Streifzüge 36/2006
KOLUMNE Immaterial World
von Stefan Meretz
Mittlerweile ist die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia interessierten Menschen ein Begriff. Mit dazu beigetragen hat eine Kette von „Rückschlägen“, über die genüsslich bis hämisch in der Presse berichtet wurde. Auch un/kritische KritikerInnen fühlen sich bestätigt, kann doch in ihrem Weltbild unter der Sonne des Kapitals nichts über das Kapital Hinausweisendes gedeihen. Was ist geschehen?
Fall 1: Im November 2005 wurde entdeckt, dass seit fast zwei Jahren anonym Artikel aus DDR-Lexika bei Wikipedia eingestellt wurden. Während außerhalb des Projekts der Schaden in einer ML-Unterwanderung vermutet – wenn auch nicht belegt – wurde, sah das Projekt die Kopien als Problem der Urheberrechtsverletzung (Abkürzung: URV). Normalerweise werden URV-Fälle schnell entdeckt, weil zum Wikipedia-Software-Universum auch spezialisierte Tools gehören, die das Web regelmäßig nach potenziellen URV durch Wikipedia-Artikel absuchen. Im Falle der DDR-Lexika gab es jedoch keine Referenzen im Web, da mit dem Staat auch die Lexika verschwanden oder bestenfalls im Antiquariat landeten.
Fall 2: Ende November 2005 berichtete der bekannte US-Journalist John Seigenthaler in einer Kolumne für die Zeitung USA Today über den Wikipedia-Artikel zu seiner eigenen Person, in dem ihm eine Verwicklung in den Mord an US-Präsident Kennedy unterstellt wurde. Wie sich später herausstellte, wurde der Fake von einem Angestellten in Nashville fabriziert, um einen Kollegen zu beeindrucken – als „Scherz“. In der deutschsprachigen Ausgabe gab es einen ähnlichen Fall, bei dem fälschlicherweise der Tod des bekannten Informatikers Bertrand Meyer gemeldet wurde.
Fall 3: Ende Januar 2006 flog auf, dass Mitarbeiter des US-Kongresses ca. 1000 Einträge über Senatoren und Abgeordnete geschönt hatten. Im Falle des demokratischen Abgeordneten Matty Meehan wurden nicht eingehaltene Wahlversprechen gelöscht, was zur Sperrung des Rechners des Praktikanten führte, der eingestandenermaßen von seinem Chef zur „Korrektur“ beauftragt wurde. „Vandalismus“ nennt das die Wikipedia-Community.
Hinzu kommt die kontinuierliche Auseinandersetzung um die Kernfrage des Projektes: Welcher Artikel kommt in welcher Form und mit welchen Informationen in die Enzyklopädie und welcher nicht? Ein Beispiel dafür ist die juristische Auseinandersetzung um die volle Namensnennung des Hackers „Tron“, die zeitweise zur Abschaltung von wikipedia. de führte (www. spiegel. de/netzwelt/politik/0,1518,399943,00.html). Formaler Rahmen sind dafür die „Richtlinien und Konventionen“ des Projektes, in denen der „neutrale Standpunkt“ und die „Einhaltung des Urheberrechts“ eine zentrale Rolle spielen. Zitat: „Ziel des Enzyklopädieprojektes ist die Zusammenstellung bekannten Wissens.“ Was aber ist das? So gehört ein Artikel zum Stichwort „Wertkritik“ zum bekannten Wissen, während das Stichwort „Wertabspaltungsansatz“ nur als Link, nicht aber als eigenständiger Artikel akzeptiert wurde.
Die Produktionsweise von Wikipedia ist neu, sie ist vergleichbar mit der Freier Software. In ihrem Kern ist sie nicht wertförmig und nicht demokratisch. Die „Fälle“ zeigen die Konfrontation mit der Wert- und Rechtsform der ordinären Warengesellschaft, in der Wikipedia überleben muss – zur Zeit auf Spendenbasis und unter strikter Akzeptanz des Urheberrechts. Sie zeigen auch die vielfältigen Versuche zur Instrumentalisierung von Wikipedia für proprietäre Interessen. So weit, so auch aus der Freien Software bekannt.
Die Fälle zeigen aber auch die Chancen alternativer Regulationsformen gesellschaftlicher Konflikte. Die linke Bewegung klebt an den Fetischformen von Staat und Demokratie. Und auch die Wertkritik hat, wenn sie denn einmal den Blick über den Tellerrand der Kritik schafft, nicht mehr zu bieten als „Räte“, irgendwie. Die Freie Software und Wikipedia hingegen probieren transdemokratische Formen der gesellschaftlichen Regulation praktisch aus. Hier werden Erfahrungen gemacht, die für eine Freie Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind.
Die Herausforderung, vor der emanzipatorische Bewegungen stehen, ist die Frage nach der nicht-wertförmigen Vergesellschaftung. Schon diese Formulierung „nicht-wertförmig“ zeigt, dass wir es noch nicht schaffen, aus der einfachen Negation in eine doppelte Negation überzugehen. Dieser Übergang wird sich auch nicht denkend und theorieförmig vollziehen, sondern kann nur das Ergebnis bewusster Reflexion der „wirklichen Bewegung“ (Marx über den Kommunismus) sein. Zur bewussten Reflexion, zur begrifflichen Widerspiegelung wirklicher Bewegung, die eine Kritik der praktischen Bewegung einschließt, ist jedoch eine offene, lernbereite und nicht-moralische Haltung Voraussetzung.
Wer (zu Recht) beklagt, dass Wikipedia auch hochproblematische Artikel enthält (Kritik an Rassismus und Sexismus in Wikipedia: www.no-racism.net/article/1336/) und danach das Projekt als Ganzes bewertet, hat nicht verstanden, dass Wikipedia nur den durchschnittlichen Stand gesellschaftlicher Gedankenformen widerspiegeln kann – und nicht ein Wunschgebilde an emanzipatorischer Theorie. Wer Wikipedia derart beurteilt, der übersieht die wesentlichen und eigentlich interessanten Punkte: nämlich die Art und Weise, wie sich Wikipedia organisiert angesichts der Anforderung, ein globales Projekt in über 100 Sprachen zu betreiben. Diese Organisationsformen sind die Anfänge der Vergesellschaftungsformen jenseits von Markt und Staat. Sie wissen es nicht, aber sie tun es – einfach, weil die Fetischformen nicht mehr zur Regulation taugen. Dass dies kein „reiner“ Prozess sein kann, liegt auf der Hand.
Die Linke hingegen ist im „Widerstandsmodus“ befangen und versteht nicht, dass sich Widerstand an die Formen des Alten kettet und nicht von diesen abhebt: Zu widerstehen bedeutet „nur“, unter Bedingungen der zunehmenden Barbarisierung die eigenen Lebensbedürfnisse immanent zur Geltung zu bringen. Eine Widerstandsbewegung kann die Barbarisierung als Ausdruck der objektiven Krisenentfaltung der Warengesellschaft nur bremsen und partiell aufhalten, sie kann ihr aber noch nicht einmal denkend etwas Neues entgegensetzen. Denn das scheint mir klar: Das Neue ist nicht nur einfach das Nicht-Alte. Ein Neues wird sich nur durchsetzen, wenn es die Lebensbedürfnisse der Menschen besser als das Alte erfüllen kann. Danach ist zu suchen.