„Chancengleichheit und Anti-Diskriminierung“

von Peter Klein

Leserbrief zu Mirijam Günter: Einmal Bürgertum und zurück (SZ vom 22./23./24.5.2010)

Was Frau Günter über ihre Begegnungen mit Unterschicht-Jugendlichen zu berichten hat, ist wirklich spannend; Heine an der Förderschule klingt sympathisch. Dennoch reizt mich diese Gardinenpredigt in Sachen Chancengleichheit und Anti-Diskriminierung zum Widerspruch.

Verdient es denn das blasierte Gymnasiastendasein, als erstrebenswert dargestellt zu werden? Sind der Prüfungsstress an der Uni und das erbärmliche Konkurrenzgerangel im Wissenschaftsbetrieb das Ziel aller Wünsche? Bedeuten der Aufstieg zum Bankberater, zum BMW-Verkaufsleiter oder zum Psycho-Coach für ausgebrannte Manager das Ende der Hoffnungslosigkeit? Um seelisch verhungern zu können, muss man sich nicht erst noch krumm machen für die Gratifikationen der Leistungsgesellschaft. Selbstmord kann man auch begehen, ohne es vorher zum Milliardär gebracht zu haben.

Man fragt sich, wer denn heute noch den Glauben hegen soll, „dass jemand wirklich für sie (die Jugendlichen) kämpft.“ Im Interesse der „verlorenen Jugendlichen“, die an den „Orten der Trostlosigkeit“ leben, scheint mir ein solcher Glaube, der sie aufs Warten verweist, nicht zu liegen. Auch mit der „Aufrechterhaltung des sozialen Friedens“ dürfte ihnen nicht gedient sein. Der Ton, mit dem sich Frau Günter um Unterstützung durch die Kulturämter bemüht, klingt tatsächlich nach einem Märchen aus uralten Zeiten. Es handelt sich offensichtlich um das letzte Säuseln aus einer Zeit, in der es noch den Sturm eines Reformeifers gab, der die soziale Emanzipation einigermaßen ernsthaft als Therapie- und Integrationsprojekt betreiben konnte. Aber diese Integrations-Epoche, auch als sozialdemokratisches Jahrhundert bekannt, ist doch längst vorbei! Das Bild der ausgemusterten, ausgegrenzten, für unmündig und zum Abfall erklärten Jugendlichen, das Frau Günter uns eindringlich vor Augen führt, ist doch gerade der Beweis dafür, dass es in jenem alten, händchenhaltenden Stil nicht mehr weiter gehen kann. Keine Illusion ist schlimmer als diejenige, dass mit dem Hinein in die kapitalistische Verwertungsmaschine noch irgendeine lebenswerte Perspektive verbunden sein könnte.

In der guten alten „Internationale“ – auch eines der Kulturgüter, das den Underdogs gemeinhin vorenthalten wird – gibt es die schöne Zeile: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.“ Diese Devise, obwohl älter als der Reformismus, dürfte sich näher an den Erfordernissen der Zeit befinden als die Friedens- und Gerechtigkeitssprüche der Integrationsprediger. Solidarische Unterstützung schließt der Aufruf zum „Selber tun“ nicht aus. Geistige Anstöße, die den Underdogs bei der Selbstwerdung helfen, sind im Gegenteil hoch erwünscht und dringend erforderlich. Der soziale Krieg hat ohne Zweifel bereits begonnen. Aber solange er über die Phase der Verwahrlosung, der U-Bahn-Morde und des Amoklaufs nicht hinauskommt, kann er auf uns, das bürgerliche Publikum, nur abstoßend und widerlich wirken. Dabei gibt es, wie die Wahlerfolge der „Linken“ zeigen, Millionen potentieller Sympathisanten und Mitkämpfer, die sicher auch finanziell gerne einen Beitrag zur geistigen Aufrüstung der Unterschicht-Jugendlichen leisten würden.

Mit einem Wort, Frau Günter verdient bei ihren Bemühungen jede Unterstützung – aber sie möge uns bitte nicht erzählen, dass es dabei um Integration geht. Integration in eine Gesellschaft, deren Leitfiguren als Antwort auf die kapitalistische Krise nichts anderes einfällt als das ewig gleiche Gerede vom „Wachstum“! Wir sind dabei, an diesem Wachstum, das als Wertsteigerung seit zwanzig Jahren eh bloß von den Finanzmärkten getürkt wird, zu ersticken. Für diese großartige Perspektive würde ich, wäre ich Underdog-Jugendlicher, noch nicht einmal die Mühe des ABC-Lernens auf mich nehmen. Für die Lektüre Heines oder Marx` oder Oskar Maria Grafs dagegen schon.


(SZ vom 22.05.2010) zurück

Einmal Bürgertum und zurück

Wer hat nur die Brücken zwischen den sozialen Schichten abgebrochen? Ein Streifzug durch ein geteiltes Bildungsland / Von Mirijam Günter

Abends in einem Restaurant, ein Treffen junger Kulturschaffender. Alle haben einen bildungsbürgerlichen, gut situierten Hintergrund, alle bis auf einen, der zufällig gerade abwesend ist. ‚Die Hauptschule sieht man dem gar nicht an‘, stellen ein paar junge Frauen erstaunt fest. Über meine Herkunft und Schulkarriere habe ich vorsichtshalber kein Wort verloren. Fortan sind die Jogginghose und die Aussprache des jungen Mannes nicht mehr Ausdruck seiner künstlerischen Individualität, sondern Erkennungszeichen dafür, dass er aus der Unterschicht kommt. Ob das wirklich stimmt, fragt keiner. Hauptschüler kennt keiner persönlich, aber so ungefähr stellt man sich einen vor. Mich erwischt es zwei Wochen später, nachdem in meiner Abwesenheit mein nicht konformes Verhalten damit begründet wird, dass ich früher im Heim war. Statt sofort zu gehen, gebe ich mich erst mal meinem Exotendasein hin.

Als ich meinen ersten Literaturpreis bekam, gratulierten mir beileibe nicht alle. Es war nicht nur Neid, den ich spürte, mir schlug regelrechter Hass entgegen. Gewinnt dieses Ex-Asi-Heimkind doch einfach einen Literaturwettbewerb! Dabei war sie nur auf der Hauptschule und hat dort ihren Realschulabschluss gemacht. Danach hat sie sich mit den Ämtern rumgeschlagen und eine Ausbildung nach der anderen geschmissen. So wird man, wenn man Glück hat, Regalauffüller im Supermarkt. Meist endet man eher als drogensüchtige Person im Knast oder als fünffache Mutter mit sieben verschiedenen Vätern in irgendeinem vergessenen Ort, aber so wird man keine Schriftstellerin. Zwei Buchveröffentlichungen später hatte sich mein Bekannten- und Freundeskreis erheblich reduziert. Mit Mirijam Günter, die es nicht packte und immer wieder von stattlichen Transferleistungen leben musste, ließ sich hervorragend im Bekanntenkreis angeben; mit der Schriftstellerin Mirijam Günter ging das auf einmal nicht mehr.

Als ich mir später überlegte, dass ich mich vielleicht erst mal um die bücherfernen Schichten kümmern müsste, damit Kinder und Jugendliche wieder an Literatur herangebracht werden, und ich in Jugendhaftanstalten und Förderschulen ging, um dort Literaturwerkstätten anzubieten, wurde mir von derselben Klientel vorgeworfen, ich würde mich nicht ans Gymnasium trauen und wolle lieber unter Meinesgleichen bleiben.

Bei einer Lesung an einer Schule starrten mich die Hauptschüler nur ungläubig an. Irgendwann traute sich dann doch jemand zu fragen, ob man denn als Hauptschüler wirklich Schriftsteller werden kann. Als ich das bejahe, schauen sie mich bewundernd bis immer noch skeptisch an. Einer von ihnen sitzt da vorne. Und sonst? In der Politik? In den Gewerkschaften? Auf den Zeitungsredaktionen? Hauptschüler? Gebrochene Biografien?

Etwas Bizarres ist mir aufgefallen – man hat bei manchen Menschen aus den gut verdienenden Bildungsbürgerschichten eine gewisse Narrenfreiheit. Sobald sie erfahren, woher man kommt. Wenn man sich nicht an Höflichkeitsformeln hält, wird einem das nicht wie allen anderen vorgeworfen, sondern es wird Verständnis gezeigt. Man hat es ja nicht anders gelernt. Wahrscheinlich würde einem noch verziehen, wenn man kriminell wird – schließlich ist man unter anderen Verhältnissen aufgewachsen. Sie meinen es nicht böse, im Gegenteil. Aber der Umkehrschluss ist den meisten nicht bewusst: Dass ich mein Gegenüber nicht ernst nehme, weil ich bei ihm Verhaltensweisen dulde, die ich bei Menschen aus meinem Milieu nicht akzeptieren würde.

Eine Kleinstadt, irgendwo in Deutschland. Zum Abschluss einer Projektwoche an einer Förderschule lese ich aus einem meiner Bücher. Die Schüler sollen die Resultate ihrer Projektwoche vortragen. Eine Klasse aus dem Gymnasium, ebenfalls aus der Kleinstadt, hat sich angekündigt und kommt tatsächlich. Man erkennt auf den ersten Blick, wer von welcher Schule kommt. Man sieht es an der Kleidung, man hört es an der Sprache. Den Gymnasiasten ist die Frage ins Gesicht geschrieben, ob es wirklich stimmt, was sie in den Ghetto-Rap-Songs von dieser anderen Welt gehört haben. Sie haben Angst. Angst vor Gewalt, die sie abseits ihrer heilen Welt treffen könnte. Die anderen Schüler haben ebenfalls Angst. Angst, in ihrer abgeschotteten Welt von Jugendlichen, die von Anfang an auf der Gewinnerseite stehen, verlacht zu werden. Die Schüler der beiden Schulen kennen sich nicht, obwohl sie alle aus der Kleinstadt oder aus den umliegenden Dörfern kommen. Erst als die Gymnasiasten nach meiner Lesung gehen, trauen sich die Jugendlichen der Förderschule, ihre Texte vorzutragen. Man hat sich ängstlich angeschaut und beide Gruppen hoffen inständig, dass dies ihre letzte Begegnung war, wie sie mir später erzählen.

Gibt es verschiedene Welten in Deutschland? Natürlich. Gibt es Berührungspunkte? Kaum. Die einen gehen aufs Gymnasium, zur Nachhilfe, in den Tennis- oder Theaterclub – die anderen nach der Schule ins überfüllte, laute Jugendheim. ‚Wir kennen keine Gymnasiasten‘, erzählen mir Hauptschüler. ‚Ihr kennt welche‘, widerspreche ich. ‚Eure Lehrer und die Sozialarbeiter im Jugendzentrum waren früher auf dem Gymnasium.‘ ‚Das sind niemals unsere Leute‘, antwortet ein 14-jähriger Junge.

‚Alle Menschen in diesem Land haben dieselben Chancen, es gibt keine verschiedenen Welten, jeder hat die gleichen Aufstiegschancen. Einzelne müssen halt eine Faust in der Tasche machen und sich durchbeißen‘, erklärt mir ein Professor im persönlichen Gespräch, nachdem ich ihm von meinen Literaturwerkstätten in den Jugendgefängnissen und Förderschulen erzählt habe. Ich frage mich, ob er je eine Armenschule von innen gesehen hat. Ob er nur einmal in Köln-Ostheim, Düsseldorf-Garath oder in irgendeiner vergessenen Siedlung in der Provinz aus dem Auto gestiegen ist. Ob er wie ich, Bücher an Schüler zu Beginn einer Projektwoche verteilt hat, mit der Ankündigung, dass die Jugendlichen die Lektüre nach der Woche behalten dürfen, und ein paar Teilnehmer erzählten, dass das ihr erstes eigenes Buch sei.

Wer durch Massensiedlungen deutscher Großstädte geht, der riecht in jeder Ecke die Hoffnungslosigkeit. Wer Schultore zusperren und während der Pausen überwachen lassen muss, weil eine ganz reale Angst vor Drogendealern besteht, die keine Skrupel haben, ihre Ware auf dem Schulhof zu verkaufen, wer in zerpflückten Schulbüchern lesen muss, weil Geld für neue Anschaffungen fehlt, wer in Jugendzentren nur Gewalt, destruktives Verhalten und den immer wiederkehrenden gleichen Defätismus vorfindet und wer Jugendliche nur dafür bewundern kann, dass sie chancenlos in einer achten Klasse sitzen und trotzdem keine Drogen nehmen, obwohl es alle anderen in ihrer unmittelbaren Umgebung tun, dem kann man viel von Chancengleichheit erzählen. Bildungsbürgerkinder finde ich dort nie vor – logisch, wären sie vor Ort, sähen die Zustände anders aus.

Selbst wenn mancher Lehramtsstudent der Illusion nachhängt, er könne arme Schüler retten; selbst wenn sich ein Politiker in vergessene Orte traut und dort von Hoffnung und Aufstiegsmöglichkeiten erzählt: Die Menschen wissen um ihre Chancenlosigkeit. Eine Gesellschaft, die Menschen an Orten leben lässt, deren Trostlosigkeit einem die Tränen in die Augen treibt, sollte endlich eingestehen, dass sie für diese Menschen kein Interesse hat. Auflösung von Armut, Bekämpfung von Elend, Chancengleichheit für alle? Wer sich mit verlorenen Jugendlichen unterhält, verliert früher oder später den Glauben, dass jemand wirklich ernsthaft für sie kämpft.

Selbst wenn es einer der jungen Leute schaffen sollte, sein Abitur zu machen und zu studieren – kann sich einer vorstellen, was es heißt, als Kind einer ärmeren Familie unter Studenten zu sein? Denn an der Uni kämpft eine Nachwuchselite darum, unter sich bleiben zu können. Da sitzt ein Doktorsohn neben einer Lehrerstochter, die als Sitznachbarn einen Anwaltssohn hat. Setzen Sie sich mal nach der Uni als Sohn einer Drogeriekettenverkäuferin oder als Tochter einer Hartz-IV-Familie dazu. Wer wissen will, wie sich Einsamkeit anfühlt, sollte das ausprobieren. Diese Elite macht Ihnen deutlich, dass Sie weder mit Ihrer Sprache noch von Ihrer Herkunft her dazugehören. Kann man das wirklich jemandem ernsthaft empfehlen?

In einer Förderschule verteile ich in der ersten Stunde einer Literaturwerkstatt Gedichte von Heinrich Heine. Skeptisch schauen mich die Schüler an. Nach einer Weile des Schweigens meldet sich ein Mädchen verschüchtert: ‚Wir können keine Gedichte lesen, wir sind lernbehindert.‘ ‚Wer sagt das?‘, frage ich. ‚Das ist so.‘ Das passiert mir immer wieder. Lehrer bitten mich, ihre Schüler nicht zu überfordern; Schuldirektoren erklären in Anwesenheit der Schüler, ‚dass das bei denen sinnlos ist‘. Lesungen können nicht stattfinden, weil die Schulleitungen der festen Überzeugung sind, ‚dass da eh keiner zuhört‘. Ich treffe auf Jugendliche, die sich für zu dumm halten, Literatur zu verstehen, Schüler, die mir anfangs sagen, dass dies bei ihnen zwecklos sei, weil sie bestimmt die Schlimmsten von allen seien, und die mir nachher schreiben, wie toll sie es fanden.

Zum Abschluss des einwöchigen Projektes tragen vier Schüler ein Gedicht von Heine vor und einige Mädchen singen Lieder auf der Bühne, die sie selber geschrieben haben. Sie sind stolz auf ihr Können und hören zum Glück nicht den Journalisten, der mich fragt, was das denn sollte, das hätte doch gar nichts mit der Realität der Schüler zu tun. Auch diese Frage wird mir oft gestellt.

‚Wir möchten gerne eine vernünftige Aussprache lernen, Frau Günter, wie heißt das noch mal, das Wort, das ist so ein Fremdwort‘, fragt mich ein inhaftierter Junge. ‚Meinst du artikulieren‘, frage ich ihn. Er nickt. ‚Die machen sich alle lustig über uns, so wie wir sprechen, werden wir nie eine Chance haben!‘ Dann sagt ein Junge unvermittelt: ‚Die machen sich nicht über uns lustig, die äffen uns nach. Unsere Aussprache äffen sie nach, alles andere auch.‘ ‚Das stimmt nicht!‘, widerspreche ich. Sie schauen mich erstaunt an und überlegen lange. ‚Unser Leben können sie gar nicht nachmachen‘, sagt ein Junge. ‚Wer sind denn überhaupt: sie?‘, frage ich. ‚Wie war das jetzt mit dem Artikulieren, Frau Günter?‘, kontert der Junge. Alle lachen. Zwei Tage später sagt mir ein anderer Junge in der Raucherpause: ‚Die, das sind die, die nicht hier landen.‘

Stimmt das, was die jungen Menschen mir im Gefängnis erzählt haben? Zur besten Fernsehzeit werden Sendungen gezeigt, in denen Witze in der Sprache der Unterschichtjugendlichen erzählt werden. Nicht nur das deutsche Bildungsbürgertum sitzt davor und amüsiert sich köstlich. Ist diesen Leuten bewusst, dass ‚Ey Alter, isch mach dich Krankenhaus / Ich habe Bruda / Ich bin U-Bahn‘ nichts mit Spaß zu tun hat, sondern Ausdruck dessen ist, dass jemand sich nicht verbal vernünftig ausdrücken kann, und dass dieser Zustand ganz eklatant mit einer desolaten Zukunftsperspektive zu tun hat? In einer Kölner Hauptschule schaffen es gerade mal drei von sechzig Schülern, trotz Vermittlungsbemühungen prominenter Paten, einen Ausbildungsplatz zu finden. Eine Schülerin, die es aus einem ärmeren Kölner Stadtteil zu einem Ausbildungsplatz in die schicke Kölner Südstadt geschafft hat, berichtet, dass sie sich anfangs vorkam wie auf einem anderen Stern. Ein paar Kilometer von ihrem Zuhause kommunizieren die Menschen nicht nur in einer anderen Sprache, sie leben in einer komplett anderen Welt. Wäre es nicht so traurig, könnte man sagen, andere Menschen unternehmen teure Weltreisen, um fremde Kulturen kennenzulernen, dabei braucht man in Köln einfach nur eine Viertelstunde mit der Straßenbahn zu fahren, um solche Fremdheit zu erleben.

An einem Mittwoch bekomme ich einen Anruf von einem Kulturamt. Ich hatte einen Antrag auf Kostenbewilligung einer Literaturwerkstatt in einer Förderschule gestellt. Die Dame am Telefon erklärt mir, dass mein Antrag abgelehnt wurde. ‚Aber warum?‘ Die Frau zögert: ‚Wissen Sie, Frau Günter, wir konnten uns das einfach nicht vorstellen; Literatur und Sonderschule, das passt nicht. Das haben Sie aber nicht von mir!‘

Literaturwerkstätten in Förderschulen, Hauptschulen oder Jugendgefängnissen zu finanzieren, ist fast immer schwer. Viele Projekte können nicht stattfinden, weil kein Geld da ist. Ich könnte einen Aktenordner mit Absagebriefen füllen. Nicht nur einmal wurde mir nahegelegt, andere Wirkungsstätten aufzusuchen. Und es ist nicht so, dass die Kinder und Jugendlichen nicht merken würden, dass für sie kein Geld vorhanden ist. Was aber soll ein Kind denken, wenn es sieht, dass es für andere genügend Geld gibt und für es selbst nicht? Ist das keine Diskriminierung? Wie wird das Selbstbewusstsein eines Jugendlichen geprägt, der solche Ungerechtigkeiten sieht?

Es gibt, Gott sei Dank, in diesem Land Menschen, die sich um diese Kinder und Jugendliche kümmern; Behördenmitarbeiter, die Dinge bewilligen, weil sie beide Augen zudrücken und eben nicht Paragrafenreiter sind; Kirchenmitarbeiter, die selbstlos Geld für Projekte und anderes auftreiben, oder Personen, die sich denken, da läuft einiges schief in unserer Gesellschaft, da müssen wir was tun. Ich verstehe nicht, warum solche Leute halb belustigt, halb verächtlich als ‚Gutmenschen‘ abgetan werden. Wir haben diesen Menschen den sozialen Frieden in Deutschland mitzuverdanken. Und nicht einer neuen staatlichen Überwachung, größeren Polizeieinheiten und Videokameras auf öffentlichen Plätzen.

In einem Gymnasium hat eine Klasse mein Buch ‚Die Ameisensiedlung‘ durchgenommen und liest nun mit mir zusammen das letzte Kapitel: Die 15-jährige Conny ist wieder zurück in ihre von Hoffnungs- und Chancenlosigkeit geprägte Wohnsiedlung gegangen, obwohl sie die Chance auf ein vermeintlich besseres Leben hatte. Ich frage die Schüler, was mit Conny weiter passieren wird. Ein Junge sagt: ‚Sie wird einen einfachen Job haben, vielleicht als Packerin, mit wenig Geld. Das ist auch besser, weil in Deutschland Menschen leben, die nicht gut mit Geld umgehen können, und dann ist es besser, wenn man ihnen weniger Geld gibt.‘ Keiner der anderen Schüler sagt etwas und die Referendarin nickt zustimmend. Als ich weiter frage, ob Conny vielleicht einen zweiten Versuch starten wird, um ihr Leben zu meistern, wird das verneint. ‚Wer einmal da unten ist, bleibt da, weil solche Leute sich nie an Regeln halten können‘, erklärte eine rothaarige Klassenkameradin. ‚Auf ein Gymnasium könnten solche Leute nicht, weil es einfach zu schwer ist‘, steuert ein anderes Mädchen bei. Ob sie solche Leute mal gesehen haben, frage ich die Schüler. Nein. Unnötig zu erwähnen, aus welcher Schicht die Schüler kamen

Die Schriftstellerin Mirijam Günter lebt in Köln. Zuletzt erschien von ihr der Roman ‚Heim‘.

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