Streifzüge 3/2003
von Anselm Jappe
Es gibt kleine Tatsachen des Alltagslebens, die wie ein Brennspiegel sind. Wenn man ihren Mikrokosmos eingehend betrachtet, kann man von da aus wesentliche Züge des gesellschaftlichen Ganzen erkennen. So ist es mit dem Transportwesen in verschiedenen Ländern im Zeitalter der Privatisierung und der Konkurrenz. In Deutschland sind Verkehrsmittel allgemein besonders teuer. In Frankreich sind die Fernverkehrsmittel es auch, und man hat außerdem geringe Chancen, zur gewünschten Zeit am gewünschten Ort zu sein. Jedenfalls wenn man so altmodisch ist, zum Bahnhof zu gehen, einfach ein Ticket nach X zu lösen und auf den üblichen Sieben-Uhr-Zug zu warten. Wer nicht Preise bezahlen will, die ein Taxi konkurrenzfähig machen, muss sich, bevor er den Zug, und in Deutschland auch die Straßenbahn nimmt, durch ein Labyrinth jeder Sorte von Angeboten kämpfen, die sich außerdem ständig ändern. Angebote für verheiratete und unverheiratete Paare, Familien und Kaninchenzüchtervereine, für morgens um sieben und nachts um zwei, für die, die nur einen halben Tag, und die, die drei Monate am Zielort bleiben. Die Fahrkartenautomaten für den Autobus sind in Deutschland regelrechte Computer; es sind dafür schon eigene Beratungsstellen eingerichtet worden. Auf Reisebüros ist wenig Verlass, da die Angestellten mit den ständig neuen Angeboten nicht mitkommen. Was den Fahrplan angeht, ist jeder Art von Information erst recht nicht zu trauen, seit es keine gedruckten Fahrpläne mehr gibt. Hilflos den Computern ausgeliefert beteuern die Angestellten, zwischen 10 und 15 Uhr führen nur Züge mit dreimal Umsteigen zum gewünschten Ort, denn der Direktzug um 9 Uhr 57 wird vom Computer nicht erwähnt, wenn man Abfahrt ab 10 Uhr eingegeben hat. Platz im „Doppelschlafwagen“ gibt es keinen mehr, und weder Angestellte noch Computer wissen, dass es noch viele Plätze im damit praktisch identischen „Zweierschlafwagen“ gibt. Denn der Computer kennt nur seine Eingaben, der gesunde Menschenverstand fehlt ihm ebenso wie seinen Bedienern.
Aber das Schlimmste sind die französischen Fahrpläne, die sicher bald überall Schule machen werden. Kein Tag ist wie der andere! Dieser Zug fährt nur am Dienstag, außer im August, da fährt er die ganze Woche, der andere fährt ab Ende September an jedem Wochenende, außer am letzten Oktoberwochenende, der dritte fährt ab dem 5. November nur noch bis zur Mitte seiner vorherigen Strecke. Tägliche Züge sind eine absolute Seltenheit, erst recht, dass sie sich jahrelang gleichbleiben.
Aber es gibt ja auch keine gedruckten Tabellen am Bahnhof mehr, die einem den Bahnsteig anzeigen. Deswegen stehen jetzt Herden von Menschen in den kalten Hallen, die auf elektronische Tabellen emporstieren, die ihnen wenige Minuten vor der Abfahrt ankündigen, wohin sie jetzt alle gemeinsam zu stürzen haben.
Jeder wird diese Erfahrung gemacht haben. Aber warum das Ganze? Schuld ist die schwachsinnige Vorstellung, man könne ein Transportunternehmen in ein Privatunternehmen verwandeln, das möglichst schnell möglichst viel Profit zu erwirtschaften hat. Man weiß, dass die Eisenbahnunternehmen der verschiedenen Länder nur daran interessiert sind, auf einigen wenigen großen Linien den Flugzeugen Konkurrenz zu machen, und vielleicht noch etwas zu verdienen mit viehwagenähnlichen Pendlertransporten im Einzugsgebiet der Großstädte. Aber Verbindungen von einem Provinzort zum anderen funktionieren heute schlechter als vor zwanzig oder zehn Jahren oder sind ganz eingestellt worden. Allerorten wächst Gras gerade über den schönsten Eisenbahnlinien. Da sieht man schon, dass man von „Fortschritt“ nur in Bezug auf einige Spitzenprodukte sprechen kann. In kleinen Orten geht hingegen eine regelrechte „Entzivilisierung“ vor sich, was Transporte, Banken, Büros, Geschäfte angeht. Die offizielle Ideologie ist es, dass sich die Transportunternehmen „flexibel“ auf die Wünsche der Kunden einstellen, Züge nur dort einsetzen, wo sie wirklich benutzt werden, deshalb die Kosten niedrig halten, und außerdem jedem die Möglickeit bieten, einen für ihn passenden Billigtarif zu finden. Aber die „Flexibilität“ wird in Wirklichkeit einseitig vom Kunden verlangt, will er überhaupt noch reisen. Wendet er Zeit und Nerven auf, einen Billigtarif zu finden, richtet er dann noch seine Ankunfts- und Abfahrtszeit danach, kauft er schon Monate vorher sein Ticket, am besten ohne Rücktrittsrecht, dann gelingt es ihm gerade, so viel zu bezahlen, wie er einst, in Reallohn gerechnet, für ein ganz normales, jederzeit gültiges Billet bezahlte. Ein Single, der einmal im Jahr kurzfristig eine Reise antreten will, bezahlt dafür unvergleichlich mehr als früher – und das trotz des massiven Personalabbaus der Bahnen. Soviel eben, wie eine Bahn kostet, die an der Börse quotiert werden will. Nur reiche Leute können es sich heute leisten, ohne langes Abwägen einfach in den Zug zu steigen. Eine schöne Gelegenheit für die Snobs der Art, die es lieben zu verkünden, sie hätten keine Ahnung, was ein U-Bahnticket kostet.
Was hat er davon, dass die Bahnen, wenn immer sie befürchten, ihre Züge nicht voll zu kriegen, sie lieber erst gar nicht auf den Fahrplan setzen? Ganz im Gegensatz zur angeblichen „Individualisierung“ unserer Zeit und der „Differenzierung der Lebensstile“ sind Fahrpläne und Preise, wenn überhaupt, nur für den reinen Durchschnittsmenschen passend, der von einer Großstadt zur anderen und über dieselbe Strecke wieder zurückreist und schon Wochen vorher auf die Minute genau Abfahrt, Ankunft und Rückfahrt festlegen kann, da er als Lohnempfänger sowieso nie spontan über seine Zeit verfügen kann. Wer in dieses Schema nicht reinpasst, der bleibt am besten zu Hause: in vielen Zügen darf man ohne Platzreservierung nicht einmal mehr im Stehen mitfahren, und sie sind oft schon Tage vorher ausgebucht. Das Leben bestraft diejenigen, die nicht ihr ganzes Leben im Voraus verplanen. Und warum diese ständige, den Reisenden zugemutete Flexibilität? Um des Profits willen. Und warum der Profit? Wegen der Privatisierung. Und warum die Privatisierung? Wegen des Neoliberalismus. Und warum der Neoliberalismus? Wegen der Krise des globalen Kapitalismus. Wer vom Fahrplan ausgehend konsequent fragt, der kommt zur Absurdität des Kapitalismus als solchem. Denn wie die postmodernen Menschenverwalter selber sagen: es gibt keine Alternative. Wem der Fahrplan nicht passt, der muss nein zum Kapital sagen. Und nein muss er auch zum warengesellschaftlichen Totalitarismus sagen. Denn wenn jede Straßenbahn- oder Zugfahrt zum Martyrium wird, das mit stundenlangen Internet- oder Agenturkonsultationen beginnt, und wenn man stets einen Winkel seines Gehirns für das Kaleidoskop der Preise und Fahrpläne freihalten muss, dann bestätigt das Hanna Arendts Behaupung, dass totalitäre Systeme ihre Untertanen in ständiger Bewegung halten, so dass sie nie innehalten und nachdenken können. Nur dass Arendt damit Nazismus und Stalinismus meinte, und nicht deren vermeintliches Gegenteil, die westliche Demokratie. Aber vielleicht ist Stalin ja in den Zug gefahren.