In den USA sind deutlich mehr Bürger auf Lebensmittelmarken angewiesen
von Tomasz Konicz
In den USA sind im Juli 131 000 Arbeitsplätze verloren gegangen, wie das Arbeitsministerium in Washington am Freitag mitteilte. Die Arbeitslosenquote blieb dennoch bei 9,5 Prozent, weil entmutigte Arbeitslose die Suche nach einem Job aufgaben und daher nicht mehr statistisch erfasst wurden. Die sozialen Probleme im Zuge der Wirtschaftskrise dürften sich daher weiter verschärfen.
Um 6,7 Milliarden Dollar wollen US-Senatoren das Programm zur Ausgabe von Lebensmittelmarken (SNAP) im Rahmen einer Gesetzesinitiative kürzen lassen, berichtete kürzlich die »Washington Post«. Mit den eingesparten Mitteln sollen drohende Massenentlassungen von Lehrkräften in den Bundesstaaten und Kürzungen in der staatlichen Krankenversorgung für ältere Bürger (Medicaid) verhindert werden. Da die Nahrungsmittelpreise gegenüber den ursprünglichen Prognosen der Regierung gesunken seien, machten die Lebensmittelmarkenempfänger derzeit ein »gutes Geschäft«, erläuterte der demokratische Kongressabgeordnete David Obey. Das Konjunkturprogramm vom Februar 2009 beinhaltete auch eine Anhebung des Werts der Lebensmittelmarken um 13,6 Prozent.
Die angestrebten Kürzungen im SNAP-Programm beziehen sich auf den Zeitraum 2014 bis 2018. Doch ein Rückgang des Heers der Hilfsbedürftigen ist angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit nicht in Sicht. Die Kosten für das Lebensmittelkartenprogramm explodierten in den letzten Monaten von prognostizierten 20 Milliarden auf circa 65 Milliarden Dollar. Inzwischen sind 40,8 Millionen US-Bürger auf SNAP angewiesen – Anfang 2007 waren es gut 26 Millionen. Das Landwirtschaftsministerium geht sogar davon aus, dass im kommenden Jahr an die 43 Millionen Bürger auf Lebensmittelmarken angewiesen sein werden.
Da der Zugang zum SNAP-Programm strikt reglementiert ist, geben diese Zahlen nicht das wahre Ausmaß der Verelendungstendenzen wieder. Die rasant voranschreitende Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten geht mit einer beschleunigten Erosion der einstmals zahlreichen amerikanischen Mittelschicht einher, die in der zunehmenden sozialen Polarisierung regelrecht zerrieben wird. Inzwischen hält das wohlhabendste Zehntel der US-Haushalte 75 Prozent des Vermögens. Es verdient nahezu genau so viel wie die unteren 90 Prozent in der US-Einkommenspyramide. Als ökonomisch marginalisiert können inzwischen nahezu 40 Prozent der US-Bevölkerung bezeichnet werden, die nur noch 9,3 Prozent der Einkommen erzielen und 0,2 Prozent des Vermögens halten. Circa jedes fünfte Kind wächst unterhalb der Armutsgrenze auf.
Amerikas Spitzenverdiener und Vermögensbesitzer konnten hingegen einen stürmischen Einkommenszuwachs erzielen. Das vermögendste Hundertstel der Haushalte konnte seinen Anteil am Vermögen in den letzten 15 Jahren nahezu verdoppeln. Während der Einkommensunterschied zwischen einem Vorstandsvorsitzenden und einem Arbeiter laut der Financial Times in 1973 im Schnitt bei 26 zu eins lag, ist dieser nun auf mehr als 300 zu eins angestiegen.
Bei dieser sozialen Polarisierung handelt es sich um einen langfristigen Prozess, der in der Weltwirtschaftskrise zusätzlich an Dynamik gewinnt: Die realen, inflationsbereinigten Einkommen der unteren 90 Prozent der US-Haushalte sind seit 1973 kaum mehr angestiegen, während das oberste Zehntel im gleichen Zeitraum seine Einkünfte verdreifachen konnte.
Die Stagnation ihres Einkommensniveaus konnten die Mitglieder der erodierenden US-Mittelklasse durch vermehrte Kreditaufnahme zeitweilig kompensieren. Vor allem während der Immobilienblase nahmen sie oftmals Hypotheken auf ihre Eigenheime auf, um ihren Konsum zu steigern oder notwendige Ausgaben – etwa bei den explodierenden Gesundheitskosten – zu decken. Das hat sich seit dem Platzen der Immobilienblase geändert: Auch aufgrund massenhafter Zwangsvollstreckungen findet auf dem US-Immobilienmarkt ein massiver Besitzwechsel statt. Inzwischen ist der von den Banken gehaltene Immobilienbesitz mehr wert als der aller privaten Hauseigentümer zusammengenommen – zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte.
aus: Neues Deutschland, 07.08.2010