierte der überzeugte Sozialist, müsse das vorrangige Ziel zunächst die Abschaffung der Ausbeutung und der Klassenprivilegien sein.
"Erst die bevorstehende Revolution unseres Wirtschaftssystems", wetterte der spätere Nobelpreisträger gegen die kapitalistisch deformierte Eugenik, "wird uns in die Lage versetzen, von einem wahrhaft sozialen Standpunkt aus richtig zu beurteilen, welche Charaktereigenschaften eines Menschen am wertvollsten sind und was dem Fortschritt der Spezies in Richtung auf mehr Vermögen und Glück in einem gemeinsamen Kampf gegen die Natur und zur gegenseitigen Besserung ihrer Mitglieder am meisten dient. "1 Der Eugenik im Westen fehlte nach Muller also der ethische Kompaß. Die kapitalistische Ökonomie verschleiere geradezu die wahre genetische Qualität ihrer Zugpferde in Management und Vorstand. Schließlich würden ausgerechnet die Skrupellosen und Egoisten in die Führungsetagen gespült und deren Charakterzüge idealisiert. Eine Eugenik, die sich an kapitalistischen Wertmaßstäben orientiere, arbeite darum notwendig an der Verewigung der bestehenden Ungerechtigkeiten. Erst im Sozialismus, rief Muller am Ende seines Vortrags aus, "wird auch die ökonomische Basis der Gesellschaft so beschaffen sein, daß sie eine wahrhaft soziale Kontrolle über eine gestaffelte Fruchtbarkeit zuläßt. "
Dies traf sich in Ton und Intention mit den Forderungen, die drei Jahre zuvor der Leiter des Moskauer Instituts für experimentelle Biologie, Alexander Serebrovskij, erhoben hatte. In seinem Artikel "Eugenik in der sozialistischen Gesellschaft" versuchte er eine moderne sowjetische Humangenetik theoretisch zu begründen und von einer reaktionären Klasseneugenik abzugrenzen. Um die Eugenik von einem versponnenen Aberglauben in den Stand der Wissenschaft zu erheben, die nicht mehr die Komposition irgendeines "idealen Übermenschen" anvisiert, sondern die Maximierung der biologischen Produktivkräfte des Landes, sei sozialistischer Humus vonnöten. Denn erst, so das Credo des kommunistischen Genetikers, nach der endgültigen Zerstörung der Familie, der Befreiung der Frau von der Plage der Kinderaufzucht und vor allen Dingen: nach der radikalen Trennung von Sexualität und Reproduktion könne das Problem der Auslese, also die Frage, wessen Gene für die Fortpflanzung wertvoll genug seien, objektiv und wissenschaftlich in Angriff genommen werden. Erst eine "wirkliche", also sozialistische Eugenik, darin stimmte Muller, der 1933 in die Sowjetunion emigrierte und 1937 sich zu den Internationalen Brigaden meldete, mit seinem Moskauer Kollegen überein, könne das drängende Menschheitsproblem der "genetischen Bürde" lösen.
Kampf der "genetischen Bürde"
Den Grundstein für das eugenische Wahnbild von den stetig sich verschlechternden menschlichen Erbanlagen hatte bereits Francis Galton, ein Vetter Darwins, in den 1860er Jahren gelegt. Er hatte behauptet, daß in den fortgeschrittenen Industriestaaten das natürliche Selektionsprinzip außer Kraft gesetzt sei. Die Verhätschelung aller "Minderwertigen" durch die moderne Humanitätsduselei, so Galton, werde zur Degeneration des Menschengeschlechts führen. Den Fortschritt einer "kalten", "seelenlosen" Medizintechnik, die den Menschen ohne Ansehen seiner genetischen Konstitution fürs Überleben rüste, attackierte Galton darum mit derselben Intensität wie seine deutschen Kollegen die ersten Knospen einer Sozialgesetzgebung. Ein solcher Schutz für die Schwachen versündige sich, wie es der deutsche Arzt und Rassenhygieniker Alfred Ploetz 1895 formulierte, am Wohl der Nachkommenschaft. 2 Mit einer neuen, qualitativen Bevölkerungspolitik suchte die Internationale der Eugeniker darum in der Folgezeit den angeblich drohenden Untergang des Abendlandes aufzuhalten. In Deutschland tat die Latenz der ökonomischen Krise um die Jahrhundertwende, die sich den bescheideneren Akkumulationsbedingungen im Vergleich zu den anderen europäischen Kolonialmächten verdankte, ein übriges, um den Siegeszug der eugenischen Kulturtheorie zu beschleunigen. Verstärkt durch den genetischen Fortschritt, insbesondere die Entdeckung rezessiver Erbleiden und die Erforschung der geheimnisvollen Mutationsprozesse propagierten die Eugeniker konsequent die Entprivatisierung der Reproduktion. Im Sinne einer "biologischen Taylorisierung"3 strebten sie die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung an, um die genetische Qualität der Nachkommenschaft wissenschaftlicher Planung und Kontrolle unterwerfen zu können. Die Palette der propagierten Maßnahmen reichte von Steuervergünstigungen für kinderreiche, erbgesunde Ehepaare, die eine aktive Züchtung ankurbeln sollten, bis in logischer Konsequenz zur Euthanasie, die die Ausrottung aller genetisch "Minderwertigen" garantieren sollte.
Freie Liebe und Spendersamen: Für eine bessere Eugenik
Zielscheibe der sozialistischen Kritik an der kapitalistischen Eugenik war von Beginn an deren ideologische Überformung. Die Wissenschaft der Eugenik selbst begriffen sie nicht als Ideologie. Linke Genetiker bemängelten die lückenhafte Kontrolle des Reproduktionsprozesses im Westen aufgrund der traditionellen Lebensformen und spießbürgerlicher Moralvorstellungen. Sie geißelten die dysgenische Tyrannei des Privatbesitzes, der gerade in der Form des Erbrechts genetisch "Wertlosen" einen ungebührlichen Schutz bieten konnte. Sie kritisierten vehement die rassistische Verkürzung der Eugenik, wie sie am deutlichsten in der deutschen Rassenhygiene verwirklicht wurde. Und sie entlarvten die Wertmaßstäbe der westlichen Eugenik als unwissenschaftlich und herrschaftskonform.
Kurzum: Sie fürchteten, daß die Eugenik im Kapitalismus aufgrund des ökonomischen Primats des Privateigentums und der darauf basierenden ideologischen Sozialform der Familie unwirksam bleiben müsse. Eine soziale Eugenik dagegen würde das Anrecht der Menschheit auf bestmögliche genetische Ausstattung praktisch verwirklichen können. Als geeignete biopolitische Maßnahmen empfahlen die linken Eugeniker anders als ihre bürgerlichen Kollegen nicht Eheverbote oder Sterilisationen. (Diese Sensibilität verdankte sich freilich nicht besonderen Skrupeln, sondern der Einschätzung, daß diese Formen negativer Eugenik auf lange Sicht unwirksam seien. ) Männer wie Muller oder Serebrovskij favorisierten die künstliche Befruchtung mit dem Sperma von jenen Spendern, die die sozialistischen Primärmerkmale wie Intelligenz, ein hochentwickeltes Sozialgefühl und eine robuste Gesundheit auf sich vereinten.
Obwohl also die Euthanasie als höchste Form der negativen Eugenik in linken Kreisen keinen besonderen Zuspruch fand, ist nicht zu übersehen, daß von dieser Seite wenig Widerstand dagegen zu erwarten war. Schließlich hatte die Eugenik den Raum für die Euthanasie durch ihre Methoden und Instrumentarien geschaffen, die den zu "erlösenden" Personenkreis bereits durchleuchtet und sortiert hatten. Auch die den beiden Ideologien gemeinsame Vorstellung von einem wissenschaftlich dingfest zu machenden "Defektmenschen" (Hoche), dessen mangelnder "Lebenswert" Euthanasie-Maßnahmen rechtfertige, ja fordere, verweist auf die nahtlose Übertragbarkeit des aus der Eugenik stammenden Wertekanons in den sich in den zwanziger Jahren radikalisierenden Selektionsdiskurs. Daß die Anhänger einer sozialen Eugenik, die das Abweichende konstruierte und kontrollieren half, auch härteren Mitteln gegenüber nicht ganz abgeneigt waren, bewies der sozialistische Arzt F. Limmacher, der noch 1934 aus dem Exil heraus den LeserInnen des "Internationalen Ärztlichen Bulletins" die Lektüre von Binding und Hoches Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" wärmstens empfahl, sollte die Auflage, so Limmacher, von den Machthabern im "Dritten Reich" nicht vernichtet worden sein. 4 Dafür sahen die Nazis freilich keinen Grund, und übersehen konnte das nur, wer die von links propagierte Volkseugenik als Vademecum gegen die rassenbiologisch infizierte Eliteeugenik fehleinschätzte. Doch dieser Irrglaube der Weimarer Linken, die eine "Fortpflanzungshygiene" als wertfreie, gar antirassistische Wissenschaft von einer Rassenhygiene abgrenzen wollte, was freilich nur begrifflich gelingen konnte, war weit verbreitet. Der Mythos von einer segensreichen, humanitären Eugenik traf sich mit der Vorstellung einer "reinen", "zu sich gekommenen" Naturwissenschaft, deren Ergebnisse vielleicht einseitig funktionalisierbar waren, nicht aber das Paradigma der genetischen Forschung selbst. Noch in der Frankfurter „Zeitschrift für Sozialforschung“, die in den dreissiger Jahren im Exil Beiträge unorthodoxer Marxisten versammelte, findet sich dieser simple Funktionalismus. Paul Ludwig Landsberg verteidigte dort die Rassenhygiene in der Form einer kritischen Rassenwissenschaft gegen die pure Ideologie, wie sie die biologistischen Rassenlehren seiner Meinung nach darstellten. 5
Eugenik-Virus in der Parteizentrale
Die spektakulären Fortschritte der Genetik zu Beginn des Jahrhunderts, die historisch mit einer wachsenden Verstädterung und Verelendung zusammenfielen, ließen auf dem Hintergrund eines technizistisch verkürzten Fortschrittsbegriffs die Eugenik schnell in den Glanz einer säkularen Erlösungslehre kommen, deren Verführungskraft auch die Tore der sozialistischen Parteizentralen überwand. "Die Fortpflanzung", monierte Karl Kautsky bereits 1910, "wird in diesen Kreisen (den herrschenden Klassen; A. B. ) ebenso wie die Ehe den Interessen des Familienbesitzes dienstbar gemacht, nicht der Verbesserung der Rasse. "6 Weil aber, so variierte Kautsky Francis Galton, durch die zivilisatorische Ausschaltung der Selektion die "körperliche Entartung" "rasche und beängstigende Fortschritte" mache, sei es an der Zeit, mithilfe der Naturwissenschaft in den regellosen Prozeß der Fortpflanzung planend einzugreifen. Auch wenn Kautsky wie die meisten Sozialisten Zwangsmaßnahmen ablehnend gegenüberstand, so hätten doch zumindest "alle kränklichen Individuen, die kranke Kinder zeugen können, auf die Fortpflanzung zu verzichten " Erst der Sozialismus, irrte Kautsky, könne eine "Sozialeugenik" etablieren, die von den Eltern bei ihrer Nachwuchsplanung freiwillig zu Rate gezogen werden wird.
Diese klassenlose Eugenik, die nicht weniger als den sozialen Fortschritt zu ermöglichen hatte, setzte nicht auf den makellosen Herrenmenschen, sondern auf seinen Zwillingsbruder, die echt sozialistische Kraftnatur, die den verweichlichten Couponschneidern die Schere aus der Hand schlagen sollte. Der Gedanke an das proletarische Muskelgebirge brachte das marxistische Oberhaupt der II. Internationale schon vorab ins Schwärmen: "Ein neues Geschlecht wird entstehen, stark und schön und lebensfreudig, wie die Helden der griechischen Heroenzeit, wie die germanischen Recken der Völkerwanderung, die wir uns als ähnliche Kraftnaturen vorstellen dürfen, wie etwa heute noch die Bewohner Montenegros. "
Orthodoxer Fortschrittsbegriff als ideologischer Humus
Die Eugenik, die die Sortierung der Menschen in lebenswertes und lebensunwertes Leben nach Maßgabe des jeweiligen Wertekanons betreibt, gedieh ersichtlich nicht nur in explizit antidemokratisch verfaßten Gesellschaften. Sie war auch zu keiner Zeit ein Projekt ausschließlich von reaktionären Kräften oder bekennenden Rassisten. Ideologische Anschlußstellen für Linke ergaben sich immer da, wo der dialektische Fortschritt in der Theorie zu einer naturgesetzlichen Zwangsläufigkeit erstarrt war und die Marktanarchie durch ein technizistisches Planungsideal abgelöst werden sollte; also da, wo der kapitalistische Verwertungszwang durch einen sozialistischen Produktivismus abgelöst wurde. Starthilfe erhielt die eugenische Ideologie einerseits politisch durch eine Kapitalismuskritik, die auf Epiphänomene wie Egoismus und familialen Privatismus abhob sowie grundlegend durch einen erkenntnistheoretischen Positivismus, der die Wissenschaft zu einem neutralen Sortier- und Ordnungsapparat verklärte und dem Ideal einer naturwissenschaftlich informierten Gesellschaftsanalyse frönte. Die Affinität einer solchermaßen skelettierten Gesellschaftstheorie zur Eugenik wurde noch verstärkt durch den historischen Zwang einer nachholenden Industrialisierung, dem sich die junge Sowjetunion ausgesetzt sah. Nicht umsonst warb der sowjetische Genetiker Serebrovskij für die Humangenetik mit der Aussicht, durch die Ausschaltung von Erbleiden könne man womöglich ein Fünfjahresplansoll in zweieinhalb Jahren erfüllen.
Letztlich ist das Thema einer Eugenik von links unauflöslich mit den Ambivalenzen des orthodoxen Fortschrittsbegriffs verknüpft. Das Problem besteht darin, daß der Sozialismus nicht wirklich zu einem die Begrenzungen der kapitalistischen Vergesellschaftung transzendierenden Begriff des Fortschritts fand. Obwohl er sich subjektiv als radikaler Gegenentwurf zu den Intentionen, Motiven und Mitteln der Moderne begriff, beschränkte sich das eigene Programm in weiten Teilen auf die Radikalisierung der traditionellen Versprechen: rationeller zu verwalten, besser zu planen, gründlicher zu technisieren, kurz: den letzten Rest an Spontanem, Irrationalem und Zufälligem, den das kapitalistische Management aufgrund Wettbewerb und privater Aneignung dulden mußte, zu tilgen und das alles schneller und besser zu erledigen als die Konkurrenz. Im Zentrum dieser Fortschrittsvision stand darum die totale Transformation der Natur mehr Technik, mehr Maschinen, mehr Rationalisierung. Diese materiellen Voraussetzungen des Fortschritts galten gleichzeitig als objektive Indikatoren für die strukturelle Unfähigkeit des Kapitalismus, Produktivität in Lebensqualität, das heißt Sicherheit und Kontrollierbarkeit, zu verwandeln.
Fortschritt wurde also von der linken Orthodoxie in der Einheit von Natur- und Gesellschaftsgeschichte, die stets als unproblematisch gegebene vorausgesetzt wurde, gedacht. Selbst aus Marx Frühschriften wird ersichtlich, daß er als Denker des 19. Jahrhunderts dessen Wachstumsoptimismus teilte und damit den Segensmythos einer linearen Technifizierung zunächst fortschrieb. 7 Die Befreiung von Naturabhängigkeiten galt per se als emanzipativ: Der ideologiekritischen Entmystifizierung der Gesellschaft als zweiter Natur korrespondierte die Entmystifizierung der Natur durch die Naturwissenschaften. Die emanzipative Seite dieses Aufklärungsprojekts, nämlich die Natur nicht mehr unbefragt als moralische Instanz anzuerkennen, wurde dabei freilich in seinem Fortgang, wie Adorno und Horkheimer festhielten, von der Tatsache überschattet, daß diese fortschreitende Emanzipation von Naturabhängigkeiten immer weniger die Freiheit des Menschen von allen Zwängen garantierte, sondern an der Verewigung der sozialen Herrschaft arbeitete. Diese Erkenntnis einer Dialektik der Naturbeherrschung ist in den Reihen der orthodoxen Linken nie so recht heimisch geworden. Die Natur interpretierte man sich eher als Erfüllungsgehilfin der geschichtlichen Vollendung zurecht. Folglich galten Kontrolle und Überwindung der Naturzwänge als Garanten des universellen Fortschritts.
Geschichtsphilosophischer Optimismus
Den Gedanken, daß eine bewußte Form der gesellschaftlichen Organisation auch zwangsläufig die bewußte Kontrolle der materiellen Grundlagen der Gesellschaft befördern müsse, hat bereits Engels ausformuliert. Er hielt fest, daß die Menschen "zum ersten Mal bewußte, wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung werden. " (MEW 20, S. 264) Dieser geschichtsphilosophische Optimismus, der den Übergang von der Vorgeschichte in die Geschichte nach dem Modell der Naturbeherrschung denkt, klammert die Nicht-Identität von Natur und Gesellschaft aus. Das heißt zum einen: Die Möglichkeit, daß die gesellschaftliche Aneignung der Natur nicht nur Entwicklung bedeutet, sondern auch die Grundlagen der Modernisierung selbst in Frage stellen kann, daß der historisch spezifische Zugang zur Natur nicht von Herrschaft befreit sondern in neue Zwänge und Abhängigkeiten hineinführt, wird dabei systematisch ausgeschlossen. Ein solches Naturverhältnis, das die Verleugnung des anderen als Bedingung der eigenen Unabhängigkeit einschließt, haben Adorno und Horkheimer als Grundform der Herrschaft gekennzeichnet. 8 Zum anderen, und das führt nun wieder zu dem speziellen Fall einer technischen Kontrollvision, der Eugenik: Wenn die technische Substitution der Natur gemeinhin als materielle Vorbedingung des "qualitativen Umschlags" galt, war es nur noch ein kleiner Schritt dahin, dieses Fortschrittsmodell auf den Prozeß einer planlos ablaufenden Reproduktion zu übertragen. Nur zu verführerisch erschien der Gedanke, vermittels der Fortschritte einer zweckfreien Naturwissenschaft könne man zur Bewältigung des Lebenskampfes aus der Naturgeschichte aussteigen. So wie im ersten Fall des theoretischen Modernisierungsentwurfs nicht die Nebenfolgen einer industriellen Modernisierung bedacht wurden, die heute unter dem Schlagwort der ökologischen Krise verhandelt werden, so wurde im Reproduktionsbereich die ideologische Schlagseite der wissenschaftlich-technischen Machbarkeitsvision ausgeblendet: Im Dienst einer besseren Zukunft arbeiteten Sozialisten in den Labors und an den Schreibtischen der Selektion vor. Jenen antifaschistischen Wissenschaftlern, die das eugenische Züchtungsprojekt unter den Banner des Fortschritts und der Emanzipation stellten, mußte daher die rassenbiologische Engführung der "Aufnordung" als heimtückischer Verrat an der guten Sache erscheinen, nicht als deren ideologischer Zwilling. Diesen Humanbiologen und Genetikern entging, daß sie mit ihren Studien den Glauben an eine objektive und überhistorische Hierarchisierung von biologischen Lebenswerten befestigen halfen, der in Deutschland wenig später im "Erbgesundheitsgesetz" seinen radikalisierten Ausdruck fand.
Ein Sozialismus, der, ganz Vulgärmaterialismus, den Glauben an die letzte unteilbare Einheit und das Steuerungselement des Lebens, das Gen, zum Dogma erhob und ernsthaft das Projekt eines "neuen Menschen" in seiner biologistischen Schlagseite verfolgte, um den sozialen Fortschritt zu forcieren, mußte sich folgerichtig zum Anwalt einer "echten" und "reinen" Eugenik aufschwingen. Ein solchermaßen platt technizistischer und stur anti-individualistischer Sozialismus, der die Assoziation der gleichen und Freien in eine totalitäre Brutnormzentrale Huxleyscher Prägung verwandelte, mußte Gleichheit vor allem als gleiches und allgemeines Recht auf die bestmögliche genetische Ausstattung verstehen. Nicht anders als die "rechte" war dann auch die "linke" Eugenik ideologisch am organizistischen Leitbild des "großen Ganzen" ausgerichtet, zu dessen Gedeihen der/die einzelne mit ihrer (Erb-)Gesundheit sein Scherflein beizutragen hatte. Ihre praktische Exekution war in den Entwürfen ihrer frühen Propagandisten den Direktiven des Staates, der zentralen Steuerungsinstanz, überlassen. Diese Charakteristik der alten, traditionellen Eugenik läßt bereits ahnen, wo ihre Modernisierungspotentiale liegen. Um nun die Gestalt einer neuen Eugenik zu skizzieren, die nicht biologistisch auf die Optimierung eines "Genpools" ausgerichtet ist, sondern auf die Verwirklichung eines gesunden, glücklichen Lebens nach bioethischen Maßgaben, soll die aktuelle Euthanasie-Debatte beleuchtet werden. Sie belegt nicht nur aufs neue den Konnex zwischen Eugenik und Euthanasie, sie illustriert auch beispielhaft die Anfälligkeit von Teilen der Linken für eine Selektionspolitik, die sich als wahre Humanität begreift.
Neue Eugenik: Die Euthanasie-Debatte
Bekanntlich propagiert der australische Bioethiker Peter Singer, international als links-ökologischer Philosoph und Tierfreund anerkannt, in seiner "Praktischen Ethik" die Tötung Behinderter, ohne auf die über-individuellen Kriterien einer finsteren Rassenhygiene zu rekurrieren. Mithilfe seiner Interpretation eines Bündels psycho-physiologisch fundierter oder (das macht keinen Unterschied) noch zu fundierender Forschungsergebnisse kreiert er sein Kunstprodukt der "Person", das den Einstieg ins Selektionsprogramm markiert. Nur "Personen", das heißt Menschen mit Ich-Bewußtsein und Rationalität, können ein Lebensrecht besitzen. Da Neugeborene in keinem Fall diese Kriterien erfüllen, steht es nach dem Willen des Bioethikers den Eltern frei, ihr Kind innerhalb einer Frist von vier Wochen nach der Geburt töten zu lassen. 9 Für eine derartige Entscheidung setzt Singer bei den Eltern eine Werthierarchie voraus, die daraus macht er kein Hehl der seinen aufs Haar gleicht, also Behinderung ganz ans untere Ende reiht. Und weil der Utilitarismus, der auf dem universalistischen Prinzip der gleichen Abwägung von Interessen beruht, vorgeblich auch die ureigenen Interessen des behinderten Neugeborenen berücksichtigt, versichern die Bioethiker im Akkord, daß sie im Fall einer Behinderung wäre volle Aufklärung darüber von außen möglich für ihren Tod votieren würden und darum der Säugling, der aktuell keinen Wunsch äußern kann, natürlich ebenfalls.
Im Sommer 1989 wurde Singers Ethik des Behindertenmords, die in der Welt der Bioethik freilich weder einzigartig noch sonderlich originell ist, in einer konzertierten Medienaktion zunächst der deutschen, nur wenig später der österreichischen Öffentlichkeit nahegebracht. Die „Zeit“ stellte ernsthaft die Frage "Haben schwerstbehinderte Neugeborene ein Recht auf Leben? " zur Debatte, und der damalige Redakteur Reinhard Merkel schob sogleich ein Dossier hinterher, in dem er Singers Gegner zu einer Bande von hysterischen Ignoranten stempelte und ein Umdenken im Bereich der Euthanasie forderte. Im Juli desselben Jahres durfte Merkel in der Fernsehsendung "Club 2" "Haben schwerstbehinderte Neugeborene ein Recht zum Leben? " dem miteingeladenen Peter Singer assistieren. Damit inszenierte der ORF, bemerkte Erwin Riess, eine Diskussion, "die als intellektuelle Zuspitzung des gesunden Volksempfindens Krüppel an die Wand drückt. "10
Zwischenzeitlich hat der linksliberale Strafrechtler und Rechtsphilosoph, der heute an der Universität Rostock lehrt, inspiriert durch Singers Steilvorlage sein eigenes Konzept zur Legitimation der Tötung von behinderten Neugeborenen und Wachkoma-Patienten entwickelt. Anders als Singer legitimiert Merkel nicht den Infantizid, um eine nachfolgende Selektion strafrechtlich abzusichern. Er begrenzt in seinem interessentheoretischen Zugang nicht die Reichweite des Lebensrechts, sondern weicht dessen Schutzcharakter auf. Die kontextfreie Zuerkennung eines Lebensrechts wertet Merkel als Ausdruck eines unzeitgemäßen Paternalismus. Das Lebensrecht dürfe kein Zwang, es solle eine Bereicherung für das Leben sein. So könne das Lebensinteresse eines Menschen, stellt Merkel fest, von einem "Leidvermeidungsinteresse" aufgewogen werden. Die Abwägung dieser Interessenkonstrukte müsse darum im strafrechtlichen Bereich des Notstands stattfinden, um trotz eines repressiven ethischen Universalismus moralisch handeln zu können. Wie das nun konkret auszusehen habe, macht Merkel mit Rekurs auf Ronald Dworkin deutlich. Von ihm leiht sich Merkel die Begriffe eines "erlebensbezogenen" Interesses (experiental interests) und eines "wertbezogenen" Interesses (critical interests), um die verschiedenen Existenzformen zu hierarchisieren: "Ein schwerkranker, entscheidungsunfähiger Erwachsener mit einer verbleibenden Lebenserwartung von, sagen wir, zehn Monaten hat ein Recht auf Berücksichtigung aller seiner critical interests bei der Frage, ob sein Leben bis zum letzten möglichen Atemzug zu erhalten ist oder nicht. ( ) Bei einem schwerstgeschädigten Neugeborenen mit der gleichen zehnmonatigen Lebenserwartung und vielleicht ähnlichen klinischen Symptomen verhält sich dies gänzlich anders. Hier kommen andere als experiental interests nicht in Betracht. Schmerzen und Leiden, die durch die Krankheit oder durch therapeutische Maßnahmen verursacht werden und die im Fall des moribunden Erwachsenen nicht an der zwingenden Indikation einer lebenserhaltenden Behandlung ändern mögen, können im Fall des Neugeborenen vollständig unzumutbar sein und damit die gebotene Abwägung in genau umgekehrtem Sinn wie im ersteren Fall entscheiden. "11 Die Euthanasie ist also angezeigt, wenn es dem Neugeborenen nach intersubjektiv geteilten Kriterien unmöglich ist, ein Interesse an seinem Leben auszubilden, sein Leben in irgendeiner Weise wertzuschätzen.
Diese neue Eugenik, die ihre Herkunftsmerkmale von einer Konzeption, die den Menschen als Mittel setzte, abgestreift hat, ist durch einen grundlegenden Perspektivenwechsel geprägt. In ihrer ent-totalisierten Form setzt die Eugenik auf die Verbesserung des Individuums und nicht der "Rasse", sie strebt die Lebensoptimierung an, nicht die Maximierung des Gesellschaftsnutzens, und die Realisierung ihrer Ziele delegiert sie nicht an den Staat, sondern überläßt sie dem Gewissen jedes/jeder einzelnen, in der Gewißheit, daß sich in den modernen Industriestaaten ein biologisches Qualitätsbewußtsein durchgesetzt hat, das die Bioethik nur in elaborierter Form präsentiert. 12
Applaus von links
Anders als in den dreissiger Jahren, wo sich die Mehrzahl der Euthanasie-Theoretiker und -planer ideologisch in der nationalistisch-rassistischen Ecke bis hin zum "nordischen" Flügel der Rassenhygiene sammelten, rekrutieren sich die modernen Eugeniker aus der politischen Mitte und dort eher von links. Das exponierteste Beispiel ist sicher Singer mit seiner Kandidatur für die grüne Partei in Australien. Im Aufguß durch eine autonomieorientierte Philosophie kann eine Selektionspolitik aber auch für Linke attraktiv werden, die aufgrund ihrer spezifischen Erfahrungen menschliche Existenz zum Beispiel mit reger geistiger Tätigkeit gleichsetzen. So kommt nicht nur die Rezeptur einer modernen Euthanasie von links, sondern auch der Applaus.
Die Euthanasie-Debatte, so führte beispielsweise die Habermas-Schülerin und Philosophieprofessorin Ursula Wolf aus, könnte zwar die Gefühle der Behinderten verletzen, die Brisanz der anstehenden Probleme wiege dies aber leicht auf. Die Befindlichkeiten der Behinderten wären ohnehin kein Gradmesser für die moralische Integrität einer Debatte. Schließlich speise die trotzige Identitätsbehauptung der Behinderten, die sich ihren widrigen Lebensumständen verdanke, einen "Gruppenegoismus", der sich in dem für die Professorin nicht nachvollziehbaren Urteil verdichte, daß es besser ist, lebendig und behindert als tot zu sein. 13 Die Marxistische Gruppe wiederum schaffte es in einem Kommentar zu Singer, sich die politische Existenzberechtigung noch vor ihrer Selbstauflösung gleich selber abzusprechen. "Wer sich für einen Arbeitgeber nicht nützlich machen kann, weil er unter einem Gebrechen leidet, oder nicht nützlich machen darf, weil er hinaus rationalisiert wurde, der steht ohne Einkommen da. So jemand muß zusehen, wie er sich mit Arbeitslosen- oder Sozialhilfe über Wasser hält. Etwas ganz anderes dagegen ist die Überlegung, ob eine Frau sich und dem Kind ein Leben mit Behinderungen zumuten will, die aus dem Leben eine einzige Plage machen. Ganz unbestreitbar ist eine schwerwiegende körperliche oder geistige Behinderung ein Hindernis für die Realisierung der Zwecke, auf die es einem Menschen ankommen mag. "14
Auch die Frankfurter Gruppe Linkswende, die in ihrem Sektenblättchen „Novo“ zweimonatlich das garantiert dialektikfreie Lob von Atomstrom und Gentechnik singt, zog aufklärerisch gegen die idealistische Verherrlichung von Behinderung zu Felde. Anläßlich der letzten Einladung Peter Singers nach Deutschland im Sommer 1996 und der daraufhin aufbrandenden Proteste seitens verstockter Behinderter, die sich nicht dem liberalen Diskursreglement unterwerfen und nicht konstruktiv über Eugenik und Euthanasie diskutieren wollten, warben sie für freies Reden und freies Forschen: "Es bringt weder Behinderten noch der Bevölkerung im allgemeinen irgendetwas, so zu tun, als würde eine Behinderung keine besonderen Belastungen mit sich bringen. Und oft wird so getan, als sei es schon moralisch verwerflich, dies zu äußern. Das ist nicht der Fall, und wir sollten diese Haltungen wie auch die Romantisierung von Behinderungen und Krankheiten, das heißt, wenn so getan wird, als handele es sich um einen schon fast wünschenswerten Zustand, behindert zu sein, nicht teilen. "15 Und um den Rechtsruck zu den eugenischen Positionen der frühen Parteisozialisten zu vollenden, konfrontieren sie abschließend Singer mit einer Frage, die dessen Antwort bereits enthält: "Kehren Sie mit ihrer Gleichsetzung von Mensch und Tier nicht das einzigartige menschliche Potential, die Gesellschaft bewußt zu verändern, unter den Teppich? " Singer, bereitwillig das Echo spielend: "Ich will nicht sagen, normale Menschen würden sich nicht von Tieren unterscheiden. "
Und die Unnormalen? Deren Schicksal wird auch weiterhin dem fortschrittlichen Doppel von Humangenetik und Bioethik überlassen bleiben. Denn mit Behinderten, die niemals weder Hammer noch Sichel werden schwingen können, weiß auch ein großer Teil der Linken, wie die Geschichte einer linken bzw. von links gefeierten Eugenik zeigt, nun mal nichts anzufangen.
Alexander Bogner ist Soziologe, zur Zeit Stipendium des Instituts für höhere Studien.
Anmerkungen
1 Vgl. auch im folgenden: H. J. Muller (1934): The Dominance of Economics Over Eugenics, in: A Decade of Progress in Eugenics, Scientific Papers of the Third International Congress of Eugenics, Baltimore, S. 140ff. , zit. n. L. Weß (1998): Die Träume der Genetik. Gentechnische Utopien von sozialem Fortschritt, Frankfurt, S. 115f.
2 Alfred Ploetz (1895): Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Grundlinien einer Rassenhygiene, Teil I, Berlin.
3 Stefan Kühl (1997): Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt, S. 20f.
4 F. Limmacher (1934): Vernichtung lebensunwertes Lebens, in: Internationales Ärztliches Bulletin, 1/1934, S. 183, zit. n. W. Brill (1994): Pädagogik im Spannungsfeld von Eugenik und Euthanasie. Die Euthanasie-Diskussion in der Weimarer Republik und zu Beginn der neunziger Jahre, St. Ingbert, S. 25.
5 Vgl. Bayertz/Kroll/Weingart (1992): Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt, S. 376f.
6 Karl Kautsky (1910): Entwicklung und Vermehrung in Natur und Gesellschaft, Stuttgart, S. 265ff.
7 In der "Deutschen Ideologie" wird die "Einheit des Menschen mit der Natur" in der Industrie als gegeben, als "ein empirisches Faktum" behauptet (MEW 3, S. 43).
8 Ihre Kritik der Naturbeherrschung galt dabei freilich nicht als der Aneignung von Natur zu menschlichen Zwecken, die ja tatsächlich unabdingbar ist. Kritisiert wurde vielmehr die Subsumtion des Besonderen unter das Kategoriengerüst eines starr verobjektivierenden Denkens, das seine soziale Gewalt in der Abstraktionsleistung der Wertform gewinnt.
9 Peter Singer (1994): Praktische Ethik, Stuttgart, S. 222f.
10 Erwin Riess (1990): Kein Tabu für Freaks? In: „Behindertenpädagogik“, H. 1, S. 58.
11 Reinhard Merkel (1996): Ärztliche Entscheidung über Leben und Tod in der Neonatalmedizin, in: „Mittelweg“ 36, H. 1, S. 94.
12 Unter diesen ideologischen Vorzeichen hat die Euthanasiedebatte in Österreich zwischenzeitlich wieder Fahrt aufgenommen. Im Frühjahr 1998 trat eine Handvoll Prominenter aus Wissenschaft und Politik mit dem Manifest "Menschenwürdig sterben" an die Öffentlichkeit. Diese Vorlage nahm das Liberale Forum auf und versuchte mit medialer Unterstützung des „Standards“ daran seine politischen Konturen zu schärfen. Zu den ideologischen Risiken und Nebenwirkungen dieser Kampagne vgl. „Volksstimme“ Nr. 1/1999.
13 Ursula Wolf (1991): Philosophie und Öffentlichkeit. Anmerkungen zur Euthanasie-Debatte, in: Hegselmann/Merkel (Hg. ): Zur Debatte über Euthanasie. Beiträge und Stellungnahmen, Frankfurt/M. ,
S. 181-196.
14 Zit. n. T. Degener (1990): Redebeitrag auf dem Kongreß der Radikalen Linken, in: "Deutschland? Nie wieder! " Kongreß der Radikalen Linken, Frankfurt, S. 47.
15 T. Deichmann (1996): Euthanasie wer soll entscheiden? In: „Novo“, Nr. 23, S. 25-29 und: Peter Singer: Ein deutscher Streitfall Deichmann im Gespräch mit Singer, ebd. , S. 32-34.