Die ganze Küche

Solidarische Kritik der Studi-Demo in Graz vom 5.11.2009

von Andreas Exner

Studierende riefen auf zur Demo. Man fand sich also ein. Rund 4.000 Leute nahmen teil. In Graz.

Anders als gemeinhin angenommen, haben Demos eine doppelte Funktion. Zum Einen sollen sie die Aufmerksamkeit der offiziellen Politik auf ihre Anliegen lenken. Das gelingt zumeist nur, wenn erstens viele daran teilnehmen und zweitens die Medien darüber berichten. Schon dieser Zusammenhang ist alles andere als clearcut.

Zum Anderen funktionieren Demos als ein Event für und durch die Bewegten. Man spürt den Schauer im Rücken, wenn der Demowagen anfährt; pumpende Bässe, dröhnende Funkgirlanden; tanzwild schreit sich’s Parolen leicht; öffnet Herz und Geist; oder man geht einfach in der Menge, guckt sich um wer noch da ist, zählt im Geist die Verbündeten und solche der gleichen Wellenlänge; betrachtet, was sich die einen auf Fahnen, die andern auf die Jacken heften; grüßt Freundinnen und Freunde; lernt neue Leute kennen.

Eine Demo ist ein Fest.

Es dient der Selbstvergewisserung einer Bewegung.

Und ist deshalb Zeichen ihres Bewusstseins.

Wer schon öfters auf Demos war, erlebt regelmäßig Deja-vus. Das beginnt beim Demoaufruf. Der in Graz scheint von finanzverliebten Alternativbudgetiers verfasst zu sein. Nicht die Leidenschaft für ein gutes Leben, die Phantasie des Möglichen, die Urgenz des Nötigen springt einem da ins Aug, sondern ein “Ang’fressn” gleich ganz zuerst. Reaktion statt Aktion. Abgespeist statt zubereitet. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Man meckert, dass zu wenig Salz drin ist oder kein Würstel. Die Küche bleibt außen vor.

So liest sich das im Aufruf:

“Wir sind ang’fressn. Während für Banken und Konzerne Milliarden aufgebracht werden, wird an unserer Bildung, an unserem Sozialsystem, an unserer Gesundheit, an unseren Löhnen und Gehältern, an unseren Pensionen gespart.”

Falsch ist das nicht, richtig aber auch nicht. Was hätte ein 1968er gelacht, hätte er den “Ang’fressenen” spielen müssen. Und hat er rebelliert, weil für Banken Milliarden, für’s Spital aber Peanuts aufgebracht wurden? Natürlich nicht. Schief ist hier nicht die Lage des Kapitalismus, sondern einfach der Aufruf selbst, der aber fährt unverdrossen fort:

“Das ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Schieflage. Profitinteressen zählen mehr als menschliche Bedürfnisse.”

That’s capitalism, folks. Und ganz einfach deshalb: Weil in einer Geldwirtschaft mehr Geld immer besser ist als gleichviel Geld. Und weniger Geld ist eine Katastrophe. Menschliche Bedürfnisse zählen in dieser Produktionsmanier gar nichts, nicht einfach weniger. Was zählt ist der Profit. Ein Mindestmaß an Befriedigung von Bedürfnissen ist Voraussetzung, nicht aber Ziel. Die Apparatur des Sozialstaats, den die Aufrufenden kurzschlüssig mit den menschlichen Bedürfnissen in eins setzen, wie das Papier in Folge zeigt, steht dem Profitmotiv mitnichten entgegen. Der Sozialstaat hängt ab vom Profit und stellt ihn erst auf Dauer.

Und das geht so: Jedes Element des Sozialstaats existiert, weil das Kapital und der ihm entsprechende Staat ab einem gewissen Punkt erstens die gegen absolute Verelendung sichern müssen, die sie ausbeuten wollen; zweitens aber auf ihren Konsens angewiesen sind. Und den bekommt das Kapital ab dem Punkt, ab dem ein Arbeiter den Schrotthaufen, den er fabriziert, mehr liebt als selbstbestimmtes Tun, und die Angestellte ihren Job mehr liebt als ihre Freiheit. Je drückender die Produktion, desto wichtiger der Konsum. Sozialstaat eben.

Woher aber bekommt der Staat die Mittel für derlei Generosität? Klarerweise aus der kapitalistischen Produktion, der Verwertung abstrakten Werts. Gleich ob er Warenkonsum, Löhne und Gehälter oder Profite besteuert, immer hängt sein Einnahmenstrom ab von der Reproduktion des Kapitals. Geht die Akkumulation des Kapitals zurück, schaut auch der sozialste Staat durch die Finger und sieht sich der gesellschaftlichen Unruhe, der Revolte und der Rebellion, die zu vermeiden seine Funktion, blank ausgesetzt.

“Um daran etwas zu ändern”, so der Aufruf weiter, “brauchen wir einen Schulterschluss zwischen Studierenden und Arbeitenden, SchülerInnen und Arbeitslosen, PensionistInnen, BäuerInnen, prekär Beschäftigten und vielen Anderen.”

Nachdem die kritisierte Schieflage den Kapitalismus gerade ausmacht, der aber – als ein Zusammenhang von Lohnarbeit, Geldwirtschaft und Staat – im Aufruf keine Kritik erfährt, fragt man sich, ob der eingeforderte Schulterschluss wirklich das bringt, was eigentlich erfordert ist. Er suggeriert ja eine Front, die sich klar zwischen Studierenden und Arbeitenden und irgendeinem ihnen allen äußerlichen Etwas abzeichnen würde.

Aber was soll dieses Etwas sein? Das Kapital ist es nicht, denn der Arbeiter, der seine Haut verkauft wie ich mich im Büro, ist Teil des Kapitalverhältnisses. Die Lohnarbeit, Abhängigkeit vom Verkauf meiner selbst, ist nur die Umkehr der Beziehung, die man als das Kapital bezeichnet. Wer das Kapital nicht will, will sich selbst nicht als eine Arbeiterin, Angestellte, Studierende, die für diesen Zweck erst hergerichtet werden muss, mit Wissen ausstaffiert, mit Eigentätigkeit, damit ihr das alles noch recht lustig vorkommt und sie ihre Karrierechancen darin selbstständig als läg’s ihr im Blut wittert und gegen all die anderen auch durchsetzt; will sich selbst nicht als eine Charaktermaske, die das tut, was das Skript Arbeiten-Konsumieren-Arbeiten festschreibt, sondern will sich selbst und die und den anderen hinter den Masken.

Hier begänne eine Kritik der Universität. Hier begänne eine Kritik der Verhältnisse, unter denen die Studierenden leiden. Nichts davon im Aufruf.

Stattdessen: mehr vom Gleichen.

Arbeit, Geld, Staat.

Wui. Klingt echt geil.

Sorry für den Sarkasmus, aber wer schon seit den 1990er Jahren auf Demos geht, hat schon viele solche Deja-vus erlebt. Ein Erlebnis, das auch einer der Redner bei der Eröffnung der Demo angesprochen hat. Was solle er dieser Demo hier empfehlen, dieser Bewegung, als einer, der schon vor so vielen Jahren solche Demos eröffnet, solche Bewegungen gesehen hat.

Tja, was soll eins dazu sagen? All diese Demos haben nichts bis nicht viel bewirkt. Es lohnt daher explizit der Frage nachzugehen, was sich hier im Kreis dreht, nicht von der Stelle kommt, die Bewegung als eine Bewegung der wirklichen Veränderung ganz offenbar und entgegen ihrer flammenden Intention blockiert.

Im Grunde, so meine These, machen Proteste keinerlei Perspektive auf, solange sie nicht dahinkommen, die Kriterien der herrschenden Ordnung deutlich zu hinterfragen. Das tun die Studierenden bis dato lediglich implizit. Die Demo selbst ist ein Zeichen dafür.

“Bildung ist ein Menschenrecht, keine Ware” – heißt es auf einem Flugblatt mit Demo-Slogans. Ja, aber warum ist dann ein Leben ohne den Zwang sich zu verkaufen, kein Menschenrecht? Warum soll ausgerechnet Bildung keine Ware sein, wenn der Mensch längst schon eine Ware ist? Wenn wir gegen die Ware sind, dann richtig. Die Bildung wird zu einer Ware, weil sie der Herstellung einer Ware dient: der Ware Arbeitskraft.

Einer der bezeichnendsten Rufe auf der Demonstration war wohl jener, der skandierte: Freie Bildung ist nicht viel… und das sei, was man verlange. – Will man die Macht der Bewegung stärken, indem man sich extra klein macht? Warum fordert man just nicht viel? Das ist nicht einmal am Bazar von Istanbul oder am Naschmarkt eine gute Taktik, geschweige denn in einer politischen Auseinandersetzung. Gar nicht zu reden vom Anspruch der Emanzipation von Verhältnissen, die einen schon um Selbstverständlichkeiten, eine kleine Verringerung der geistigen Armut und des sozialen Elends betteln lassen, indem man sich erniedrigt.

Fast hat man den Eindruck, dass die Studierenden sich ihre eigenen Möglichkeiten selbst abschneiden.

Nicht weil sie zuwenig nachdenken, sondern weil sie zuviel nachdenken. Dem spontanen Blick ist überhaupt nicht einsehbar, warum Universitäten Leute einpferchen müssen, wenn Gebäude in Masse leerstehen. Es ist auch alles andere als einsichtig, warum nur produziert wird, wenn Profit dabei herausschaut, wenn es genug zu tun gibt und alles, was wir stofflich-konkret dafür brauchen, ausreichend zur Verfügung steht. Und ebenso wenig enthüllt sich dem unbefangenen, theoretisch unverbildeten Verstand, warum Wirtschaft wachsen, der Staat wettbewerbsfähig und die Universität daher unter dieser beiden Knuten existieren muss.

Klar, ich plädiere nicht für Theorielosigkeit, ganz im Gegenteil. Worauf ich hinauswill ist vielmehr: Wir lassen uns noch viel zu sehr vom herrschenden Denken, das nicht nur das Denken der Herrschenden ist, sondern vor allem unser eigenes Denken, das uns beherrscht, vorschreiben, was machbar sei und was nicht, was denkbar sei und was nicht, was wünschbar ist und was nicht gewünscht werden darf, nicht weil es nicht umgesetzt werden könnte, sondern schlicht und borniert, weil es nicht finanzierbar ist.

Es geht nicht um einen Schulterschluss gegen das Kapital, sondern um die Entdeckung, dass wir das Kapital unentwegt selbst produzieren. Und deshalb auch in jedem Moment abstellen, überwinden, überschreiten können und im Fall einer Bewegung, die anwächst, sich ausdehnt, die beginnt, sich selbst zu überschreiten und die Menschen darin beginnen, sich wechselseitig zu unterstützen, also in großem Maßstab zu kooperieren, als ein gesellschaftliches Verhältnis selbst hinter uns zu lassen in der Lage sind.

Der beste Spruch, so scheint’s, entspringt gerade dann, wenn nicht groß nachgedacht wird.

Gute Bildung, schönes Leben, sollte es für alle geben!

Das stand auch auf dem Flugblatt mit den Slogans.

image_print