Streifzüge 48/2010
von Roger Behrens
„There is something real in the illusion, more real than in the reality behind it.“ Slavoij Žižek
Das Kino zeigt nicht einfach nur Fiktionen der Wirklichkeit, sondern erzeugt mit seinen Erzählungen zugleich die Wirklichkeit, die es abbildet. Es mag uns über die Wirklichkeit täuschen und mit Illusionen spielen; tatsächlich stellt sich gerade das Kino als eine Apparatur dar, die uns einen zuverlässigen Zugriff auf die Realität garantiert. Das, was wir mit einem recht diffusen Begriff als „Realität“ bezeichnen, ist heute längst erschüttert; aber nach über hundert Jahren Filmgeschichte erweist sich gerade das Kino als Ort, uns in den unheimlichen Schichten und Strukturen der Wirklichkeit Sicherheit und Orientierung zu geben.
Genau darin entfaltet das Kino seine Materialität, eine phantastische Stofflichkeit, die weit in das Bewusstsein hineinragt. Es offenbart etwas, das Žižek den „cinematic materialism“ nennt. Dieser meint, „dass wir unter der Bedeutungsebene spiritueller Bedeutung, aber auch einfacher narrativer Bedeutung eine grundlegendere Ebene von Formen an sich finden, die miteinander kommunizieren, interagieren, sich wiederholen und sich ineinander verwandeln.“ Eine „Proto-Realität“.
Žižek steht hiermit durchaus in der Linie Siegfried Kracauers, der seine 1960 erschienene „Theorie des Films“ im Untertitel programmatisch „Die Errettung der äußeren Wirklichkeit“ nannte. Deutlicher noch im amerikanischen Original: „The Redemption of Physical Reality“, denn „Redemption“ meint auch, mit religiösem Beiklang, Erlösung. Das Kino rettet oder erlöst die Wirklichkeit deshalb, weil das Filmbild gleichsam zur Probe des Realen wird und uns gerade in der Vermittlung Dinge sehen lässt, die in der unmittelbaren Konfrontation unerträglich wären.
An diesem Materialismus nimmt Žižek aber zwei Korrekturen vor: Erstens geht es ihm um die Rettung der inneren, d.h. psychischen Realität; zweitens gibt er dem religiösen Erlösungsmotiv eine gute blasphemische Wendung. Im dritten Teil von Sophie Fiennes „The Pervert’s Guide to Cinema“ expliziert Žižek dies an „Alien Resurrection“ (USA 1997): Ellen Ripley ist ein Klon; sie betritt einen Raum, in dem sie den vorherigen, missgebildeten Versionen, Monstren ihrer selbst begegnet. Žižek: „Das bedeutet, dass uns unsere vorherigen, alternativen Verkörperungen, die wir hätten sein können, aber nicht sind, dass diese Alternativversionen unserer selbst uns nachjagen.“ Diese möglichen Mutationen unserer selbst verweisen auf eine „unfertige Realität“: „Eine alte gnostische Theorie besagt, dass der Gott, der unsere Welt schuf, ein Idiot war, der es verhunzt hat, sodass unsere Welt eine halbfertige Schöpfung ist. Hier haben wir es mit der ontologischen Sichtweise zu tun, die davon ausgeht, dass das Universum unfertig ist. Das ist, glaube ich, ein sehr modernes Gefühl.“ So modern wie das Kino: „Durch diese Ontologie einer unfertigen Realität wurde das Kino eine wirklich moderne Kunst. Das Kino als die Kunst der Erscheinungen erzählt uns etwas über die Realität selbst. Es erzählt uns etwas darüber, wie die Realität sich selbst konstituiert. Sie ist voller Hohlräume, Öffnungen und Lücken. Sie ist nicht ganz real, nicht ganz fertig.“
Das unfertige Universum ist eine Wirklichkeit voller Möglichkeiten wie Unmöglichkeiten. Genau dies bezeichnet die Spannung zwischen der physischen und psychischen, der äußeren und inneren Wirklichkeit, die ohne das Kino unerträglich und gefährlich wäre. Doch das Kino geht noch darüber hinaus: Es lädt uns auch ein, diese Spannung auszuhalten, die unfertige Realität zu erkunden und mit der Unfertigkeit der Welt fertig zu werden. Das gelingt dem Kino dadurch, dass es die begriffliche Logik durch die der Bilder ergänzt: Žižek spricht von „visual terms“.
Sein erstes Beispiel ist „Matrix“ (USA/AUS 1999), nämlich die Szene, wo Morpheus zu Anderson (bzw. Neo) sagt: „This is your last chance. After this there is no turning back. You take the blue pill, the story ends. You wake up in your bed and believe whatever you want to believe. You take the red pill, you stay in wonderland, and I show you how deep the rabbithole goes.“ Und Žižek kommentiert: „Aber die Wahl zwischen der blauen und der roten Pille ist eigentlich keine Wahl zwischen Illusion und Realität. Natürlich ist die Matrix eine fiktionale Maschine, aber sie kommt aus Fiktionen, die bereits unsere Realität strukturieren. Nimmt man der Realität die regulierenden symbolischen Fiktionen, dann verliert man die Realität selbst. – Ich verlange eine dritte Pille. Was wäre denn die dritte Pille? Jedenfalls keine transzendentale Pille, die eine falsche, billige, religiöse Erfahrung vortäuscht, sondern eine Pille, die mir ermöglichen würde, nicht die Realität hinter der Illusion wahrzunehmen, sondern die Realität innerhalb der Illusion selbst. – Wird etwas zu traumatisch, zu brutal oder auch zu angenehm, dann bringt das die Koordinaten unserer Realität durcheinander. Wir müssen es fiktionalisieren.“
Diese Fiktionalisierungen, an Sequenzen aus 43 Filmen erläutert, werden selbst zu einer einzigen großen Fiktionalisierung: Žižek begibt sich zu den Originalschauplätzen berühmter Filme, gestikuliert, schwitzt, ist Teil der Szene. Wie zuvor schon in Filmen wie „Žižek!“ (USA 2005, R: Astra Taylor), „The Reality of the Virtual“ (UK 2004, R: Ben Wright) oder „Love Without Mercy“ (USA 2003, R: Miguel Abreu) ist Žižek immer schon sein eigener Schauspieler, eine unwirkliche Filmfigur. So zeigt ihn der erste Filmausschnitt in „The Pervert’s Guide to Cinema“ beim Blumen gießen im Garten. Ein gewöhnlicher Mensch, eine Fiktion, eine Lüge. Die Leinwand lässt es aber zu, hier doch eine Realität dieser Person zu zeigen, die in der Wirklichkeit gar nicht vorkommt. So endet der Film, der schließlich keiner über das Kino ist, sondern einer über Žižek, der vom Kino erzählt, programmatisch. Mit Bildern aus Tarkowskis „Stalker“ (SU 1979) erklärt Žižek die Leinwand zur Zone: „Um die Welt von heute zu verstehen, brauchen wir das Kino, buchstäblich. Nur im Kino finden wir diese entscheidende Dimension, für die wir in unserer Realität nicht bereit sind.“ Und dann die weiße Leinwand: „Wenn Du nach dem suchst, was in der Realität realer als die Realität selbst ist, dann suche in der filmischen Fiktion.“
Slavoij Žižek: The Pervert’s Guide to Cinema, Regie: Sophie Fiennes, DVD (Zweitausendeins)