Streifzüge 31/2004
von Lothar Galow-Bergemann
Überarbeitete Fassung eines Diskussionsbeitrags auf dem Krisis-Seminar im Mai 2004
Die wertkritische Kritik bewegt sich derzeit auf einem so hohen Allgemeinheitsgrad, dass sie zu einer praktischen Anwendung noch wenig taugt. Aber was nicht ist, kann und sollte noch werden.
Selbstredend kann es nicht darum gehen, eine fertig ausgearbeitete Theorie auf das gesellschaft-liche Leben loszulassen, sie „anzuwenden“, womöglich noch „schöpferisch“, womit es spätestens nach bekanntem Gescheitertem riechen würde. Trotzdem braucht jede Art Praxis ihre Praktiker. Also keine Unpraktischen. Will heißen: Sollen gesellschaftliche Kämpfe und Bewegungen künftig mehr Anlass zur Hoffnung auf Emanzipation geben, so ist zunächst einmal Kampf und Bewegung in den Köpfen der Akteure angesagt.
Die Wertkritik müsste also ein dringendes Interesse daran haben, den Akteuren sozialer Ausei-nandersetzungen gewissermaßen den Kopf zu verdrehen. Nun lehrt uns das Leben, dass für solcher-lei Vorhaben eine gewisse Attraktivität von unschätzbarem Vorteil ist.
Wagen wir doch mal einen heimlichen Blick und schauen uns an, was da so abgeht zwischen dem Gewerkschafter (wir wollen ihn praktischerweise G nennen) und der Wertkritik (nennen wir sie W).
„Duuu“, flüstert W mit gekonntem Augenaufschlag, „also da ist was, was ich Dir eigentlich schon immer sagen wollte. Du meinst ja bei jeder Gelegenheit, Geld sei genug da und es sei nur falsch ver-teilt. Mein Lieber, das ist ein bisschen naiv. So einfach ist die Welt nicht.“
G bleibt sonderbar zurückhaltend.
W schaut ihm tief in die Augen und flötet: „Du, da wär‘ noch was. Deine Auffassung, falsches Management und solche Sachen seien das Problem – also das ist echt voll daneben. Du musst wis-sen, dass die Wirtschaft im Grunde genommen gar nicht anders kann, als sie tut.“
G brummelt.
W wird mutiger: „Hör mal zu, Dein Glaube, eine andere Politik sei möglich, ist auf Sand gebaut. Du nimmst die ökonomischen Realitäten einfach nicht zur Kenntnis.“
G rutscht in die andere Sofaecke.
Darauf W mit Schmollmund: „Ach Du bist aber auch so was von realitätsfern. Verstehst Du nicht, dass Vollbeschäftigung und sozialstaatliche Absicherung für alle nichts als Träume von gestern sind? “
G beschließt, sich doch lieber nach einer anderen umzusehen. Einer, die ihm nettere Sachen sagt.
W geht aufs Ganze. Jetzt oder nie. Sie wirft sich ihm an den Hals und haucht ihm ins Ohr: „Mein Süßer, ganz tief in meinem Herzen drin, da sagt es mir: Eigentlich bist Du nichts anderes als ein – Auslaufmodell.“
Nun, jeder mag sich selber ausmalen, wie so ein Rendezvous ausgeht.
Die beiden haben Probleme miteinander. Schauen wir uns die mal näher an.
G’s Begeisterung über W hält sich verständlicherweise schon deswegen in Grenzen, weil sie ausgerechnet von ihm verlangt, er möge sich selber gefälligst als Auslaufmodell begreifen. Als ob das nicht genug wäre, kommen ihm ihre Botschaften aber auch noch merkwürdig bekannt vor. Genau genommen ist er ihnen permanent ausgesetzt, er hat ständig damit zu tun. So argumentieren nämlich auch seine (immanenten) Gegner: „Geld umverteilen – das ist Unfug. Die Wirtschaft muss sich nach den ökonomischen Notwendigkeiten verhalten. Wer von der sozialen Hängematte träumt, versteht nichts von der Wirtschaft. Die Politik muss sich danach richten. Gewerkschaften sind von gestern.“ Das ist sein täglich Brot.
Die Folge: statt dass G in rasender Liebe zu W entbrennt, liegt viel eher eine kühle Distanz in der Luft. „Das kenne ich doch alles. Und zwar von denen, die mir übelwollen. Das sind die TINA-Argumente – there is no alternative – mit denen ich am Kampf gehindert werde. “
W plagen ebenfalls Probleme mit G. Sie kommt ins Grübeln:
Wie schaffe ich es, ihm die Botschaft vom Ende des Keynesianismus überzeugend zu vermitteln? Und wie tue ich dies so, dass diese Botschaft für ihn nicht demotivierend und lähmend wirkt?
Gesetzt den Fall, sie wolle es noch einmal mit ihm versuchen – und sie sollte es tun – so stellen sich ihr mehrere Schwierigkeiten entgegen.
Erstens gibt es, und das bei weitem nicht nur bei unserem G, jede Menge Abwehr gegen die Einsicht, dass das System der Wertverwertung zunehmend an seine Gren-zen stößt. Eine vorübergehende Krise ist vorstellbar, eine finale eigentlich nicht wirklich. Dazu kommt, dass G der geborene Skeptiker ist. Im christlichen Abendland ist es nun mal seit jeher ein Markenzei-chen von Sekten gewesen, das nahende Ende zu prophezeien. Und W kommt ihm ausgerechnet da-mit. Nebenbei bemerkt sind es jetzt auch schon 15 bis 20 Jahre, in denen sie bei allen möglichen An-lässen das Ende des Kapitalismus prophezeit hat. Er lebt aber immer noch. Das macht ihre Botschaf-ten nicht attraktiver.
Zweitens wird G’s Erkenntnisblockade erheblich dadurch gefördert, dass er sich ein „Leben danach“ nicht wirklich vorstellen kann. Auch W hilft ihm dabei wenig, sie bleibt bekanntlich regelmäßig äußerst schmallippig, wenn’s darum geht.
Drittens gibt es für G, und nicht nur für ihn, das unumgängliche Diktat des unmittelbaren Alltagsinteresses. Er müsste also um die „monetäre Absicherung“ seiner Klientel kämpfen, selbst wenn ihm hundertprozentig klar wäre, dass dies langfristig eine Sackgasse ist.
Viertens ist G bodenständig. Das muss nicht immer und ausschließlich schlecht sein. Er will Handfestes. Es fehlen ihm überzeugende Beispiele dafür, wie man die Taube vom Dach runterkriegt, weswegen der Spatz in der Hand durchaus einen gewissen Charme für ihn hat. Er kann sich nicht so recht vorstellen, was das sein sollte, eine „zweite Linie“ des Kampfes aufzu-bauen, eine der „Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums jenseits von Arbeit, Wert und Ware“. Er will nicht glauben, dass so etwas geht, er will es sehen.
Fünftens hat W ein subjektives Vermittlungsproblem. Geradeheraus gesagt: W könnte sich schlicht und ergreifend auch ein bisschen geschickter an ihn heranmachen.
Und das nun sollte uns besonders interessieren. Eigentlich hat sie nämlich gar nicht so schlechte Karten. Denn sie sieht ihn ja mit vollem Recht in immer mehr Erklärungsnöten. Ihre Aufgabe lautet folglich: Wie bringt sie ihn auch subjektiv in sol-che Nöte?
Wie wär’s denn, wenn unsere gute W einfach mal ein wenig über ihre Klamotten nachdächte? Nicht, dass ihre Kledage zu verachten wäre. Ganz im Gegenteil. Das bezaubernde Abendkleid der Krisis ist wundervoll und auch der flotte Kombi der Streifzüge steht ihr einfach ausgezeichnet. Aber vielleicht sollte sie im Falle unseres noch etwas spröden G ein bisschen mehr Mut zeigen und auch mal an was gewagtes Kurzes denken…
Gefragt sind Argumentationsblätter mit beschränkter Seitenzahl und hoher Auflage, praktikable mail-Aussendungen, die Zugang zum „normalen“ Bewegungsaktivisten finden, in einer Sprache, die er versteht. Sinn und Zweck solcher Publikationen könnte naturgemäß nicht sein, die Wertkritik rauf und runter zu deklinieren. Es ginge vielmehr ums Ankratzen, um’s Erschüttern scheinbar unerschütterli-cher Gewissheiten, um erste hinführende Gedanken, die den Blick für Neues öffnen könnten.
So wäre z. B. die verbreitete Aufregung um „die Abzocker“ und die damit einhergehende ebenso kreuzgefährliche wie massenhaft verbreitete Gewissheit vom Kampf der „bösen Raffgier“ gegen die „ehrliche Arbeit“ auf- und anzugreifen. Ferner die in linken Gewerkschafterkreisen recht beliebte Theo-rie vom so genannten „Shareholderkapitalismus“. Ebenso die in jedem gewerkschaftlichen und linken mainstream-Flyer auftauchende Gebetsmühle vom „Geld, das genug da ist und nur anders verteilt werden muss“. Ein drängendes Vermittlungsproblem stellt sich auch beim Problemkreis „Personalisie-rung und abstrakte Herrschaft“. Jeder, der praktisch tätig ist, kommt nämlich um ein gewisses Maß an Personalisierung gesellschaftlicher Konflikte nicht umhin. Ganz einfach weil es immer die konkreten Exekutoren gesellschaftlicher Zwänge gibt. Aber bekanntlich birgt die Personalisierung riesige Gefah-ren, besonders wenn sie sich mit Massenprotestbewegungen verbindet. Ist es zu leisten, solchen Bewegungen Einsichten in die abstrakte, in die subjektlose Herrschaft zu vermitteln? Ich weiß es nicht. Aber versuchen sollten wir es.
Wie funktionieren die Marktgesetze? Warum geht es mit der Arbeit den Bach runter? Warum befinden wir uns nicht in einem vorübergehenden Tal sondern am Beginn einer schiefen Ebene nach unten? Solche Zusammenhänge sollten jedenfalls auch Menschen vermittelbar sein, die keine Theo-rieschmöker wälzen. Es gibt bereits manche Versuche in diese Richtung. Das Bisherige wäre einmal zusammenzutragen und diejenigen, die daran Interesse haben, sollten ihre Kräfte besser bündeln als bisher.
Es geht aber nicht nur darum, die Botschaft verstehbarer zu machen, sie sollte auch überzeugen-der werden. Es sollte deutlicher werden, dass die Wertkritik gesellschaftlichen Tendenzen auf der Spur ist. Dass sie also mitnichten stets und steif behauptet, dass sich bestimmte von ihr entdeckte Entwicklungslinien schon hier und jetzt voll und ganz durchge-setzt und entfaltet hätten und dies möglichst auch gleich noch weltweit bis in den letzten Winkel. Die häufige Beschreibung von Zuständen mit der Formel „dies und jenes ist nichts weiter als“ ist möglicherweise Ausdruck für diese immer wieder auftauchende Versuchung. Das Beispiel mit dem allzu flotten Herbeiargumentieren der finalen Krise „hier und jetzt“ wurde bereits genannt.
Es gibt aber nicht nur Schwierigkeiten, sondern auch Chancen. So hätte die schöne W durchaus die Möglichkeit, dem etwas begriffsstutzigen G näher zu kommen, wenn sie sich ein wenig intensiver dem Thema der Arbeitszeiten widmen würde. Genau besehen, ist dieses Thema sogar die Chance für sie:
Erstens geht es hier um ihr ureigenstes Thema, nämlich um die Arbeit selbst. Natürlich noch lange nicht um deren grundsätzliche Infragestellung – das wäre von W erst in einen sich möglicherweise entwickelnden „Dialog über gegenseitig interessierende Fragen“ einzubrin-gen. Aber es geht immerhin um Fragen wie diese: Welche Zeit, welchen Stellenwert soll die Arbeit in meinem Leben einnehmen? Welche Perspektive hat die Arbeit? Müssen sich Produktivitätsfortschritte automatisch gegen die Menschen richten oder geht es auch anders?
Zweitens gibt es derzeit kaum ein Thema, an dem der Widersinn der Verhältnisse so plastisch und begreifbar wird wie bei der Frage, wie lange wir arbeiten sollen. Es ist selbst dem durchschnittlichen warenförmigen Bewusstsein kaum noch zu vermitteln, warum ausge-rechnet in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit ein Teil der Menschen immer mehr und immer länger schuften soll, während die anderen als überflüssig abgestempelt werden.
Drittens erleben wir gegenwärtig einen Generalangriff auf die Arbeits-zeiten. Mit der fließenden Entgrenzung von Arbeit im Zusammenhang mit neuen Produktions- und Managementmethoden haben wir es schon lange zu tun. Derzeit entwickelt das Thema zusätzlich eine ganz neue Brisanz, denn jetzt findet auch ein offener Angriff auf die tariflichen Arbeitszeiten statt, so wie es ihn noch nie gab (zumindest in Deutsch-land, österreichische Zustände sind mir weniger geläufig). Koordiniert zwischen Politik, öffentlichem Dienst und Privatwirtschaft. Mehr arbeiten für weniger oder bestenfalls das gleiche Geld, so lautet die neueste Zumutung der „besten Wirtschaftsordnung aller Zeiten.“
Viertens gibt es durchaus Ansätze in den Gewerkschaften, den in den 80ern nach dem erfolgreichen Kampf um die 35-Stunden-Woche und dessen „Nachhuterfolgen“ leicht-fertig fallengelassenen Faden der Arbeitszeitverkürzung wieder aufzunehmen. Teile der Gewerk-schaftsapparate sind hier übrigens eindeutig weiter als die Basis. So startete die IG Metall im Ange-stelltenbereich ein Projekt „Meine Zeit ist mein Leben“, wo es darum ging, die Beschäftigten für die Arbeitszeitfrage zu sensibilisieren. Ähnliches unternimmt verdi. Eine sehr gut besuchte Betriebsräte-konferenz von verdi Stuttgart zum Thema Arbeitszeit und Arbeitsbelastung drehte sich jüngst um Themen wie diese: „Wer dauerhaft länger arbeitet, ist früher tot.“ „Früher hatte es der Arbeitnehmer mit dem Kapitalisten zu tun, heute mit dem Kapitalismus. Wie können wir verhindern, dass diese Ano-nymität zu resignativen Antworten führt? “ „Wir haben im Betrieb ein Legitimationsproblem des Einzel-nen: Darf ich überhaupt noch über meine Lebensinteressen reden? Wie schaffen wir es, dass die KollegInnen sich wieder mehr darüber bewusst werden, welche Ansprüche sie eigentlich ans Leben haben? “ Eine der beliebtesten Parolen im Kampf um die 35-Stunden-Woche vor 20 Jahren lautete: „Mehr Zeit zum Lachen, Lieben, Leben.“ Solche Ansprüche sind wieder aus der Versenkung zu holen.
Fünftens wäre es ein überaus bedeutsamer Schritt, wenn sich wieder Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung entwickelten. Nach Lage der Dinge würden sich solche Auseinan-dersetzungen wohl am ehesten an der aktuellen Zumutung von Arbeitszeitverlängerungen entzünden. Möglicherweise ergibt sich kommenden Winter im Zusammenhang mit der Tarifrunde im öffentlichen Dienst eine Chance, diese Kämpfe zu entwickeln und weiterzutreiben.
W könnte sich in solche Auseinandersetzungen einbringen:
Warum wird die Arbeit eigentlich immer weniger? Ist das im übrigen nicht schön? Warum ist Ar-beitszeitverkürzung eine richtige Antwort auf die Zumutungen des Systems und warum ist sie trotzdem keine Lösung? Warum wird sich der Kapitalismus selbst bei partiell erfolgreichen Kämpfen nicht ein-fach „auf einem erträglicheren Niveau neu einpendeln“?
Wenn sich W dabei geschickt anstellt, wird G möglicherweise anfälliger werden für ihre Reize. Womöglich wird er gar nicht mehr der Alte bleiben. Es wäre folglich denkbar, dass wir zu leibhaftigen Zeugen eines Vorgangs werden, bei dem aus der Begegnung von G und W, aus G-W also, wahrhaftig so etwas wie
G-W-G‘
entsteht.
Hat sie ihm aber erst einmal den Kopf verdreht, so könnte es ihr durchaus widerfahren, dass er sie leidenschaftlich küsst. Sie sollte nicht glauben, dass dies für sie ohne Folgen bleibt. Denn in einem Universum, in dem
G-W-G‘
vorkommt, ist bekanntlich auch mit
W-G-W‘
zu rechnen.