Vom totalitären Vorhaben des Kapitals

Notizen zu Jeremy Rifkins „The Age of Access“

von André Gorz

aus: Freitag 28, 6.7.2001

Der Kapitalismus hat sich gewandelt. Er gründet immer weniger, schreibt Jeremy Rifkin, auf Produktion, Vermarktung und Besitz von materiellen Gütern und greifbarem Eigentum und immer mehr auf der Vermarktung von Zeit, Erfahrungen, Ideen, Kultur. Ein epochaler Paradigmenwechsel hat sich vollzogen. Eine „neue Ökonomie“ ist entstanden, in der, so Rifkin, hauptsächlich Konzepte, Design, Wissen verkauft werden und deren materielle Vergegenständlichung vom ökonomischen Standpunkt aus immer nebensächlicher wird.

Die vielen Beispiele, mit denen Rifkin diesen Paradigmenwechsel belegt, sind beeindruckend. Doch sie erklären kaum, wie und warum es dazu kam – und worum es jetzt geht. Dass „die Spitzentechnologien die radikale Umstrukturierung der globalisierten Ökonomie erlaubt haben“, ist klar. Aber welche Zwecke verfolgt der „neue“ Kapitalismus mit dieser Umstrukturierung? Um sie zu verstehen, ist Rifkins Kapitel 3 „Die schwerelose Ökonomie“ besonders wichtig. Immer mehr Unternehmen, schreibt er, ziehen es heute vor, ihr fixes Kapital zu pachten und zu nutzen, statt es zu besitzen. (… )

Natürlich besteht das ausgelagerte fixe Kapital weiter fort. Es ist aber nicht länger Firmenkapital. Es gehört den „Partnerbetrieben“, die die Firma durch ständigen Druck dazu zwingt, ihren ArbeiterInnen Höchstleistungen zu Niedrigstlöhnen abzuringen. Eine neue, quasi feudale Arbeitsteilung entsteht dadurch. Die Firma, die selbst nichts Greifbares besitzt und erzeugt, erreicht sehr hohe Gewinne (z. B. vier Milliarden Dollar jährlich allein auf den in den USA verkauften Nike-Schuhen), während der Profit auf das gepachtete fixe Kapital natürlich niedrig ist. Die Aktien der Firma erfreuen sich eines sehr hohen Börsenkurses, während die „Partnerbetriebe“ auf der Börse meistens ignoriert werden. Arbeit – das heißt abstrakte, unmittelbare Arbeit (Nike z. B. beschäftigt 450.000 Arbeiterlnnen in Süd- und Ostasien zu Hungerlöhnen) – und fixes Sachkapital werden zu immer unwichtigeren Produktivkräften abgewertet, Intelligenz und Wissenskapital hingegen aufgewertet. Das greifbare Sachkapital der Industrie stellt in den USA kaum noch ein Drittel ihres Börsenwertes dar. Eine von Rifkin zitierte schwedische Studie kommt zum Schluss, dass der Anteil des „intellektuellen Kapitals“ der meisten Unternehmen einen 5- bis 16-mal höheren Börsenwert erreicht als das Sach- und Finanzkapital.

Die Firmen haben somit das Kunststück vollbracht, ihr „intellektuelles Kapital“ immer vollständiger vom Sach- und Finanzkapital abzukoppeln und schließlich in der „neuen Ökonomie“ nur noch als solches zur Börse zu tragen. Dafür dürfte es meines Erachtens noch einen tieferen Grund geben. Vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus ist der „Wert“ des „intellektuellen Kapitals“ nicht messbar. Seine materielle Substanzlosigkeit eignet sich ganz besonders dazu, als „von jeglichem Körper befreite Geldseele des Kapitals“ (Robert Kurz) zu gelten, als Versprechung grenzenloser zukünftiger Märkte für zukünftige Waren von nicht messbarem „Wert“, und folglich auch als Versprechung von grenzenlosen zukünftigen Kursgewinnen. Die gigantische Finanzblase, die sich seit Beginn der neunziger Jahre aus fiktiven Wertanstiegen des Aktienkapitals nährt, wird damit weiter aufgebläht und der Glauben verbreitet, dass die Börse alle wirtschaftlichen Probleme lösen und alle Menschen reich machen kann. (… )

Eigentliches „Wissenskapital“ und eigentliche „Wissensökonomie“ unterscheiden sich vom Leasing und vom Franchising dadurch, dass Wissen unmittelbar produktiv wirkt: sowohl in Maschinen oder Software gespeichertes Wissen als auch lebendiges Wissen, das sich in der Leistungsfähigkeit komplexer Arbeit ausdrückt. „Vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus“ kann die Entwicklung von Wissen als „Produktion von capital fixe betrachtet werden“ und lebendiges Wissen als Humankapital (K. Marx, Grundrisse, S. 599).

Zum Unterschied von Kunst und künstlerischem Können ist Wissen wesensgemäß immer ein Ergebnis gesamtgesellschaftlicher Zusammenarbeit und universalen Austausches und Verkehrs. Es gilt als Gemeingut der Menschheit und verlangt als solches allen zugänglich zu sein, um je nach Bedarf in besonderen Formen eingesetzt und weiterentwickelt zu werden. Seine Inhaber können es weg- und weitergeben, teilen und tauschen, ohne es dadurch zu verlieren oder zu schmälern. Ganz im Gegenteil, je mehr Menschen am Austausch und am Weitergeben von Wissen teilnehmen, umso größer wird das Wissen, zu dem jede und jeder Zugang haben kann.

Gemäß diesen Prinzipien funktionieren auch die virtuellen Gemeinschaften, die im Internet sogenannte freie Software – Systeme mit offenem Quellcode – betreiben. Die Programmiersprache, in der die Software-Programme ursprünglich konzipiert wurden (hauptsächlich der Quellcode GNU), ist allen bekannt und die Software-Programme (von Linux) können folglich von den Teilnehmern geändert, verbessert und weiterentwickelt werden. Je zahlreicher die Teilnehmer, umso größer wird der Gebrauchswert des Systems für alle. Es entsteht eine „anarcho-kommunistische Ökonomie des Gebens“, wie sie Richard Barbrooke nennt. Sie weist darauf hin, dass eine auf Schöpfung, Austausch und kooperativem Einsatz von Wissen gegründete „Wissensgesellschaft“ sich von der Logik von Waren-, Geld- und Kapitalbeziehungen befreien müsste und in radikalem Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft steht.

Aber gerade eine derartige Entwicklung der Wissensökonomie gilt es, in kapitalistischen Gesellschaften zu verhindern. Die kapitalistische Verwertung von Wissen verlangt, dass es als privates Firmeneigentum allgemein unzugänglich gemacht wird. Firmeneigene Software wird durch Patente geschützt, die Programmiersprache ist geheimgehalten, der Zugang zum gespeicherten Wissen ist zahlungspflichtig, und die Verwendungsmöglichkeiten der Software sind vorbestimmt und absichtlich eingeschränkt. Infolge der geheimgehaltenen Programmiersprache können die Benutzer des Internets die patentierte Software weder ergänzen noch eventuelle Irrtümer korrigieren. Sie sind völlig abhängige Konsumenten eines fremden, vorverdauten Wissens. Die Software-Firma bietet ihnen ständig Verbesserungen, Ergänzungen und zusätzliche Dienstleistungen zum Kauf an. Sie bezieht aus ihrem verschlüsselten Wissen eine Rente, baut sich womöglich (wie z. B. Microsoft) eine Monopolstellung auf, indem sie kleinere, komplementäre Dienstleistungen bietende Unternehmen sowie potentielle Konkurrenten aufkauft und existierenden Konkurrenten den Zugang zum Markt zu verbauen sucht. Letzteres tut sie einerseits, indem sie den Markt mit ihrem unüberbietbaren Marketing dominiert (Microsoft gibt 40 Prozent seines Umsatzes für Werbung aus und erzielt Gewinnmargen von mehr als 30 Prozent), und andererseits, indem sie ihre Software-Disketten den Benutzern schenkt. Ihr Geld verdient sie dann mit dem Verkauf von zusätzlichen Dienstleistungen und mit den Werbungsinseraten für alle möglichen Waren und Dienste, die sie in ihre Programme einschleust.

Die Vergeldlichung und Vermarktung von Wissen hat aber nicht nur kommerzielle Zwecke. Die kapitalistische Verwertung von Wissen setzt voraus, dass es, wie alle anderen Produktivkräfte und Arbeitsmittel, vom Kapital beherrscht wird und es ihm erlaubt, ein Kommando über die lebendige Arbeit weiter auszuüben. Wissen wird zu diesem Zweck zerstückelt, reduziert, individualisiert und in einer Weise vermittelt, die die Autonomiefähigkeit der Menschen beschränkt. Durch die Privatisierung des Bildungs- und Ausbildungswesens, die sich im Internet vollziehende Vermarktung und tendenzielle Monopolisierung von allen möglichen Lehrkursen sollen die menschlichen Subjekte in ihrer Lernfähigkeit, ihrem Denken, ihrer Imagination, ihren Wertvorstellungen und in ihrer kommunikativen Aktivität beherrscht und zu Kunden der privaten Bildungsindustrie gemacht werden. Die Menschen sollen ihr Wissen, ihre Kompetenzen als warenförmige Bildungsgüter wahrnehmen und folglich von den Lehrkräften, die sie für ihre (Aus-)Bildung bezahlen, möglichst nützliches und schnell verwertbares Wissen einfordern. Die Beziehung zwischen Kunde und Verkäufer soll auf diese Weise – wie dies bereits in Großbritannien geschieht – das Bildungswesen sowie auch die Politik beherrschen und bereits bei Heranwachsenden die Selbstverwertung und Selbstvermarktung zum entscheidenden Lebensziel machen.

Das geradezu totalitäre Vorhaben des Kapitals, sich der Menschen bis in ihre Denkfähigkeit hinen zu bemächtigen, und der Widerstand, den letztere gegen diese Instrumentalisierung ihrer selbst leisten, sind eine neue, zugleich diffuse und radikale Form des Klassenkampfs. Sie entwickelt sich dort, wo Wissen erzeugt, geteilt, gelehrt, bewertet, privatisiert oder vorenthalten wird. Dort, wo das Kapital es dadurch beherrscht, dass es mit Wissen den Menschen zugleich auch Unwissen und ein Bewusstsein von Unzulänglichkeit vermittelt: in den Betrieben, im Bildungs- und Ausbildungswesen.

Diese Front wird von Rifkin gar nicht erwähnt. Seine kritische Aufmerksamkeit gilt der viel breiteren Front der Alltagskultur. In Anlehnung an die Klassiker der Kritischen Theorie beschreibt er aber eingehend, wie der herrschende „Hyperkapitalismus“ alle Dimensionen der menschlichen Existenz, alle Erfahrungen, Erlebnisse und Beziehungen in kaufbare Waren verwandelt, die man von Dienstleistern und der Unterhaltungsindustrie erhalten kann und die die Lebenswelt mit Verwertungszwängen überzieht. Die von Arbeit freigesetzte Zeit schafft nicht – entgegen der herkömmlichen Meinung – „Raum für die Entwicklung der Einzelnen daher auch der Gesellschaft“, sie wird vielmehr vom Kapital kolonisiert und den Menschen von der Freizeitindustrie als Kulturware und Unterhaltung verkauft. Die Freizeit- und Kulturindustrie beschlagnahmt den öffentlichen Raum, verwandelt kulturelles Gemeingut in standardisierte, triviale Kulturwaren. Herbert Marcuse nannte dies „repressive Entsublimierung“. Nicht-Arbeitszeit ist folglich nicht mehr Zeit für Muße, Besinnung, Genuss und freie Selbsttätigkeit. Sie steht selbst unter Zeit- und Verwertungsdruck, insofern es gilt, vom Geld, das man der Freizeitindustrie für sie gezahlt hat, so gut und schnell wie möglich zu profitieren. Noch nie, bemerkt Rifkin, war die unmittelbare Arbeitszeit so kurz und noch nie standen die Menschen dennoch unter so starkem und permanentem Zeitdruck.

Gerade weil die Nicht-Arbeitszeit einen wachsenden, bereits überwiegenden Teil der Lebenszeit umfasst, kann das Kapital seine Herrschaft nur dadurch aufrechterhalten, dass es den lnhalt der Nicht-Arbeitszeit bestimmt. Es muss die Menschen davon abhalten, sich in ihrer freigesetzten Zeit dem Verwertungszwang zu entziehen und Formen alternativer Gesellschaftlichkeit jenseits der Geld- und Warenbeziehungen zu entwickeln. Freizeit- und Unterhaltungsindustrie, Werbung und Marketing haben nicht eine bloße kommerzielle Funktion. Sie bestimmen Meinungen, Einstellungen, Verhaltensweisen, Selbstbilder, Lüste, Bedürfnisse, Geschmack; ihre Funktion ist ästhetisch-kulturell, sie erzeugen geradezu die Individualitäten, die den Verwertungszwang, den Konkurrenzkampf, die Neigung zum Konsum, zur Selbstvermarktung und zur modischen Selbstinszenierung verkörpern. Sie sind strategische Machtinstrumente.

Wie sehr den Geldmächten daran liegt, die Menschen bis in ihre geheimsten Phantasien in den Griff zu bekommen, geht daraus hervor, dass die Firmen der Unterhaltungsindustrie ein Kartell bilden, das sich, mit der Unterstützung des restlichen Big Business, alle Frequenzen des elektromagnetischen Spektrums aufteilt, sie aufkauft und die ganze Menschheit zum exklusiven Konsum US-amerikanischer Fernsehprogramme und Filme zu zwingen sucht. „Es geht hier“, wie Rifkin den Medienhistoriker Ben Bagdikan zitiert „um den Besitz der Macht, nahezu jeden Mann, jede Frau und jedes Kind… mit kontrollierten Bildern und Worten zu umzingeln, jede neue Generation von Amerikanern zu sozialisieren, die politische Tagesordnung des Landes zu verändern. Und mit dieser Macht geht die Fähigkeit einher, einen Einfluss auszuüben, der größer ist als der von Schulen, Religionen, Eltern und sogar des Staates.“

Rifkin befasst sich kaum mit dem Widerstand, den diese totalitäre Kontrolle hervorruft: mit den zahlreichen sozialen und kulturellen Bewegungen, der Suche nach alternativen Lebensstilen, dem Kampf um Selbstbestimmung in und außerhalb der Arbeit, den neuen Alltagssolidaritäten und „Welt-Bürgerbewegungen“, die früher oder später in politische Machtkämpfe und Bündnisse münden müssten, in Aktionen, die die herrschende Gesellschaft auf allen Gebieten infrage stellen.

Rifkin findet schließlich den Ansatz für eine Radikalisierung seiner Kritik bei dem kanadischen Gesellschaftstheoretiker Crawford MacPherson. Dieser weist darauf hin, dass beim gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte das wichtigste Recht nicht mehr das Recht auf Privateigentum ist, sondern das Recht eines jeden, nicht vom Genuss von Ressourcen ausgeschlossen zu sein, die die ganze Gesellschaft zusammengetragen hat. Diese Ressourcen sind ein Gemeingut, zu dem alle das Zugangsrecht haben. Sie umfassen Wissen, Bildung, Umwelt, Saat- und Erbgut, an denen kein privates Eigentum zulässig ist. Der Staat, fügt Rifkin hinzu, hat die Aufgabe, jedem den Zugang zu den territorialen und virtuellen Netzwerken zu garantieren, in welchen die Menschen sich verständigen und ihren wirtschaftlichen und kulturellen Austausch betreiben.

Rifkin fragt sich allerdings, ob in einer global vernetzten Wirtschaft die Staaten dazu noch die Macht haben. Er lässt die Frage offen. Wo es um Macht geht, kann nur politisches Handeln weiterhelfen. Dessen Subjekte sind die Staaten schon längst nicht mehr. Um sich den „Gesetzen“ des Marktes, der WTO und des globalisierten Finanzkapitals zu widersetzen, müssen sie sich in transnationale Akteure verwandeln. Allein neue internationale Institutionen können sowohl nationales als auch globales Gemeingut geltend machen und es der Logik von Waren- und Geldbeziehungen entziehen. Diesen Wandel zu erzwingen, ist das Vorhaben global vernetzter sozialer Bewegungen.

Ungekürzte Fassung in: Widerspruch 40, Zürich 2001. Wir danken für die Nachdruckgenehmigung

André Gorz ist französischer Sozialtheoretiker, Philosoph und Autor vieler kritischer Überlegungen zum Ende der Arbeitsgesellschaft. Zuletzt erschien „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ (1997).

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