Kleine Hegelei auf die Liebe und das Vögeln
von Franz Schandl
Liebe ist der höchste Dienst an einem anderen Menschen für sich selbst. Ein Dienst, der freiwillig erfolgt: selbstlos, bedingungslos, allumfassend. Liebe ist die tendenzielle Aufhebung primärer Selbstbezüglichkeit. Leidenschaft ist ihr Kennzeichen. Liebe ist nur dann möglich, wenn diese aus sich heraus wirklich Leiden schaffen kann.
Gefühle kennen keine Freiheit. Sie können nicht ausgewählt werden. Sie bemächtigen sich unser, ohne dass wir ihrer jemals wirklich mächtig werden können. Wir vermögen nach ihren Gründen zu fragen, doch ihren Wirkungen stehen wir vorerst einmal ohnmächtig und ausgeliefert gegenüber. Gefühle sind in ihrem konkreten Dasein nicht konservierbar. Soll die Liebe zumindest substanziell erhalten werden, bedarf es stets der transformatorischen Anstrengung. In ihr kann man/frau nicht ausruhen, sie verlangt Redynamisierung und Reaktualisierung.
Schenken statt tauschen
Geben und Nehmen verschmelzen im Schenken der Liebe, sind aber nicht als Tausch von Äquivalenten zu verstehen. Dieses Spüren der Liebe ist nicht messbar, sondern un(ab)schätzbar. Sobald hier das gegenseitige Messen eindringt – und in der bürgerlichen Gesellschaft geschieht dies unweigerlich – verliert die Liebe ihren hehren Charakter, wird im besten Fall zu einer Zweckgemeinschaft zweier Vertrauter, sinkt zur PartnerInnenschaft ab.
Beim Lieben fallen Weg und Ziel, Mittel und Zweck ineinander. Das Machen und das Gemachte sind eins. Liebe meint das Im-Produzieren-Konsumieren. Es gibt somit keine Fertigstellung der Liebe. Ist sie fertig, ist sie aus.
Wahr kann die Liebe schnell sein. Doch ist sie wirklich, dann ist sie dialektisch. Wahre Liebe kann einseitig sein, wirkliche Liebe nicht. Diese muss Verwirklichungen im sich bedingenden wie bedingungslosen Handeln finden. Wirkliche Liebe ist erlebte Liebe, wirkungsvolles Tun. Sie bedarf zweier aktiver Menschen. Das Ich ist ein Dich und das Dich ist ein Ich. Dich meint hier ja nichts anderes als das Du-Ich. Ich liebe dich wird eins in seiner Umkehrung.
Wirkliche Liebe ist praktisch. Sie verwirklicht sich im bewusstlosen und doch bewussten Zusammentun. In ihrer konkreten Setzung mag man/frau sie ein gegenseitiges Behandeln nennen, bei dem die Früchte der Zuneigung verkostet werden. „Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt, die an Macht sich gleich und also durchaus füreinander Lebendige, von keiner Seite gegeneinander Tote sind. […] In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes, [sondern] als Einiges, und das Lebendige fühlt das Lebendige.“ (Hegel)
In und außer sich
Das Subjekt wird zum Objekt, obwohl es Subjekt bleibt; das Objekt wird zum Subjekt, obwohl es Objekt bleibt. Es ist eine Doppelung im Akt, man/frau ist in und außer sich. Lieben meint auch das Sich-lieben-außer-sich. Man/frau verwirklicht sich im anderen. Das Subjekt hebt sich im Objekt auf, das Objekt ist im Subjekt gut aufgehoben. Nicht nur sinnbildlich, sondern sinnwirklich. Dies ist nicht nur auf der reinen Gefühlsebene erfahrbar, es zeigt sich auch und vor allem an der fleischlichen Lust, an der Vereinigung der Körper. Fühlen steigert sich ins Spüren. Was sich liebt, das fickt sich!
Nichts ist lustvoller als der auf Liebe basierende menschliche Koitus. Wer auf ihn – aus welchen Gründen auch immer – verzichtet oder verzichten muss, verliert Leben im Leben, enthält sich des größten menschlichen Genusses. Jeder Augenblick eines solchen Glücks ist ein Stück gewonnenes Lebens. Leben ist Lieben.
Reingehen ist gleich Reinholen
Die geschlechtliche Vereinigung als aktives Eindringen und aktives Aufnehmen ist die höchste Verwirklichung zweier Menschen aneinander, weil ineinander. Die Geschlossenheit des jeweiligen Ichs wird im Geschlechtsakt durchbrochen. Die Liebenden demonstrieren ihr intimstes Wesen, legen sich gegenseitig offen, machen sich auf. Es ist Erkennen, wie es das Alte Testament richtig benennt. Das Erkennen seiner und ihrer selbst am anderen und des anderen an einem und einer. Nur in dieser identischen Gegenseitigkeit ist Weite und Tiefe der Liebe möglich. Auf der sexuellen Ebene heißt sich erkennen, nicht nur sich (zu) begreifen, sondern zu sich vor- und in sich einzudringen. Solcherlei Intimität liegt jenseits der Diskretion der Körper. Die leibliche Offenbarung des Erkennens in ihrer höchsten Form ist der Koitus. Koitus meint zentriertestes Leben. Er ist das essenzielle Erleben, Aufleben, Ausleben, Ableben, kurzum der kleine Tod, der das Leben bereichert.
Im gelingenden Koitus hebt sich sogar die Trennung der Individuen im Moment der Vereinigung auf. Im Vögeln gehen die Menschen über sich hinweg und hinaus, sie finden in einem anderen zu sich, sie gehen ineinander über. Was sie suchen, ist sich selbst im anderen, was sie finden ist dasselbe. Vögeln meint gegenseitiges Aufladen und Entladen, ist ein gegenseitiges Schenken in Lust ohne Verlust. Der gemeinsame Orgasmus ist die vollendete Dialektik der Körper.
Vögeln heißt, sich an einem anderen Körper zu verwirklichen. In ihm werden und vergehen. In ihm sich suchen und versuchen. In ihm sich erfinden und finden. Eins spürt sich, weil eins völlig außer sich zu zweien zusammen ist. In Hegels Sprache: „Aber die Gattung ist ebenso wesentlich affirmative Beziehung der Einzelheit auf sich in ihr, so dass sie, indem sie, ausschließend, ein Individuum gegen ein anderes Individuum ist, in dieses andere sich kontinuiert und sich selbst in diesem anderen empfindet.“
Vögeln ist voll untrennbarer Momente seiner Extreme: Freiheit und Gefangenheit, Fesselung und Entfesselung, Unterwerfung und Unterworfensein. Vögeln ist ein Akt permanenter Sichselbstaufhebung im anderen, das Gleiten von einem in das andere und das Zurückfluten, das Raus und Rein, das Umfangen und Auslassen.
Gedeihliche Sexualität ist die Aufhebung von Esoterik und Exoterik in ihren jeweiligen Gegensätzen. Sexualität wird verstanden als verinnerlichte Entäußerung oder entäußerte Verinnerlichung. Sie ist Dialektik auf höchster Stufe: Zu sich kommen, weil außer sich sein. Du und Ich, alles kommt durcheinander, aber alles kommt durch und zu sich.
aus: Unique 1, Jänner 2005, S. 9.
(Kurzfassung des Artikels „Versuchungen. Skizzen über die Liebe und das Vögeln, Weg und Ziel 2/1996)