Streifzüge 50/2010
von Stephan Hochleithner
An einem windigen Herbsttag im letzten 0er Jahr des 21. Jahrhunderts betrat ich vom Trittbrett des Linienbus 16a aus, ohne mir dessen in jenem Moment bewusst zu sein, das Fremde. Der global vereinheitlichte Konsumschleusenlook des Flughafens hatte mich noch kurz zuvor in touristischer Scheinvertrautheit empfangen und der Kontakt meiner Schuhsohlen mit dem Asphalt der Upper Dorset Street ließ mich glauben, dort angekommen zu sein, wo ich das folgende halbe Jahr verbringen würde. Doch das stimmte so nicht.
Es stimmte so nicht, weil die Wirklichkeit und ich noch weit voneinander entfernt waren. Und das gleich mehrdimensional. Die Distanzen zwischen mir und dem Verstehen des (semi-)öffentlichen Transportsystems, der Vorgehensweise beim Lebensmitteleinkauf oder den Gepflogenheiten beim Pubbesuch gehörten, trotz ihrer Größe, zu den geringeren. Am breitesten war die Wirkung des Sprachunterschiedes, denn hier bestand eine gravierende Differenz zwischen dem mir vertrauten Englisch und dem tendenziell fiesen Dialekt der Menschen von Dublin Stadt, like. Ehe ich mich versah, stand ich unter dem Einfluss eines Phänomens, das die Sozialanthropologie als Infantilisierung kennt, ich war wieder Kind. Das meint, meine Kenntnisse des lokalen Alltags, insbesondere eben des Regionalsprechs, beschränkten sich anfangs auf die eines etwa Fünfjährigen. Ich hatte keinen Platz in der Gesellschaft vor Ort und diese keinerlei Interesse mir bei der Findung eines solchen behilflich zu sein.
Zu den Folgen des Einflusses dieses Phänomens gehörten zwar auch gesteigertes Gieren nach Neuem und ein Lern- und Aufnahmevermögen, das mich selbst überraschte, doch besonders in den ersten Tagen wogen die emotionalen Aspekte wesentlich schwerer: Einsamkeit, Heimweh und das verführerische Verlangen, mich unter germanophone, lautscheinlich weniger fremde Menschen zu mischen. Zu meinem Glück war ich in der ökonomischen Lage, mir die Zeit zu leisten, die nötig war, um die Infantilisierung zu meinem Vorteil nutzen, um in der mir fremden Gesellschaft (im Eiltempo) heranwachsen zu können. Und so verhielt sich die mehrdimensionale Distanz indirekt proportional zur Menge der Zeit, die ich vor Ort verbrachte: sie schrumpfte.
Auch in der Gedankenwelt abseits und jenseits des Kapitalismus war ich einmal fremd. Und jede, die, und jeder, der diese Welt alternativer Konzepte zum ersten Mal betritt, ist es und wird bei dieser Begegnung mit ihr oder ihm fremden Ideen infantilisiert, fühlt sich einsam, hat Heimweh nach dem bequemen Leben. Manche treten sofort wieder die Rückreise in die gewohnten Gefilde kapitalistischer Vorstellungen an, andere mischen sich unter Lippenbekenner.
Das Fremde ist überall, fremd bin ich und fremd ist mir an jedem Tag. Wer damit umgehen kann und wer nicht, zeigt sich an vielen Aspekten der persönlichen Lebensgestaltung.