1978

Streifzüge 43/2008

KOLUMNE Rückkopplungen

von Roger Behrens

„Jahreszahlen ihre Physiognomie geben“, nannte Walter Benjamin einmal die Methode seines kritischen Projektes einer Konstruktion der Moderne. Ihm ging es um einen materialistischen Begriff von Geschichte, der die Dialektik einbegreift, dass Geschichte selbst und ihr Begriff nicht mehr zu halten sind; mit anderen Worten um die Frage, wie sich überhaupt Gegenwart begreifen, Vergangenheit retten und Zukunft denken lässt. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts führte dies Benjamin ins neunzehnte Jahrhundert: Die bürgerliche Gesellschaft erscheint in einem Zustand des Traumschlafs, der sich im zwanzigsten Jahrhundert in einen Alptraum verwandelt – zwei Weltkriege und systematischer Massenmord geben dem den grausamen Ausdruck. Die Geschichte selbst erscheint als ein „zum Himmel wachsender … Trümmerhaufen“, wie Benjamin in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ notiert – eine „Dialektik der Aufklärung“, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer es 1944 programmatisch im Titel ihrer Gemeinschaftsarbeit fassen. Im Zentrum steht eine ubiquitäre Kulturindustrie, das heißt eine kapitalistische Wertvergesellschaftung, die sich mittlerweile auf alle sozialen Bereiche, vor allem „die Kultur“, ausgedehnt hat.

Dazu oder dagegen kann die Popkultur, die sich mit den fünfziger Jahren etabliert, als Neuanfang der Moderne verstanden werden – ein Bruch mit der Vergangenheit als beständige Aktualisierung der Gegenwart als Zukunft. „This is Tomorrow“, heißt die Pop-Art definierende Ausstellung in London 1956, bei der die Independent Group amerikanische Massenkultur zeigt: Filmplakate, Comics, eine Musicbox. Zur selben Zeit etabliert sich der Rock ’n‘ Roll und der Soul: Klangfiguren der neuen Leitkunst Musik, deren Ästhetik aber durch das Visuelle dominiert wird, besonders durch den Film und die Reklame, allgemein durch das, was Guy Debord später, 1967, als Spektakel bezeichnen wird. Die Kritik der Geschichte als lineares Kontinuum, wie Benjamin sie in seinen Thesen forderte, scheint nunmehr merkwürdig wahr und wirklich geworden zu sein – Stagnation und Fragmentierung markieren ein mögliches Ende der Geschichte, einen Zustand des Posthistorie. „Geschichte“ ist – und dafür ist die gesamte Popkultur signifikant – durch einen anderen Modus zeitlicher Dynamik ersetzt worden: durch die Mode.

Popkultur bezeichnet jenes Stadium der bürgerlichen Gesellschaft, wo sich U nicht mehr gegen E verteidigen oder behaupten muss; anders gesagt: Popkultur ist nicht auf eine historische Rechtfertigung gegenüber der Hochkultur angewiesen, wie es für die Massenkultur noch nötig war. Das heißt umgekehrt: Die Historisierung der Kultur, die sich im Namen der Kulturgeschichte vollzieht, ist für die Popkultur ein überflüssiges Unterfangen: Das historische Material der Popkultur geht eben vollständig in der Mode und ihrer zyklischen Struktur auf. Gleichzeitig scheint es aber, als könne heute „Geschichte“ überhaupt nur noch über die Popkultur oder als Popkultur legitimiert werden: Einschneidende Ereignisse sind dabei die Fernsehserien „Holocaust“ und „Roots“ – beide werden Ende der Siebziger ausgestrahlt. Konterkariert werden sie von einer durch und durch popkulturindustriellen Konstruktion von Biografie: Zur selben Zeit kommen die großen Familien-Serien ins Fernsehen, zunächst „Dallas“, dann „Denver-Clan“. Im Kontrast zu solchen ideologischen Groß- und Grobmustern von Familie, Familiengeschichte und Geschichte steht die reale Tendenz der Individualisierung in den Siebzigern.

Für diese Zusammenhänge bildet das Jahr 1978 eine Art „kulturelles Schaltjahr“, eine Epoche im wörtlichen Sinne: eine Leerstelle, einen Nullpunkt, einen Höhepunkt. Zunächst trivial-gematrisch: 1978 liegt genau in der Mitte der Phase der Popkultur – zum Anfang und Ende, bis 1955 und bis 2001 sind es jeweils 23 Jahre. Und bis 1978 entfaltet sich, was seit 1978 zusammenfällt. Tatsächlich konzentrieren sich im und um das Jahr 1978 zahlreiche popkulturelle Phänomene, die für die spätbürgerliche Warentauschgesellschaft höchst signifikant sind: Parallel zu dem, was als Transformation vom fordistischen zum postfordistischen Produktionsparadigma beschrieben wurde, sind die Endsiebziger zunächst durch den Übergang von der Moderne zur Postmoderne gekennzeichnet, worin die charakteristische ideologische Matrix dieser Epoche ihren Ausdruck findet (Lyotard veröffentlicht 1979 seinen Essay „Das postmoderne Wissen“). Die ambivalente Dynamik von Pop versus Rock kulminiert in Disco und Punk – Stile, die zugleich das Ende vom Stil markieren. Pop verallgemeinert sich zunehmend in einer Vielfalt besonderer Genres: Aus Punk wird Postpunk und Hardcore (die Sex Pistols lösen sich auf, aber die Dead Kennedys gründen sich und Crass veröffentlichen ihr erstes Album); diffus reklamiert die Popkultur die New Wave; und parallel dazu gibt es eine New Wave of British Heavy Metal; erstmals ist von HipHop und Rap die Rede. Am Rand des Popfeldes finden sich Industrial, EBM, aber auch kuriose Übergänge zum Jazz und zur E-Musik.

Gerade in diesem Augenblick, der wie alle sozial wirkmächtigen erst noch dunkel ist, kristallisieren sich unzählige Versuche, Geschichte zu erzählen, Geschichte zu machen, Geschichte zurückzugewinnen, Geschichte zu retten. Das Problem ist eines von Ideologie: Die Versuche bleiben ihrem Wesen nach – ganz postmodern – auf die gesellschaftliche Oberfläche beschränkt: Pop als Strategie einer kulturellen Apologie der Verhältnisse, die schließlich auf die Kultur beschränkt bleibt, als bloß hämischer Ausdruck eines euphorischen „So soll’s sein! „. Gerade eine historisch-materialistische Physiognomie des Jahres 1978 gibt indes etwas anderes frei: die Möglichkeit radikaler Veränderung, die hier erstmals, aber auch einzigartig in der Popkultur sich abzeichnete.

P. S. – Kanonisierung ist die billige Variante einer Historisierung der Popkultur, die an ihrer eigenen Geschichte scheitert. In zahlreichen Projekten wird seit einigen Jahren versucht, diesen Kanon als (Pop)Geschichte zu definieren. Einen Anfang hat die Süddeutsche Zeitung mit der Reihe >Ein Jahr und seine zwanzig Songs< gemacht; sie startete mit dem Jahr 1978... dem Jahr, in dem Punk die negative Geschichtsphilosophie eines "No Future" proklamierte; 1978 - das war das letzte Jahr in der Geschichte.

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