Das System Grasser und seine Kontrahenten
von Franz Schandl
Wenn Politik und Medium nichts mehr einfällt, muss ein Skandal her. Da wird dann fleißig investigiert, und schon hat man was gefunden. Obwohl die letzte Affäre sich noch nicht verzogen hat, hecheln wir schon in die nächste. Zur Zeit entzündet sich eine sommerliche Debatte, wer wann und wo mit bestimmten „Unpersonen“ auf Partys, Vernissagen oder Segelbooten verkehrte. Karl-Heinz Grasser ist hier ein illustres, wenn auch bisher kein dankbares Objekt.
So werden die an dieser sensationellen Enthüllung nicht ganz unbeteiligten Sozis eher blöd aus der Wäsche schauen, ist doch der überdimensionale BAWAG-Skandal mit all seinen Ausläufern eindeutig in ihrer Reichshälfte zu verorten und daher auch primär Personal aus ihren Reihen involviert. Solch Schüsse können also auch nach hinten losgehen. Noch dazu, wo der Finanzminister einer von der Sorte ist, die bereits ein starkes Immunsystem gegen Affären entwickelt haben. Karl-Heinz Grasser ist zweifellos ein Potpourri aus Unerträglichkeit, Peinlichkeit und Windigkeit, aber eines mit anziehender und nicht abstoßender Wirkung. Eben ein toller Hecht. Und nur das zählt am Markt. Man werfe einen Blick in die Zeitgeistmagazine und Boulevardblätter. Die überschlagen sich vor Entzückung, auch und gerade wenn sie gegen ihn anschreiben.
Selbstverständlich könnte man jetzt fragen, ob derlei Eindrücke tatsächlich so entscheidend sind. Für die gesellschaftliche Entwicklung wohl kaum, für das konkrete Wahlspektakel hingegen sehr wohl. Die Konkurrenz der Eindrücke hat die Konkurrenz der Interessen abgelöst. Die Eindrücke selbst freilich sind Beeindruckungen. Sie werden in den Wählern seriell reproduziert, nicht von diesen autonom entwickelt.
Was natürlich viel über die Souveränität des Souveräns aussagt, aber darüber spricht man nicht. Kultische Wählerverehrung offenbart sich in systematischer Wählerverarschung. Wahlkämpfe sind von PR-Firmen und Parteisekretariaten inszenierte Trotteliaden, eine Zumutung sondergleichen. Kein Niveau, das nicht unterboten werden kann.
Grasser allerdings wird hier als Absonderlichkeit oder Verstoß vorgeführt, und nicht als eine topmoderne und durchgestylte Aufführung des Normalen. Gerade diese Normalität wollen viele in ihrer ideologischen Verschrobenheit partout nicht begreifen, geschweige denn: angreifen. Sie schreien Skandal, wo alles stinknormal ist. Zweifellos, diese Normalität stinkt, aber nicht weil es Skandale in ihr gibt, sondern weil sie selbst der Skandal ist. Doch das darf nicht sein. So gesehen ist Grasser mehr auf der Tiefe seiner Zeit als seine ihm und ihn folgsam verfolgende Gefolgschaft. Er demonstriert die Zustände als unaufgeklärter Aufklärer wider Willen, seine aufgeklärten Nachsteller hingegen verschleiern und verdunkeln jene fortwährend als Missstände, die man beheben könnte.
Die Verlogenheit attackiert die Lüge und kommt sich dabei mächtig gut vor. Indes, wer sich darüber empört, dass in der Politik gelogen wird, ist nicht ganz dicht. Das ist so, als entsetzte sich jemand darüber, dass in der Werbung nicht die Wahrheit gesagt werde. Nicht ob gelogen wird, ist die Frage, sondern wie gelogen wird. Eine Lüge ist nur schlecht, wenn sie schlecht ist.
Peter Pilz etwa macht sich im „Standard“ einmal mehr über Grasser lustig, ohne zu merken, welch lächerliche Figur er selbst in diesem Skandalstück ist. Objektiv ist er nichts weiter als der grüne Reklamezwerg der Firma Swarovski samt ihrer ministeriellen Außenstelle. Ein Hofnarr und Hagiograph, völlig unfähig, seinen Status auch nur eine Sekunde zu reflektieren. Aber ein genügsamer Fanclub klopft sich auf die Schenkel: „Dem hat er’s aber gegeben.“ – Nur, was?
Natürlich kann Grasser auch fallen, aber das ist die unwahrscheinlichere Variante. Wahrscheinlicher ist, dass er aus alledem gestärkt hervorgeht. Wenn die Affäre also überstanden sein wird, wird KHG Fiona fragen: „Von wem lasen wir uns als nächstes einladen? “ Und sie werden lachen, und nicht als ob sie nicht die Blöden wären, sondern weil sie nicht die Blöden sind.
Die Kriterien der Wahlentscheidung haben sich extrem verschoben. Wahlen werden immer weniger von sozialen Zugehörigkeiten oder weltanschaulichen Haltungen bestimmt als von unmittelbaren Stimmungen dominiert. Die Aufgabe politischer Reklame besteht vorzüglich darin, die Wahlbevölkerung in entsprechende Gemütslagen zu versetzen. Nestroys Prophezeiung, dass „freie Wahlen nach vorhergegangener Stimmung“ entschieden werden, findet heute ihre Einlösung. Symbolik und Theatralik, Inszenierung und Skandalisierung sind die durchschlagenden Schubkräfte. Dirty Campaigning prägt die Auseinandersetzung. Wem können wir was vorspielen? Wem können wir was anhängen? Wahlkämpfe sind Werbeschlachten, Fairness-Abkommen leere Kilometer.
Und die Wähler? Manche geilen sich daran auf, andere fallen darauf rein, aber immer mehr fühlen sich einfach nur noch angeekelt. Inzwischen geht man davon aus, dass dies der schmutzigste Wahlkampf der letzten fünfzig Jahre werden wird. Aber vielleicht sollte man sich damit trösten, dass es gleichzeitig der sauberste der nächsten fünfzig Jahre gewesen sein wird.