Streifzüge 36/2006
KOLUMNE Rückkopplungen
von Roger Behrens
„Ist was Pop? „, fragte Diedrich Diederichsen am Ende der neunziger Jahre in Anspielung auf Peter Bogdanovichs Komödie , Is was, Doc? ‚ (, What’s Up, Doc? ‚). In dem Film, der 1972 in die Kinos kam, geht es um den etwas zerstreuten und eigensinnigen Musikwissenschaftler Dr. Howard Bannister (Ryan O’Neal), der sich um die Finanzierung seiner Forschung über Klangsteine bemüht, die er in einem Koffer bei sich trägt. Der wiederum ist identisch mit einem anderen Koffer mit wertvollerem Inhalt. Bedrängt von der überdrehten Studentin Judy Maxwell (Barbara Streisand), wird Bannister in einen Juwelenraub verwickelt… Witz und gute Unterhaltung sind das Muster, an das Diederichsen hier mit seiner Reminiszenz gedacht haben mag; gemeint war seine Frage eher grundsätzlich und mit dem Ernst eines Musiktheoretikers gestellt, der selber dreißig Jahre Popgeschichte mitgeschrieben hat: Was ist Pop? Also: Was ist vom Pop geblieben, was ist aus dem Pop geworden? Was Diederichsen mit seiner Antwort skizziert, ist – wenn man bei dem Bild bleiben will – eher eine Verwechslungstragödie, jedenfalls wenig komisch: Die hier eingeführte begriffliche Unterscheidung von Pop I und Pop II gehört zu den klugen theoretischen Interventionen des Gründers des Kölner Popmagazins Spex und jetzigen Professors an der Merz-Akademie in Stuttgart. Pop I – das waren die sechziger bis achtziger Jahre, der spezifische Pop, im Sinne eines Gegenbegriffs zur etablierten Massenkultur, als subversive Nischenpraxis und kultureller Widerstand. Und Pop II – das ist der allgemeine Pop, der sich in den neunziger Jahren durchsetzt: eine in die Beliebigkeit überhöhte Pluralisierung der Symbole, die gleichermaßen Affirmation und Dissidenz versprechen; eine im Gewöhnlichen aufgelöste Haltung des Non-Konformismus, die das Geschmacksurteil zur radikalen Politik erklärt und Politik zur Angelegenheit des Privaten. Pop I schien die Opposition gegen das System zu sein; Pop II ist das System – hier wird nichts mehr überschritten.
Aufgenommen hatte Diederichsen das als Schlussbefund in seinem 1999 erschienenen, eine Trilogie von Popkritiksammlungen abschließenden Band , Der lange Weg nach Mitte‘: Mit dem Pop II wurde das Zentrum selbst zur Nische erklärt, die Subkultur als Mode endgültig allgemein. Ein Projekt wie die Spex, nunmehr vor über zwanzig Jahren mit dem Ziel begonnen, die unterirdische Geschichte der Popkultur aufzuzeichnen, ist längst obsolet, wenn mittlerweile selbst die CD-Kritiken in den Reklameblättern und Werbezeitschriften im Gestus und Geist der Subversion formuliert sind. Musikmagazine zeigen hier eine ähnliche Entwicklung wie das ebenfalls vor knapp einem Vierteljahrhundert etablierte Musikfernsehen: Das Thema Musik wird längst von anderen Medienformaten bedient; hier geht es jetzt um die imaginäre Einheit aus Sex, Mode oder Autos; Musik ist kaum mehr ein Nebenthema, eher ein bloßes Accessoire, und die Musiker versuchen als Schauspieler, Moderatoren oder Models zu reüssieren. Wer dagegen etwas über Musik erfahren möchte, wird heute eher in den Feuilletons der großen Tageszeitungen fündig.
„Der Sound und die Stadt“ – so hieß sein damaliges Buch , Der lange Weg nach Mitte‘ im Untertitel: Es ging um Berlin, Frankfurt etc. , also um Pop in der Großstadt. Aber es ging auch um das spezifische Verhältnis von Architektur und Klang, um das allgemeine Verhältnis von Musik und Kunst. Und spätestens wenn ein Artikel über Bernard Edwards – den 1996 gestorbenen Bass-Spieler, der mit seinem Basslauf in Le Chics , Good Times‘ berühmt wurde – mit „Ein Disco-Bauhaus“ überschrieben ist, weiß man, worauf sich Diedrichsen mit seiner Idee von Kultur bezieht: auf Musik als Kunst. So erklärt sich auch der Untertitel, den Diederichsen für sein neues Buch benutzt: „Avantgarde und Alltag“. Die Avantgarde ist der Pop I, der ja kunstgeschichtlich nicht einfach nur ebenso gescheitert ist wie die klassischen Avantgarde-Bewegungen der Moderne, sondern: Das, was einmal den Pop I ausmachte, war ja der Versuch, die gescheiterte Avantgarde mit neuen Mitteln wieder zu beleben: Pop als Aktualisierung des Versprechens der Avantgarde, Kunst und Leben ineinander aufzuheben und in der Praxis zu verwirklichen. Die Avantgarde scheiterte, weil die Kunst falsch aufgelöst, nämlich in die bestehende Ordnung integriert wurde, ohne damit die Strukturen von Kunst und Leben selbst zu verändern; und Pop I scheiterte, weil sein Versprechen falsch im Pop II eingelöst wurde: als reiner Alltag.
Diederichsen nennt sein neues Buch bündig , Musikzimmer‘ und bezeichnet damit einen Rückzugsort, eine private Nische des Pop I inmitten des Systems Pop II. Ein großbürgerlicher Raum, der eigentlich im Angestelltenmilieu des Pop II gar nicht mehr vorgesehen ist. „Zimmer beschreibt die Kontinuität der Tradition bürgerlicher Innenausstattung und der Rolle, die Musik dabei spielte: von der Hausmusik zur Stereoanlage mit Plattensammlung.“ (S. 25) Für Diederichsen ist dieses Zimmer jedenfalls nicht die Musikredaktion; und als Metapher ist das Zimmer nicht einmal mehr der Musikjournalismus, und ebenso wenig die Konzerthalle, das Museum der Musik. Das Musikzimmer scheint vielmehr die Passage zu sein, wo sich für Diederichsen Avantgarde und Alltag heute begegnen: „Über Avantgarde kann man jedenfalls nicht mehr in Pop-Zeitschriften schreiben. Das ist nämlich Kunst, und Kunst geht alle an.“ (S. 21)
Das ist die Perspektive, mit der auch die Frage „Ist was Pop? “ neu gestellt werden muss: Sie zielt nämlich darauf, was an der Kunst Musik ist, oder besser: was das Musikalische in der Kunst ist. Das heißt für Diederichsen nicht nur, dass er unabhängig vom gängigen Kanon und jenseits von E und U nach Spuren der musikalischen Avantgarde sucht (und bei Charles Ives, Anton Webern, Larry Levan, Archie Shepp bis Courtney Love und Miss Kittin findet), sondern – und das ist entscheidend – die Rolle der Musik für die Avantgarde diskutiert. In der Moderne ist die Musik die Leitkunst geworden; spätestens mit dem Pop scheint die Musik ohnehin allgegenwärtig zu sein. Doch zugleich ist der Pop II auch bemerkenswert unmusikalisch, weshalb eben zur Disposition steht, ob denn tatsächlich die Musik noch die Leitkunst innerhalb der Künste ist, wie es Anfang der Vierziger der marxistische Kunsttheoretiker Clement Greenberg diagnostizierte. Es kann also die Eingangsfrage merkwürdig zugespitzt werden: Ist Pop noch Musik?
Diedrich Diederichsen, Musikzimmer. Avantgarde und Alltag, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 240 Seiten, 9,90 Euro.