von Tomasz Konicz
Überlebensdroge oder letzte Ölung? Staaten erzeugen Nachfrage auf Pump, um Kapitalismus zu retten. Risiken und Nebenwirkungen werden in Kauf genommen
Schlimmer geht’s immer: Laut aktuellen Berichten könnte das griechische Haushaltsdefizit noch höher ausfallen als bislang erwartet. (Allerdings steht Athen damit nicht allein.). Ende vergangenen Jahres mußte die neugewählte Regierung eingestehen, daß die bisherigen Angaben manipuliert waren (siehe jW vom Donnerstag). Mit 12,7 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) sei der Fehlbetrag doppelt so hoch wie von der abgewählten konservativen Regierung nach Brüssel gemeldet. Die Gesamtverschuldung des Landes liegt inzwischen bei 125 Prozent des Jahres-BIP. Ratingagenturen reagierten auf den Bilanzschwindel mit Herabstufung der Kreditwürdigkeit des Landes. Am Dienstag erklärte die EU-Kommission, das griechische Haushaltsdefizit könnte noch größer ausfallen »als bisher erwartet«. Das Statistikamt in Athen arbeite »ineffektiv« und sei »anfällig für politische Einmischungen«.
Rekordverschuldung
Nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus haben sich die Staaten in so kurzer Zeitspanne dermaßen verschuldet wie seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2007. In der EU weisen Spanien, Großbritannien und Irland ein ähnlich hohes Defizit aus wie die klammen Hellenen. Die Verschuldung der USA ist gigantisch. Da scheint die BRD fast solide – obwohl Bund, Länder und Kommunen in den ersten drei Quartalen 2009 durch neue Kredite in Höhe von nahezu 100 Milliarden Euro das Defizit gegenüber dem Vorjahreszeitraum versechsfacht hatten.
Die Ursachen dieser Entwicklung sind zumindest in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems vergleichbar. Die Rezession führte zu verminderten Steuereinnahmen, während hektische Maßnahmen zur Stabilisierung des Finanzsektors und Konjunkturprogramme die Ausgaben in die Höhe schnellen ließen. In den USA wurde allein zwischen Oktober und November 2009 ein Minus von nahezu 300 Milliarden US-Dollar registriert. Das Manko im abgelaufenen Haushaltsjahr 2008/2009 betrug rund 1400 Milliarden Dollar – bisher lag die annualisierte Rekordverschuldung des Landes bei etwa 400 Milliarden.
Die vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) auf gut 3000 Milliarden US-Dollar geschätzten Konjunkturprogramme (rund 4,7 Prozent des Welteinkommens) haben einen Absturz der Wirtschaft zumindest vorläufig verhindert. Die staatlich erzeugte Nachfrage entspricht aber auch neuen Verbindlichkeiten in derselben Höhe. Hinzu kommen die weitaus größer dimensionierten Rettungs- und Stützungsprogramme für die Finanzmärkte. Allein in den USA haben diese ein Volumen von 23700 Milliarden Dollar. Sobald die damit initiierte Spekulationsblase platzt, wird ein Großteil dieser Bürgschaften für den Finanzsektor fällig, Staatsbankrotte inklusive. Auch die BRD-Regierung hatte einen 480 Milliarden Euro teuren »Rettungsschirm« in Form staatlicher Bürgschaften für den heimischen Finanzsektor aufgespannt.
An der Peripherie Europas sehen sich bereits einige Volkswirtschaften mit einem drohenden Staatsbankrott konfrontiert: Die Ukraine, Lettland, Ungarn, Rumänien, Serbien und Belarus mußten vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der EU-Kommission mit milliardenschweren Notkrediten vor drohender Zahlungsunfähigkeit bewahrt werden. Doch wie Griechenland zeigt, kommt die Krise flott voran.
Staatsbankrotte
Nun taumeln Staaten, die schon seit Jahrzehnten Mitglieder der EU sind. So mußte auch Spanien eine Herabstufung in Sachen Bonität hinnehmen. Im als superstabil geltenden Österreich sorgten Äußerungen des US-Ökonomen Kenneth Rogoff für Aufregung, denen zufolge die Alpenrepublik vom Bankrott bedroht sein könnte. Dortige Banken hatten viel Geld in Osteuropa ausgeliehen, Geld, das auf absehbare Zeit nur zum Teil oder gar nicht zurückgezahlt wird. Bei einer erneuten Verschärfung der Krise müßte Wien dafür bürgen. Auch Japan scheint nun an seinen gigantischen Schulden zu ersticken. Die Verbindlichkeiten der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt sollen in diesem Jahr 227 Prozent des BIP erreichen, die hauptsächlich gegenüber den eigenen Bürgern bestehen. Inzwischen ist jedoch die Sparquote der Bevölkerung von 14 Prozent des BIP 1990 auf nur noch zwei Prozent gefallen. Nachfragekapazität für weitere Staatsanleihen gibt es kaum noch.
Zugleich werden international neue Konjunkturprogramme gefordert. Der bisher erreichte Aufschwung sei nicht »selbsttragend«, bemerkte beispielsweise das deutsche Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung Anfang Januar. Auch im höchsten Gremium der US-Notenbank wurden bei dessen letzter Sitzung im Dezember Forderungen nach weiteren Korrekturmaßnahmen für die US-Wirtschaft laut.
Damit werden zugleich die Ursachen der öffentlichen Verschuldungsorgie deutlich. Die Staaten schlüpften in die Rolle der Finanzmärkte und der inzwischen klammen US-Konsumenten. Diese hatten zuvor die Nachfrage auf Pump angeheizt. Nun wird versucht, den Aufschwung auf Kreditgrundlage (Defizitkonjunktur) per Steuergeld anzuheizen. Die jahrzehntelang unter einer systemischen Überproduktionskrise leidende Weltwirtschaft wurde so am Leben erhalten. Ohne Verschuldung kann der Kapitalismus schlicht nicht mehr funktionieren. Ob er mit ihr weiterwurschteln kann, bleibt abzuwarten, denn Griechenland ist überall.
aus: Junge Welt, 14. Januar 2010