Oder: Wolf Lotter untersucht den Kapitalismus
malmö 35, 2006
von Andreas Exner
Suchte SPD-Chefzoologe Müntefering „Heuschrecken“ vergangenes Jahr noch in entlegenen Börsenbiotopen, so fand sich der arbeitsfromme ÖGB 2006 schon mitten unter ihnen. Dies kam überraschend. Wie kann das sein, so fragten viele. Doch war diese Entdeckung wirklich so absonderlich? Machte der BAWAG-Skandal nicht lediglich offenbar, dass eine Position, die mit Predigt und Moral dem Kapitalismus kontern will, bestenfalls für Sonntags taugt? Dass der Hund im ÖGB sehr tief begraben liegt, zeigte allein schon, wie mit der Affäre umgegangen wurde. Eilfertig wurden „Schuldige“ präsentiert, die Köpfe rollten. Über die strukturellen Aspekte der Misere mochte sich jedoch kaum jemand einen Kopf zerbrechen.
Doch die Gewerkschaft kann auch anders, schien es. Ist das Andere noch möglich? – so fragte schon im Juni mutig das GEDIFO anlässlich seiner Veranstaltung Numero 23 selben Titels. Das GEDIFO ist eine Art Think Tank und die Abkürzung für das „gesellschaftspolitische diskussionsforum“, das der Verband Österreichischer Gewerkschaftlicher Bildung 2000 gemeinsam mit der Arbeiterkammer Wien gegründet hat. Ist das möglich? – so musste sich allerdings sogleich der Autor dieser Zeilen fragen, als er den Folder zum 23. GEDIFO in die Hand bekam. Allen Ernstes, ja: Die Einladung hob an mit einer Laudatio für Wolf Lotter. Sie haben von Lotter noch nicht gehört? Dann wird’s aber Zeit. Lotter schreibt nämlich für das Wirtschaftsmagazin brand eins.
Er hatte dort im März einen Text publiziert, der den Veranstaltern des GEDIFO Lob in den höchsten Tönen aus den Tasten trieb. „Anregend und ermunternd“, frohlockte das GEDIFO, „eine kräftige Gegenstimme zum medialen Gleichschritt“. Soeben war der ÖGB in trübe Tiefen abgetaucht, da stürmte Wolf Lotter den hellen Himmel theoretischer Einsicht. Das Ergebnis zierte ein Schwerpunktheft zum Thema „Kapitalismus“, einem System mit „mehr Geld als Verstand“, wie brand eins zum Besten gab. Das Blatt ist hardcoreliberal, Lotter dortselbst Redakteur. Des Textes Titel heißt: „Das Lebensmittel“. Lotter meint das Kapital. Damit freilich nicht genug. Die „kräftige Gegenstimme“ beglückte das Event des GEDIFO auch mit dem Hauptreferat. „Neue Navigation. Wie bestimmt man den Kurs? “ fragte Lotter in die – orientierungslose? – Runde.
Was hat Lotter auf der Platte? Nicht eben viel – nachzulesen unter www.brandeins.de, Heft 03/06. Das Beste in Lotters Text sind ein paar Marx-Zitate. Unternehmern über 50 laufen dabei eventuell ein paar wohlige Schauer über den Rücken. Den Beginn des Kapitalismus halluziniert Lotter auf Schafweiden „vor rund 10.000 Jahren“ und schwadroniert davon, dass Geld kein Selbstzweck ist – da sei Wolf Lotter vor! -, sondern „bessere, schönere, nützlichere Produkte“ fördere und damit, hier gibt’s nichts zu lachen, „eine bessere Welt“. Frei à la Müntefering schimpft Lotter – neudeutscher Busenfreund der „ehrlichen Arbeit“ (so der Titel eines Interviews mit Stahlunternehmer Großmann im selben Heft) – dabei auf die „Abzocker“. Er tauft sie auf den Namen „Lumpenkapitalisten“ und wirft sich selbst lieber für die „Realwirtschaft“ in die Bresche. „Kapitalisten“ heißt Lotter „sozial“, „Lumpenkapitalisten“ hingegen denken nur ans Geld und er nennt sie deshalb – erraten – „asozial“. Laut Lotter droht das „Ende des Kapitalismus“. Das Ende kommt vom „Innovationsstau“, den der Staat befördere. „Das verschreckte Kapital macht dann lieber in Geld statt in Werten“, schreibt der kapitale Weltverbesserer – wirr, aber unerschrocken. Um es kurz zu machen: Dümmlicher ist eine Affirmation von Warenproduktion und Verwertung derzeit nicht zu haben.
Bleibt nur die Hoffnung, dass die Gewerkschaften über größere analytische Fähigkeiten verfügen als brand eins. Allzu schwierig sollte dies nicht sein. Nicht weniger als „unumgänglich notwendig“, so meinte GPA-Bundesgeschäftsführerin Dwora Stein in einem Posting auf der Website der AK (www. arbeiterkammer. at, Abruf 29.10. ), sei eine „tiefgreifende inhaltliche Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der Gewerkschaftsarbeit“. Denn als „eine weitere Ursache für die Krise“ des ÖGB sieht Stein „ein Theoriedefizit in der Gewerkschaftsbewegung“. Dem ist wohl so. Die Behebung dieses Defizits lässt indes auf sich warten. Stattdessen darf Theorie-Hecht Lotter auf Rechnung des GEDIFO Unterricht in Sachen „Navigation“ erteilen. Eine Stunde lang bestimmte Lotter immerhin den „Kurs“. Dwora Stein beschloss das 23. GEDIFO dagegen mit 30 Minuten „Zukunftsperspektiven“. Der Weg aus der Krise ist noch lang.