Kafka

1. Teil

Streifzüge 41/2007

von Eske Bockelmann

Kafka hat drei Romane geschrieben – und ist doch kein Romancier. Ja, ich möchte behaupten, er ist kein Literat, kein Schriftsteller. Natürlich, Kafka hat seinen Namen und ist jedem ein Begriff, eben weil er geschrieben hat, und dies Schreiben zumal hatte große, einzigartige Bedeutung in seinem Leben. Dennoch, man überlege nur einmal, wer ihm von wirklich sämtlichen Schriftstellern irgendwie passend an die Seite zu stellen wäre. Da gibt es keinen, nicht Proust, nicht Shakespeare, nicht Poe, nicht Dostojewski, weder Büchner noch Beckett. Neben Goethe lässt sich ein Schiller postieren, auch wenn es Nietzsche zu Recht erbost hat, wie man beide in einem Atemzug nennen mag. Neben Kafkas Namen aber hält sich einfach niemand. Und nicht etwa deshalb, weil andere nicht vergleichbar gut geschrieben hätten, denn es gibt genug, ich habe solche Namen genannt, die vermochten, mit einem Wort, unübertrefflich zu schreiben. Nur, bei Kafka geht es nicht um mehr oder weniger gut, um mehr oder weniger vortrefflich, bei ihm hat man von Vollkommenheit zu sprechen: Bei ihm hat man zu sprechen von einer Vollkommenheit, die anderer Natur ist als die Kunst literarischen Schreibens. Kafka selbst hat davon wohl gewusst. Er notiert einmal ganz für sich: Wenn er nur wahllos einen Satz hinschreibe wie „Er schaute aus dem Fenster“, so sei er schon vollkommen (9, 27)*. Und er hat Recht, jenseits aller Eitelkeit, zu der Kafka nun wirklich nicht neigte. Nein, gegen einen großen inneren Widerstand, eine solche Gabe an sich selbst zu erkennen, entgeht ihm doch nicht die Vollkommenheit seines Schreibens – und nun: Wenn man wüsste, worin sie besteht!

Die Kunst des Satzes

„Er schaute aus dem Fenster“: Es ist ja nicht die Vollkommenheit des Satzes, nicht die eines gelungenen, kunstvollen, irgendwie idealen Satzbaus, und schon die wäre nicht gering zu achten, immerhin haben sich Schriftsteller heftig um sie bemüht. Flaubert etwa arbeitete systematisch daran, seine Sätze vollkommen auszutarieren, und wenn er einen ganzen Tag lang an einem einzigen sitzen sollte. Seinem literarischen Zögling Maupassant hat er regelmäßig zur Hausaufgabe gemacht, alles mögliche, hier irgendeinen Gegenstand, dort vielleicht eine alte Frau, einmal einen Duft oder jetzt eine Frucht mit allem, was sie ausmachte, Form, Schwere, Farbe, ihrem Geschmack und ihrer Eigenart, wenn man sie in der Hand hielt, so in Sätze zu formen, dass das Gemeinte jeweils vollkommen präsent war, vollkommenen sprachlichen Ausdruck gefunden hätte. Aber weder diese Kunst der Vergegenwärtigung und treffenden Repräsentation ist spezifisch Kafkas Sache, noch ist es jene Kunst des Satzes – obwohl er sich auf beide versteht.

Nehmen wir dafür als Beispiel ein ganz kurzes Stück, 1913 abgedruckt in der ersten jener wenigen Buchveröffentlichungen, die Kafka schon zu Lebzeiten hatte:

Wunsch, Indianer zu werden

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. (1, 30)

Ein einziger Satz – aber was für ein Satz! Wie genau erfährt man, empfindet und erkennt, ja spürt man den Wunsch, der hier dargestellt ist, nein, den Wunsch, der hier vollständig da ist, hier in diesem Satz! Ganz einfach beginnt er zunächst mit dem Optativ: „Wenn man doch … wäre“. Aber was man da gerne wäre, wenn man den Wunsch hat, „ein Indianer“ zu sein, ist ja zunächst noch unklar. Doch Zug um Zug, in kurzen, sicheren Zügen wird es zur Wirklichkeit: „gleich bereit“ – so knapp, so gleich bereit ist es gesagt, wie es dasjenige ist, was diese Worte sagen sollen; dann das rennende Pferd, das „schief in der Luft“, worin mit einem Wort das Rennen schon zu rasender Jagd wird, denn schief hat sich der Reiter gegen die andrängende Luft anzustemmen, weil es so rasend dahingeht; er erzittert und es zittert der Boden kurz ein jedes Mal, wenn das Pferd den Boden noch berührt, doch schon ist auch das nicht mehr Jagd genug, denn nur so lange gilt es, „bis man die Sporen ließ“, und das Erzittern, eben noch Übereinstimmung zwischen Reiter, Pferd und Boden, wird verdrängt davon, wie sich der Reiter nun löst von dem, was ihn reiten lässt, und Subjekt und Objekt, Wirkung und Ursache einander jagend überholen: da „man die Sporen ließ“ und so einerseits bewirkte, dass sie, die noch eben da waren, fort sind, aber sie überjagen darin noch den Reiter, indem es jetzt heißt, er lasse die Sporen, „denn“ es gab keine, es hatte sie schon nicht gegeben, bevor der Reiter sie noch ließ, und deshalb gerade ließ er sie; und so mit den Zügeln, rasend geht es weiter, und wo die Mittel zum Reiten so völlig dem Wunsch des Reiters gehorchend ihr Verschwinden vorwegnehmen, da kann es nicht mehr anders sein, als dass selbst der Boden, eben noch zitternd, nun „kaum“ noch als das Land vor dem Reiter zu sehen ist und dass in dessen Blick selbst von dem Pferd nichts mehr gerät, nicht Pferdehals noch Pferdekopf, ein bloßer wilder Ritt ohne Pferd, ohne Land, in der Luft – und dann kann nicht Schluss sein: Denn jetzt, als der Satz endet, ja abbricht, empfindet man den Wunschsatz des Eingangs „Wenn man doch … wäre“ als Beginn einer konditionalen Periode aus „wenn“ und „dann“, nur dass ihr dieses einlösende „dann“ fehlt, eine offene Periode ohne Schluss, die jedoch eben deshalb weiterreicht, eine Periode ohne ihren zweiten Teil, ohne Einlösung, ohne das, was folgen müsste, wenn der Wunsch sich erfüllen würde: wenn er also erfüllt wäre und demnach nicht mehr Wunsch.

Wie lange hat man herumzureden, um an einem solchen doch einigermaßen kurzen Satz nur auf das Nötigste hinzuweisen, und wie viel wäre verlangt, wollte man ihn ganz erschöpfen! Ohne Zweifel, das ist allerhöchste sprachliche Kunst, Kunst des Satzbaus, Kunst der Vergegenwärtigung, und wem sie hier allenfalls noch bescheidenen Umfang zu haben scheint, der möge einmal die beiden ganz unvergleichlichen Wenn-dann-Perioden in Kafkas Auf der Galerie nachlesen. Und trotzdem: Es ist nicht diese Kunst, die bei einem Satz wie „Er schaute aus dem Fenster“ Kafkas Vollkommenheit ausmacht. Die muss anderen Wesens sein, damit auch ein Satz, wie ihn jeder schreiben kann, sogleich vollkommen ist. Und demnach kann sie, wenn sie in dem einzelnen Satz nicht liegen kann, nur in einem Zusammenhang liegen – einem Zusammenhang, in den offenbar jeder Satz bei Kafka tritt.

Wirklichkeit, kafkaesk

Was das heißt, weiß zunächst auch jeder, der jemals Kafka gelesen hat. Er mag sich nur erinnern, wie es ihm dabei ergangen ist: Vom ersten Satz an befindet er sich in einer Wirklichkeit – wie soll man sagen? – eigenen Rechts oder eigener Potenz, in einer Wirklichkeit, die so gar nicht bloß literarisch hergestellt ist, nicht das Ergebnis eines wiedergebenden, repräsentierenden Blicks nach draußen in die Wirklichkeit, wie man sie kennt, sondern – nun, was? Auch das gehört zu ihr, wie außerordentlich schwer es fällt, das Eigentümliche dieser Wirklichkeit zu benennen. Wer Kafka liest, hat keine Sekunde lang das Gefühl, jemandem zuzuhören, der „schreibt“, der sich da etwas ausgedacht hat, etwas nur darstellt, und wäre diese Darstellung noch so überzeugend und wirklichkeitsnah gelungen. Niemals kommt der Leser bei Kafka in die Lage, ihm beim Schreiben gleichsam über die Schulter zu schauen, zu beurteilen, wie er dies oder jenes macht, wie ihm dies oder jenes gerät, was er hier beabsichtigt und was er dort gemeistert habe, ob diese Figur überzeugend, jene Wendung der Geschichte triftig oder originell und ob das Ganze irgendwie sinnvoll sei, anregend, lesenswert oder sonst etwas. Bei Kafka kommt der Leser niemals in die Lage, sich klüger zu fühlen als der Autor. Was er bei ihm liest, hat er hinzunehmen wie eine Mitteilung, die Mitteilung aus einer Wirklichkeit, in die er nur so Einblick erhält, nicht anders als eben durch Kafka.

Zugleich aber – und darin liegt das Rätsel, das Wunder, darin liegt die Vollkommenheit Kafkas – ist es keine ausgedacht ferne Wirklichkeit von anderen Planeten oder nur aus Kafkas Phantasie: Was man bei Kafka liest, sind genaue Mitteilungen aus dem Innersten unserer, der gegenwärtigen Wirklichkeit. Aus einem Innersten zwar, in welches sonst der Blick nicht dringt, ja einem Innersten, von dessen Bestehen man bis dahin noch nie gehört haben mag; doch im selben Moment, da man es bei Kafka liest, weiß jeder, spürt jeder, dass er davon erfasst ist, dass dies seine Wirklichkeit ist und dass er genau sie dunkel geahnt hatte.

Daher gibt es das Wort „kafkaesk“. Ich will zugeben, dass ich es nicht für sonderlich verwendbar halte, doch nur deshalb, weil es kaum einmal mit der bei Kafka obwaltenden Genauigkeit verwendet wird – aber wie auch! Fast stets bleibt zweifelhaft, ob mit dem, was jemand kafkaesk nennt, etwas tatsächlich für Kafka Spezifisches getroffen ist, aber das ist nicht das Wichtige. Entscheidend ist die Art von Gegenstand, die man mit Kafkas Namen adjektivisch benennt. Wladimir Nabokov berichtet einmal den Vorfall, dass ein Mann nach Hause kommt, dort von einem anderen empfangen und mir nichts, dir nichts umgebracht wird; Nabokov kommentiert, so kafkaesk sei die Wirklichkeit inzwischen geworden. Der Mitarbeiter einer Landtagsabgeordneten erzählt, wie ihm diese den Auftrag gegeben habe, ein Konzept zu erstellen – ohne dass sie hinzugefügt hätte, ein Konzept wovon: kafkaesk. Die Verwaltung einer Universität bringt das Lehrpersonal durch fortgesetzte Verschlankung derart auf Vordermann, dass der Lehrbetrieb exzellenterweise darüber unmöglich wird – Kommentar einiger Betroffener: kafkaesk. Nun hat Kafka nicht genau solche Dinge beschrieben, aber man sieht, wofür sein Name verwendet wird: zur Charakteristik spezifischer Züge unserer objektiven Wirklichkeit.

Und nun vergleichen Sie noch einmal: Der Name welches anderen Schriftstellers würde dazu taugen? Selbst die Namhaftesten, Goethe etwa, stehen mit ihrem Namen allenfalls für eine ihrer Eigenheiten oder Leistungen, ihre Art zu schreiben etwa, eine für sie charakteristische Fähigkeit. Hofmannsthal oder Hauptmann haben zuzeiten goetheisch gedichtet, bei zahllosen Epigonen hat es geschillert, später gab es welche, bei denen hat’s nur geböllert. Oder wenn wir über den Bereich der Literatur hinausschauen: Da gibt es das Cartesische Koordinatensystem, gibt es die Heisenbergsche Unschärferelation, die Brownsche Molekularbewegung, es gibt die Bessemer-Birne, den Otto? und den Wankelmotor, und eine Zeitlang hieß die heute übliche Technik beim Hochsprung nach demjenigen, der sie als erster verwendet hatte, der Fosbury-Flop. Jeweils verbindet sich der Name eines Erfinders oder Entdeckers nur mit dem jeweils Gefundenen, ähnlich wie der Name eines Schriftstellers mit der Charakteristik seines Schreibens. Aber ein Verhalten zwischen Menschen, das man typisch hofmannsthalesk nennen wollte? Gesellschaftliche Vorgänge, die mit irgendwelchem Erkenntniswert Hermann-Hessesche heißen könnten, einsteinisch oder selbst shakespearelike?

Kafkas Name wurde, als einziger, der je zu so etwas taugte, zum Namen für eine bestimmte objektive Wirklichkeit: für die unsere, eine jetzt gegebene, eine jetzt herrschende Wirklichkeit; und zwar für unsere Wirklichkeit offenbar in genau denjenigen ihrer dunklen Züge, die am schwersten zu fassen und zu benennen sind, so schwer, dass sie sich – wo es darum geht, sie mit einem einzigen Wort zu bezeichnen – allein mit Kafkas Namen bezeichnen lassen. Wenn es aber Kafka mit seinem Schreiben gelingt, eben sie zu erfassen und dem Leser erfassbar zu machen, dasjenige unserer Wirklichkeit, was so schwer in den Blick kommt und was aber von so umfassender und tief reichender Bedeutung ist, dass jeder, der es bei Kafka liest, darin erschrocken sich und seine Wirklichkeit erkennt – dass also jeder Kafka versteht -, dann rühren wir hier an das Geheimnis seiner Vollkommenheit: Der Zusammenhang, in dem seine Sätze sie erlangen, ist einer unserer objektiven Wirklichkeit, ist derjenige Zusammenhang, unter dem wir leben und den wir bei Kafka lesen.

Die Welt ist nicht erfunden

Was heißt das? Ein kleiner Exkurs: Es gibt ein Erklärungsmuster für jederlei objektive Wirklichkeit, das sich heute allergrößter Beliebtheit erfreut, nämlich die „Erfindung“, also das Verhältnis zur Wirklichkeit als subjektiver Schöpfungsakt: Edison hat die Glühbirne erfunden, deshalb gibt es sie. Und natürlich gibt es solche Erfindungen, manche davon, wie gesagt, verbinden sich auch mit dem Namen ihres Erfinders. Doch heute soll sich mit einem Mal die gesamte Wirklichkeit nach diesem Muster erklären. Da wird gefabelt von der „Erfindung der Nation“ oder derjenigen „der Balkanvölker“, ein „interdisziplinäres Verbundprojekt“ gilt aktuell der „Erfindung des Homo Europaeus“, „die Erfindung der Landschaft“ soll es gegeben haben wie die „des Gemäldes“, dann „die Erfindung des deutschen Idealismus“, „der Romantik“ und „der Moderne“, Amerika ist nicht entdeckt, sondern erfunden worden, ebenso wurden erfunden Türkei und Tessin, die Einfachheit und das Authentische, die Gefühle und das Politische, und wenn es „die Erfindung der Wolken“ gibt, versteht sich, gibt es kein Halten, bevor nicht die „Erfindung des Universums“ und „des Kosmos“ festgestellt ist – ich zitiere lauter existierende Buchtitel.

Die Redeweise von der „Erfindung“ der Welt verweist zwar zu Recht darauf, dass nichts einfach mitsamt seinem Namen oder Begriff fertig und naturgegeben auf der Welt ist, sondern dass noch in die natürlichsten Gegebenheiten begriffliche und reale Formung durch Menschen eingeht. Aber die „Erfindung“ von allem und jedem zu behaupten, geht darüber ja weit hinaus und trampelt die einfache Erkenntnis platt, dass selbst Dinge, die durch und durch von Menschen bestimmt sind, sich gleichwohl deren direktem Zugriff, ja selbst ihrer bloßen Einsicht entziehen. Die „Nation“ etwa, der Nationalstaat, ist keine „Erfindung“, niemand hat sie sich ausgedacht, sie erklärt sich nicht aus einer Idee, die einmal jemand gehabt hätte und die anschließend eben umgesetzt worden wäre, und wenn einem eine andere Idee gekommen wäre, hätte man eben die verwirklicht, oder wenn einer jetzt mit einer besseren Idee käme, nun, so ginge man hin und würde die alte durch die neue ersetzen, und schon gäbe es keine Nationen mehr und keine Kriege, auf die Nationen nun einmal angewiesen sind.

Nein, Nationen sind nicht auf diese Weise einem einfallsreichen Kopf entsprungen – was nicht heißt, dass sie deshalb einfach der Menschennatur entwüchsen. Der Nationalstaat ist ein geschichtliches Produkt, erst der Neuzeit zugehörig, und entsteht unter Bedingungen, die zwar durch Menschen bewirkt, aber doch alles andere als bewusst von ihnen geschaffen wurden. Der Nationalstaat, wie wir ihn kennen, wird erzwungen durch die Ablösung der naturalwirtschaftlichen durch geldwirtschaftliche Verhältnisse, denn die vertragen sich nicht mehr mit der älteren Einrichtung einer direkt persönlichen Macht auf der einen Seite und entsprechend direkter Abhängigkeit auf der anderen, sondern erfordern den modernen Staat als Machtkomplex formaler, nicht-persönlicher Verlaufsstrukturen. Diese Verwandlung aber spielt sich hinter dem Rücken der Menschen ab, ohne deren Ideen abzuwarten und ihnen zu folgen, auch wenn es die Beteiligten auf jede Menge Ideen bringen, mit denen sie sich die jeweils durchgesetzten Verhältnisse dann zurechtlegen und als gute Idee einleuchten lassen. Die „Nation“ ist das blinde Ergebnis von Bedingungen, die zwar Menschen gesetzt, über die sie aber nicht vernünftig oder „erfinderisch“ verfügt haben. Von einer „Erfindung der Nation“ zu reden, ist insofern die faustdicke Ideologie, erstens, wir würden über die Verhältnisse, in denen wir leben, umfassend frei bestimmen, in der Art und Weise, dass wir sie uns nach Belieben zurecht? und in Form dächten, und dadurch allein träten sie in Realität; und zweitens, sie kämen zu ihrer Wirklichkeit als das Ergebnis gezielten Nachdenkens und bewusster Einsicht.

So steht jene Behauptung einer Welt aus lauter Erfindungen in absurdem Widerspruch zu dem, was uns heute wirklich umgibt. Doch gerade dieser Widerspruch dürfte paradoxerweise erklären, weshalb aktuell so gerne und zwanghaft von der „Erfindung“ der Welt geredet wird: Je deutlicher und drückender die weltweite Abhängigkeit von den widrigsten Sachzwängen – eine Abhängigkeit, die inzwischen ja einen eigenen, wenn auch hübsch zahm und formal gehaltenen Namen bekommen hat, „Globalisierung“ -, umso stärker wird offenbar der Zwang, sich diese Abhängigkeit auszureden und sie umzulügen in ihr genaues Gegenteil: in frei gewählte und jederzeit beliebig wählbare Verhältnisse anstelle der objektiv zwingenden; und in wohl durchdachte anstelle der objektiv undurchdringlichen.

Was hat das mit Kafka zu tun? Alles. Denn das genau, was mit einer solch denkfaulen Affirmation geleugnet wird, das eben ist es, was bei Kafka aufgeschrieben steht. Jeder, das behaupte ich, wirklich jeder spürt, ahnt, weiß, dass die Verhältnisse, unter denen wir leben, nein, nicht erfunden, nicht vernünftig und frei gewählt sind, sondern von etwas durchherrscht, das alles, vom Äußersten bis zum Innersten, in einen unseligen, undurchdringlichen Bann geschlagen hat. Worin aber besteht es, wie bewirkt es diesen Bann? Wer kann das benennen? Wer wagt es auch nur, Fragen danach zu stellen, wer, ihnen nachzugehen, wer vermöchte da zu klären? Und dabei sind es doch offensichtlich die allerwichtigsten, lebensentscheidenden Fragen – zum Verzweifeln, dass niemand sich ihnen widmet, dass man alleine fragt – man muss es doch klären, erkennen, eben das, vor allem das!

Forschungen

So fragt Kafka, so empfindet und erkennt Kafka. Nicht dass er diesen Fragen theoretisch nachginge, dass er bewusst und diskursiv über sie reflektieren würde, durchaus nicht – er „weiß“ nichts von ihnen. Und dennoch lässt sich sagen, dass er sie geradezu erforsche. „Forschungen eines Hundes“, so heißt eines seiner Prosastücke. Ein Hund, vorgerückten Alters, berichtet, wie er sich von früh an isoliert sah von seinen Mithunden durch ein Unbehagen, das ihn angesichts ihres Zusammenlebens immer wieder befällt, und durch Fragen, die sich ihm darüber aufdrängen. Fragen sind es, zu denen auch die Wissenschaft zuweilen einen Standpunkt vertritt und bestimmte Annahmen macht, aber doch ohne irgendeine dieser Fragen zu erhellen oder auch nur als Frage klar umreißen zu können. Das fällt auch dem berichtenden Hund nicht leicht, auch er vermag nichts recht zu klären – und forscht doch. So höre man, was er da geklärt haben wollte:

Es ist ja, wenn ichs bedenke und dies zu tun habe ich Zeit und Lust und Fähigkeit, mit der Hundeschaft überhaupt sonderbar bestellt. Es gibt außer uns Hunden vielerlei Arten von Geschöpfen ringsumher, arme, geringe, stumme, nur auf gewisse Schreie eingeschränkte Wesen, viele unter uns Hunden studieren sie, haben ihnen Namen gegeben, suchen ihnen zu helfen, sie zu veredeln und dergleichen, mir sind sie, wenn sie mich nicht etwa zu stören versuchen, gleichgültig, ich verwechsle sie, ich sehe über sie hinweg, eines aber ist zu auffallend, als dass es mir hätte entgehen können, wie wenig sie nämlich, mit uns Hunden verglichen, zusammenhalten, wie fremd sie aneinander vorübergehen, wie sie weder ein hohes noch ein niedriges Interesse verbindet, wie vielmehr jedes Interesse sie noch mehr von einander abhält, als es schon der gewöhnliche Zustand der Ruhe mit sich bringt. Wir Hunde dagegen! Man darf doch wohl sagen, dass wir alle förmlich in einem einzigen Haufen leben, alle, so unterschieden wir sonst sind durch die unzähligen und tief gehenden Unterscheidungen, die sich im Laufe der Zeiten ergeben haben. Alle in einem Haufen! Es drängt uns zueinander und nichts kann uns hindern, diesem Drängen genugzutun, alle unsere Gesetze und Einrichtungen, die wenigen, die ich noch kenne und die zahllosen, die ich vergessen habe, gehen zurück auf dieses höchste Gut, dessen wir fähig sind, das warme Beisammensein. Nun aber das Gegenspiel hiezu. Kein Geschöpf lebt meines Wissens so weithin zerstreut wie wir Hunde, keines hat so viele, gar nicht übersehbare Unterschiede der Klassen, der Arten, der Beschäftigungen, wir, die wir zusammenhalten wollen – und immer wieder gelingt es uns trotz allem, in überschwänglichen Augenblicken -, gerade wir leben weit von einander getrennt, in eigentümlichen, schon dem Nebenhund oft unverständlichen Berufen, festhaltend an Vorschriften, die nicht die der Hundeschaft sind, ja eher gegen sie gerichtet. Was für schwierige Dinge das sind, Dinge, an die man lieber nicht rührt – ich verstehe auch diesen Standpunkt, verstehe ihn besser als den meinen – und doch Dinge, denen ich ganz und gar verfallen bin. (8, 49 f. )

Schwierige Dinge, an die man lieber nicht rührt, und doch Dinge, denen einer ganz und gar verfallen ist: Da spricht Kafka genauso von sich selbst. Es geht um die Verhältnisse von Menschen, das ist keinen Moment ungewiss, auch wenn es Hunde sind, die hier an ihre Stelle treten. Was aber ist an deren Verhältnissen so schwierig, was daran so abgründig, dass man seiner Erforschung verfallen kann?

Es bleibt undeutlich, nicht recht greifbar, und nicht bloß an dieser Stelle, sondern in den „Forschungen“ insgesamt. Kafka jedoch stellt es in einen Zusammenhang, in dem das Drängende daran sich gleichwohl mitteilt, und zwar in vollendeter Schärfe. Wenn es vorhin seine Kunst des Satzbaus zu bewundern galt, an dieser Stelle ist es die Vollkommenheit der Konstruktion.

Was er sagt, er verlegt es hier in die Verhältnisse von Tieren und, vor allem, er lässt es ein Tier vortragen. Gerade wo es um Einsicht, um Erforschung geht, wählt er also einen Blickwinkel, den wir als den einer beschränkten Einsicht empfinden müssen, und das tut er nicht etwa, um wie in Fabel oder Satire einen scheinbar simplen Geist die Fehler und Widersprüche bestehender Verhältnisse nur umso offener aussprechen zu lassen. Was da nach Erforschung verlangt, bleibt ja unbegriffen, es wird dem Leser nicht leichter durchschaubar als dem Tier. So gilt: Dass hier ein Tier von Tieren spricht, nämlich von unseren Verhältnissen beschränkt als den ihren, macht uns gerade unsere Beschränkung empfindlich, führt uns vor, dass da etwas ist, was wir an unseren Verhältnissen nicht durchdringen. Und das zielt nicht darauf, dass da etwas für unseren Geist zu hoch sei und basta, sondern dass es das Etwas wirklich gibt, das wir nicht durchdringen. Wir stoßen an eine Schranke und so werden wir empfindlich für das, was wir da nicht begreifen: So formt es sich in uns – nicht zu analytischen Begriffen, aber zu einem Begreifen, das Kafka einmal so benannt hat: Er könne nur schreiben, was ihm in den Knochen stecke. In den Knochen steckt es uns genauso; und jetzt beginnen sie zu schmerzen.

Etwas, was den Menschen so tief bis ins Mark reicht, lässt sich leicht missverstehen als Allgemein-Menschliches und natürlich wird Kafka ausgiebig in dieser Richtung erklärt. Er jedoch macht deutlich, dass es um etwas anderes geht, auch wo er sich auf die Ebene bloßer Natur zu begeben scheint, wo er von „Geschöpfen“, von ihren „vielerlei Arten“ und wo er selbst als eines von ihnen spricht. Denn die kategorische Scheidelinie, die wir ganz selbstverständlich zwischen Menschen und Tieren ziehen, Kafkas Hund zieht sie mit derselben Selbstverständlichkeit so, dass diesmal die Hunde diesseits stehen und auf der anderen Seite alle übrigen Tiere, sie, die er als „geringe“ und „eingeschränkte Wesen“ erkennt – von Menschen ist nicht die Rede, sie existieren hier nicht außerdem. Auf diese Weise tritt uns die Scheidung zwischen Mensch und Tier hier als eine zwischen Tier und Hund vor Augen, zwischen Tieren also, eine Scheidung innerhalb der „eingeschränkten Wesen“ und damit gerade nicht als jene Trennung kategorisch unterschiedlicher Geschöpfe, wie wir sie kennen. Eine andere tritt an ihre Stelle, keine Trennung nach Unterschieden in denGeschöpfen selbst, sondern nach etwas, das sich an ihnen, über sie hinweg, ja gegen sie vollzieht – und sie dadurch kategorisch von den übrigen scheidet.

Es heißt so: Was die Hundeschaft von allen anderen Geschöpfen trenne, liege in einem Zusammenhalten, einem Interesse, das sie verbinde. Den übrigen Arten unbekannt, zeige es die Hunde „alle förmlich in einem einzigen Haufen“ zusammengeschlossen, verbinde also sie alle zu einem einzigen großen Zusammenhang. Dessen Sinn und der Grund seines Entstehens scheint zu sein „dieses höchste Gut, dessen wir fähig sind, das warme Beisammensein“. Zugleich aber und im Widerspruch, im „Gegenspiel“ dazu bewirkt er, dass alle weit getrennt von einander leben, getrennt durch Unterschiede der Berufe, der Arten und Klassen, und gar nach Vorschriften, „die nicht die der Hundeschaft sind, ja eher gegen sie gerichtet“ – wollen wir vermuten, diese Vorschriften habe jemand erfunden? Nein, so lautet jenes Schwierige, dessen Erforschung man verfallen kann, das uns an eine Schranke stoßen lässt, an dem wir etwas nicht begreifen; dies ist es, was wir zugleich innervieren, was uns ganz und gar in den Knochen steckt; und ist dasselbe, was uns gerade nicht mehr als Geschöpf unter Geschöpfen charakterisiert, sondern in Widersprüchen vom Dasein der Geschöpfe abtrennt: Es ist unser gesellschaftlicher Zusammenhang.

„Hundeschaft“ heißt es bei Kafka nicht umsonst, und zurecht ist seinem forschenden Hund „auffallend“, wie es mit dieser Gesellschaft bestellt ist: Durch ihren Widersinn werden alle die, die sie da verbindet und trennt, unter den Stand noch jener Geschöpfe gedrückt, über die sie sich dank solcher Gesellschaft erhoben sehen, jener Geschöpfe, die doch, wie es hieß, nicht zusammenhalten, fremd aneinander vorübergehen, ohne verbindendes Interesse bleiben. Denn nicht nur, dass dies von „uns“ gesellschaftlichen Wesen zuletzt genauso gilt, wir wiederholen es nun gar im Widersinn, wiederholen es im Schlechten, übersteigern es in der Verkehrung, indem wir geradezu gegen eben das Interesse handeln, das uns doch verbunden hatte und verbinden sollte.

Warum nur?

Gesellschaft in diesem Sinne wird in unserer neuzeitlichen Wirklichkeit – und zwar erst dort, nicht stets und überall – durch eine Art der Versorgung gestiftet, eine „Wirtschaft“, in der es nun ihrerseits undurchdringlich und widerspruchsvoll nach Vorschriften zugeht, die nicht der Menschheit sind, sondern eher gegen sie gerichtet. Der Versorgung der Hundeschaft gelten die Forschungen des Hundes daher im Besonderen. Ihm kann sie nur in der Form zur Frage werden, dass er wissen will, woher die Nahrung komme. Doch nicht, dass es deshalb darum ginge, für eine sichere Ernährung landwirtschaftliche Kenntnisse zu erlangen, denn allen Hunden ist klar, dass die Nahrung von der Erde kommt – aber andererseits zuweilen auch aus der Luft. Es ist etwas Anderes, was an der Versorgung dunkel bleibt: nicht der Beitrag, den die Erde zu ihr leistet, sondern, wie Kafkas Hund genau erkennt, ihre gesellschaftliche Natur.

Erst mit der Hilfe der Hundeschaft begann ich meine eigenen Fragen zu verstehen. Wenn ich z. B. fragte: Woher nimmt die Erde diese Nahrung? , kümmerte mich denn dabei, wie es den Anschein haben konnte, die Erde, kümmerten mich etwa der Erde Sorgen? Nicht im Geringsten, das lag mir, wie ich bald erkannte, völlig fern, mich kümmerten nur die Hunde, gar nichts sonst. Denn was gibt es außer den Hunden? Wen kann man sonst anrufen in der weiten leeren Welt? Alles Wissen, die Gesamtheit aller Fragen und Antworten ist in den Hunden enthalten. Wenn man nur dieses Wissen wirksam, wenn man es nur an den hellen Tag bringen könnte, wenn sie nur nicht so unendlich viel mehr wüssten, als sie zugestehen, als sie sich selbst zugestehen. Noch der redseligste Hund ist verschlossener, als es die Orte zu sein pflegen, wo die besten Speisen sind. Man umschleicht den Mithund, man schäumt von Begierde, man prügelt sich selbst mit dem eigenen Schwanz, man fragt, man bittet, man heult, man beißt und erreicht – nun erreicht das, was man auch ohne jede Anstrengung erreichen würde: liebevolles Anhören, freundliche Berührungen, ehrenvolle Beschnupperungen, innige Umarmungen, mein und Dein Heulen mischt sich in eins, alles ist darauf gerichtet, im Entzücken Vergessen zu finden, aber das eine, das man vor allem erreichen wollte: Eingeständnis des Wissens, das bleibt versagt, auf diese Bitte, ob stumm, ob laut, antworten bestenfalls, wenn man die Verlockung schon aufs äußerste getrieben hat, nur stumpfe Mienen, schiefe Blicke, verhängte, trübe Augen. (8, 41 f. )

Die Auskunft, das Eingeständnis des Wissens bleibt aus, weil die anderen nicht die Gesellschaft sind, nach der hier die Frage ergeht, und doch ist Auskunft allein von ihnen zu erhoffen, da nur sie – wer sonst? – die Gesellschaft sein können. Die Verzweiflung, dass „es“ doch jemand wissen muss, ja dass „es“ eigentlich alle wissen müssen, da es um alle, um ihre Gesamtheit und die Gesamtheit aller Fragen geht, und dass man dennoch nach dem, was nur in dieser Gesamtheit liegen kann, vergeblich fragt, ohne irgendetwas an Klärung zu erfahren, ja ohne irgendetwas anderes zu erfahren, als man auch ohne jede Frage erfahren würde, diese Verzweiflung hat zum Kern, dass jene Gesamtheit etwas fraglich macht, dem sie zugleich damit die Antwort verwehrt, ja, selbst die Frage! Nach diesem „es“, danach, was doch jemand wissen muss, ja was die Gesamtheit aller wissen müsste, ist selbst nicht einmal zu fragen: Was am verzweifeltsten dazu nötigt, es zu wissen, das verweigert am unerbittlichsten das, wozu es alle nötigt.

Eine solche Konstellation musste die Theologen als Kafkas Deuter auf den Plan rufen: Gott als das undeutbar Unbegreifliche, nach dem nicht zu fragen ist. Aber das wäre der Mühe nicht wert gewesen, ein Wort, das sich lediglich an die Stelle jeder Antwort setzt, dafür hätte Kafka nicht schreiben müssen. Der gesellschaftliche Zusammenhang mag da weniger anheimelnden Tiefsinn versprechen, aber, das sei sich jeder bewusst, der hat es in sich. Wer etwa wüsste nur auf Anhieb zu sagen, was Gesellschaft ist? Den meisten wird wohl etwas in der Art vorschweben, wie es die britische Komikertruppe Monty Python in einer Folge von Sketchen einmal dargestellt hat: Immer wieder lässt sich eine der auftretenden Figuren etwas zu Schulden kommen, einer zum Beispiel, indem er besonders ekelhafte Knabbereien vertreibt, schon die harmloseste davon „extremely nasty“, und sonst erinnere ich mich nur noch an das Milzbrandkrusty. Die Polizei schreitet ein und betritt die Bühne, um den Schuldigen aus einer ganzen Gruppe von Leuten heraus zu verhaften. Der aber verteidigt sich mit den Worten, nicht er, sondern die Gesellschaft sei schuld; und die Polizisten lassen es sich einleuchten und verhaften nicht ihn, sondern alle übrigen Anwesenden im Raum. Das ist natürlich ein Witz – und doch die erste, hilflose Auskunft auf die verzweiflungsvolle Frage nach Gesellschaft. Denn allerdings muss Gesellschaft auf irgendeine Weise in der Gesamtheit ihrer Beteiligten bestehen, aber nicht sie sind Gesellschaft, sondern diese ist ihr Zusammenhang, jener sehr spezifische und eben widersprüchliche Zusammenhang, der darin besteht, dass die Menschen, die durch ihn zusammenhängen, durch ihn nicht zusammenhängen, sondern weit von einander getrennt gegeneinander stehen.

Der trennende Zusammenhang

Dem geht Kafkas gesamtes Werk nach, bis hinauf zu den Romanen, zu denen er dafür, wie ich zeigen will, einmal übergehen musste. Eines der frühen und der kürzeren Stücke, Der Kaufmann, beginnt so:

Es ist möglich, dass einige Leute Mitleid mit mir haben, aber ich spüre nichts davon. Mein kleines Geschäft erfüllt mich mit Sorgen, die mich innen an Stirne und Schläfen schmerzen, aber ohne mir Zufriedenheit in Aussicht zu stellen, denn mein Geschäft ist klein.

Für Stunden im Voraus muss ich Bestimmungen treffen, das Gedächtnis des Hausdieners wachhalten, vor befürchteten Fehlern warnen und in einer Jahreszeit die Moden der folgenden berechnen, nicht wie sie unter Leuten meines Kreises herrschen werden, sondern bei unzugänglichen Bevölkerungen auf dem Lande.

Mein Geld haben fremde Leute; ihre Verhältnisse können mir nicht deutlich sein; das Unglück, das sie treffen könnte, ahne ich nicht; wie könnte ich es abwehren! Vielleicht sind sie verschwenderisch geworden und geben ein Fest in einem Wirtshausgarten und andere halten sich für ein Weilchen auf der Flucht nach Amerika bei diesem Fest auf. (1, 22)

Es spricht ein Einzelner, aber er spricht für alle und er spricht von allen, da er mit allen zusammenhängt. Sie sind eine unbestimmte Gesamtheit, er kennt sie nicht, sie sind ihm fremd, und doch hängt sein Leben ganz von den Zufällen des ihren ab, die nichts davon wissen und sich nicht darum kümmern können. „Mein Geld haben fremde Leute“, so lautet das Zentrum dieses Zusammenhangs – ein Satz von Kafkascher Vollkommenheit.

Mein Geld haben fremde Leute: Es scheint ein Widerspruch, mein Geld, das Geld, das ich habe, habe nicht ich, sondern haben andere. Es ist ein Widerspruch und doch normalste Realität in unserer Art gesellschaftlichen Zusammenhangs. Zu ihm gehört als allererste Bedingung für jeden Einzelnen, dass er, um leben zu können, Geld verdient. Und das bedeutet immer, dass er sein Geld von anderen zu verdienen hat, es ist immer das Geld von anderen, das einer verdient, nur von anderen kann er es verdienen. Und diese anderen? Haben es genauso zu verdienen, also auch ihr Geld von wieder anderen, vielleicht von denselben, auch von jenem Einen, mit dem wir hier begonnen haben und der den anderen ebenso zu deren „anderen“ gehört wie sie zu den seinen. So, ohne einander zu kennen, hängen alle zusammen, mehr, sie hängen alle voneinander ab – und zwar gerade in Hinsicht auf die Grundlagen ihres Lebens und Zusammenlebens, nämlich auf die Mittel zu leben, Versorgung und Anerkennung, die in unserer Gesellschaft nun einmal, kapitalistisch, vor allem anderen von diesem Mittel abhängen, dem Geld. Über dieses hängen alle zusammen, hängen alle voneinander ab – und so aber stehen sie zugleich gegeneinander. Denn sie haben es sich wechselseitig abzugewinnen, und tatsächlich, ob die anderen das Geld haben, welches das „meine“ werden muss um den Preis meines Überlebens, hängt von wer weiß was für Dingen ab, vom Gang der „Wirtschaft“, die nichts anderes ist als dieses blind abhängige Wirtschaften eines jeden nur insgesamt, hängt davon ab, ob sie es vielleicht für ein Fest aufgewandt haben, ob sie damit nach Amerika geflohen sind und mir nie mehr etwas abkaufen werden, hängt insgesamt von ihren und von den tausendfältig möglichen Verhältnissen derer ab, von denen sie stets noch einmal ihrerseits abhängen. Und dann wiederum, ob sie mich ihr Geld, sollten sie es denn haben, verdienen lassen, hängt davon ab, ob ihre wechselnden Wünsche von dem bedient werden, was ich, um mein Geld zu erhalten, zu solcher Bedienung von Wünschen biete. Und noch weiter, nicht ich allein biete solches und alle anderen kaufen es mir ab oder, indem sie mir entgegen sind, eben nicht, sondern andere bieten das Gleiche und arbeiten so ebenfalls notwendig gegen mich.

Auf diese Weise aber wird dem Geschäftsmann, der auf diese Weise jeder zu sein hat, schon der Nachbar zu dem, was er auch dem Nachbar ist: ein Gegner. In einem anderen Stück Kafkas heißt es:

Mein Telephon ist an der Zimmerwand angebracht, die mich von meinem Nachbarn trennt, doch hebe ich das bloß als besonders ironische Tatsache hervor, selbst wenn es an der entgegengesetzten Wand hinge, würde man in der Nebenwohnung alles hören. Ich habe mir abgewöhnt, den Namen der Kunden beim Telephon zu nennen, aber es gehört natürlich nicht viel Schlauheit dazu, aus charakteristischen, aber unvermeidlichen Wendungen des Gesprächs die Namen zu erraten. Manchmal umtanze ich, die Hörmuschel am Ohr, von Unruhe gestachelt, auf den Fußspitzen den Apparat, und kann es doch nicht verhüten, dass Geheimnisse preisgegeben werden. Natürlich werden dadurch beim Telephonieren auch meine geschäftlichen Entscheidungen unsicherer, meine Stimme zittrig. Was macht Harras (sc. der Nachbar), während ich telephoniere? Wollte ich sehr übertreiben, aber das muss man oft, um sich Klarheit zu verschaffen, so könnte ich sagen: Harras braucht kein Telephon, er benutzt meines, er hat sein Kanapee an die Wand gerückt und horcht, ich dagegen muss, wenn geläutet wird, zum Telephon laufen, die Wünsche des Kunden entgegennehmen, schwerwiegende Entschlüsse fassen, großangelegte Überredungen ausführen, vor allem aber während des Ganzen unwillkürlich durch die Zimmerwand Harras Bericht erstatten. Vielleicht wartet er gar nicht das Ende des Gespräches ab, sondern erhebt sich nach der Gesprächsstelle, die ihn über den Fall genügend aufgeklärt hat, huscht nach seiner Gewohnheit durch die Stadt, und ehe ich die Hörmuschel aufgehängt habe, ist er vielleicht schon daran, mir entgegenzuarbeiten. (6, 91)

Die dünne Wand, das Horchen, das unmittelbare Entgegenarbeiten – lässt sich nicht einwenden, Kafka würde damit übertreiben? Er sagt zwar, das müsse man oft, „um sich Klarheit zu verschaffen“. Doch sollte sich außerdem niemand darüber täuschen, dass der Fall dieses Büronachbarn zu den harmlosen zählt angesichts eines täglichen Konkurrenzkampfes mit tausenden und abertausenden von „Beschäftigten“, die dafür zur Disposition stehen: damit Geld verdient werden kann, da es verdient werden muss. Man könnte daher geradezu umgekehrt einwenden, Kafka stelle hier nur kleine und auch bloß geschäftliche Verhältnisse dar, sobald es jedoch ins Größere oder ins Private gehe, sehe sich die Sache anders an.

Mag sein, aber sie wird darüber nicht zu einer grundsätzlich anderen. Bei Kafka ist auch das zu lesen, solche größeren, auch gesicherten Verhältnisse waren ihm vom Geschäft seines Vaters geläufig. Von diesem war ihm jedoch auch geläufig, dass er seine Angestellten mit einem erhellenden Ausdruck seine „bezahlten Feinde“ nannte – Kafka taufte ihn entsprechend ihren „zahlenden Feind“: Die Zahlung stiftet den Zusammenhang, die Zusammenarbeit, das Beisammensein ineins mit dem Gegeneinander, der Feindschaft.


* Die Ziffern benennen Band? und Seitenzahl der Ausgabe: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt/M. : Fischer, 1994. In den Zitaten halte ich mich jedoch nicht an das Prinzip dieser Ausgabe, bei Texten, die erst postum und also aus Kafkas Handschrift ediert sind, um Himmels willen nichts an Orthographie und Zeichensetzung zu verbessern – auch wo es Kafka für eine Drucklegung zweifellos selbst gemacht hätte.

2. Teil folgt in der nächsten Ausgabe.

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