Streifzüge 48/2010 – Kolumne Dead Men Working
von Maria Wölflingseder
Das „Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ wurde proklamiert. Den Wortlaut dieser Verkündigung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Jetzt soll es plötzlich eine „Anerkennung des Rechts der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen Menschen auf ein Leben in Würde und umfassende Teilhabe an der Gesellschaft“ geben? Und „das Bewusstsein für die Lage armer Menschen soll geschärft, ihr Zugang zu Rechten, Ressourcen und Dienstleistungen gefördert und Stereotype und Stigmatisierungen bekämpft werden.“ – Ich bin sprachlos.
Nachdem es seit fast 30 Jahren kontinuierlich bergab gegangen ist, wird ein Jahr gegen Armut ausgerufen? Was wird sich dadurch ändern? Ab September wird es eine Grundsicherung geben, an der nur sicher ist, dass man mitnichten davon leben kann! Eine Sicherung der elendigen Lage ist das. Wie soll damit eine „umfassende Teilhabe an der Gesellschaft“ möglich sein? Und plötzlich will man den „Kunden“ des AMS, die seit Jahren, und jenen des Sozialamtes, die bereits seit Jahrzehnten wie Nicht-Subjekte (vulgo wie der letzte Dreck) behandelt werden, „würdevoll“ begegnen? Auf diesen „Erlass“ an die Beamten und Vertragsbediensteten bin ich gespannt. Wann wird damit begonnen, die im Kundenverkehr Tätigen dahingehend zu schulen? Unter all den „überqualifizierten“ Arbeitslosen finden sich dafür sicher geeignete Lehrende. Auch AMS-Chef Johannes Kopf wird einen Intensiv-Kurs brauchen. Noch vor einem Jahr behauptete er im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Arbeitslose würden zum wiederholten Male zu Bewerbungstrainings gezwungen, weil mit ihren Bewerbungsschreiben und -strategien etwas nicht stimmen könne.
Apropos AMS-Maßnahmen und große Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen, die zur Zeit von Politikerinnen harsch kritisiert wird. Warum werden aber gleichzeitig Frauen, nur Frauen, vom AMS in so genannte Sozialökonomische Betriebe geschickt, um ein halbes Jahr lang Besuchsdienst bei alten Menschen zu absolvieren – um in einer Tätigkeit geschult zu werden, die es als Beruf überhaupt nicht gibt? Warum werden Frauen vermehrt dazu angehalten, sich auf Pflege- oder Heimhelferin umschulen zulassen? Vorsicht, in vielen Jobs, in denen Frauen in der Überzahl sind, ist die Armutsfalle bekanntlich nicht weit! Von der vielgepriesenen „diversity“, die oft im AMS-Kursprogramm steht, kann selten die Rede sein. Selbst die Piktogramme auf den Notausgangsschildern haben heute gendergerecht zu sein, aber dort, wo’s ums finanzielle Überleben geht, wird Sexismus perpetuiert – trotz gleichzeitiger verbaler Verdammung.
Zu hinterfragen gilt es auch die Zahlen: die der sogenannten „Armutsgrenze“ als auch die der als arm Eingestuften. In Österreich leben laut Statistik knapp über eine Million Menschen (12 Prozent) an oder unter der Armutsgrenze. Diese liegt bei 950 Euro im Monat. Die Summe sagt allerdings nichts darüber aus, ob man davon leben kann, sondern beziffert lediglich 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens. Bei den heutigen Miet- und Energiekosten, die für eine Einzelperson gut und gern 650 Euro ausmachen, bleiben 300 für alle anderen Ausgaben. Und mit der neuen Grundsicherung von 750 Euro bleibt einem ohnehin nur noch die Wahl, ob man lieber verhungern oder erfrieren will.
Die Zahl jener, denen „ein Leben in Würde und eine umfassende Teilhabe an der Gesellschaft“ verwehrt wird, ist jedenfalls um vieles höher, als die offizielle Zahlenspielerei besagt. Abgesehen davon wurde bis vor kurzem von Experten stets betont, genaue Zahlen über die Einkommensverhältnisse der Bevölkerung seien schwer zu eruieren. Bekanntlich hütet jeder – Reich wie Arm – das Wissen um seine finanziellen Verhältnisse wie den heiligen Gral. Selbst in der Ehe soll das (Nicht-)Wissen um des anderen Kontostand ein recht heißes Eisen sein. Woher soll also plötzlich die klare Zahl der Armen kommen?
Da werden nun zum „Jahr gegen Armut“ landauf, landab in ganz Europa unzählige Papiere Seite um Seite gefüllt, Konferenzen und Tagungen zelebriert und sogenannte „Botschafter“ werbewirksam angeheuert: Promis aus den Sparten Sport, Kultur, Wissenschaft, Bildung und Soziales, die alle einhellig erklären, wie schlimm Armut sei und dass man unbedingt etwas dagegen machen müsse (www.2010gegenarmut.at). Höchst kurios: Betroffene selbst kommen nicht vor. Ihnen wurde in der Öffentlichkeit längst die Rolle der stummen, handlungsunfähigen Opfer, die be-handelt werden müssen, zugeteilt. Demgemäß sind die einschlägigen Erfahrungen und Erkenntnisse der Autorin skurril: War ihre Analyse und Kritik von Esoterik und Biologismus seit vielen Jahren stark nachgefragt, so riss die Resonanz abrupt ab, als sie als Expertin und Betroffene über Arbeit, Arbeitslosigkeit und Armut publizierte. Die Veröffentlichung, dass auch „Überqualifizierte“ nicht vor Armut gefeit seien, würde den Bildungsmythos unerlaubterweise in Zweifel ziehen. Und die Analyse der kapitalismus-immanenten Logik, die hinter der Behandlung von Armen als Nicht-Subjekte steht, würde unser Gesellschaftssystem samt und sonders in Frage stellen. Das will doch nun wirklich niemand.
Es macht offenbar einen großen Unterschied, ob sich jemand nur der Recherche halber in die Position eines „Betroffenen“ begibt (etwa Günter Wallraff oder Barbara Ehrenreich) oder ob jemand als tatsächlich Betroffener berichtet. Erstaunlich, wie gekonnt SozialarbeiterInnen, JournalistenInnen, WissenschaftlerInnen etc. noch immer in der Lage sind, eine Trennlinie zu ziehen zwischen ihnen und den Objekten ihrer Lohnarbeit – auch wenn diese Grenze längst nur mehr fiktiv ist. Zu groß ist die Angstabwehr. Niemand will wahrhaben, dass es jeden jederzeit treffen kann. – Die Armen sind daher stumm zu halten. Via Medien werden die Betroffenen entmündigt, in dem nur über sie berichtet wird – stets im Duktus eines „Schreckgespensts“. Sie dürfen höchstens ihr Leid klagen, aber als „Experten“, geschweige denn als Gesellschaftsanalytiker und -kritiker haben sie in der Öffentlichkeit nichts verloren. Da die zugestandene Rolle unausstehlich ist, ist es mitnichten verlockend, sich zu Wort zu melden. Das Stillhalten ist somit gesichert. Gegenteilige Anzeichen sind trotz „Jahr gegen Armut“ weit und breit nicht in Sicht.