Kennen Sie Camus?

von Maria Wölflingseder

Das Gegengewicht zum Absurden bildet die Gemeinschaft der Menschen, die dagegen kämpfen.“

„Dichter des Aufruhrs und der Freiheit, der mühelos zugleich der Dichter der Liebe ist.“ Mit diesen Worten beschrieb Albert Camus seinen engen Vertrauten, den Schriftsteller und Résistance-Kämpfer René Char. – Man möchte Camus entgegenrufen: „Danke, gleichfalls!“

Den aktuellen Absurditäten, den politischen, wirtschaftlichen, humanen Verwerfungen und Katastrophen, die vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wären, möchte ich das Werk eines Beharrlichen entgegensetzen. Eines Unermüdlichen, der sich weder mit dem Absurden abfand noch sich von Ideologien jeglicher Art verleiten ließ. Angesichts schierer Sprachlosigkeit ob des aufgeflammten Irrsinns soll einer zur Sprache kommen, der seine tiefgreifende Gesellschaftskritik – die ihrer Zeit weit voraus war – stets klar formulierte. Viele sogenannte zivilisatorische Errungenschaften, die damals noch in den Kinderschuhen steckten, sah er bereits als bedrohliche Fehlentwicklung voraus. Differenziertes und undogmatisches Denken, wie es Albert Camus (1913–1960) eigen war, passte aber nicht in die allzu schematischen Köpfe seiner Zeitgenossen. Wie konnte ein Linker in den 1950er-Jahren die USA genauso wie die Sowjetunion kritisieren? Wie konnte jemand mit Syndikalisten genauso Kontakte pflegen wie mit Christen oder Marxisten? Wie konnte sich jemand in Algerien um einen friedlichen Weg des Pluralismus bemühen – lange vor dem Unabhängigkeitskrieg? Und anstatt die Nationale Befreiungsfront die Bewegung um Messali Hadj unterstützen – die erste, die um Befreiung kämpfte, sich aber 1954 vom gewaltsamen Widerstand distanzierte? Wie konnte jemand den Fortschritt kritisieren, die Atomwirtschaft, die neuen Technologien und den Kapitalismus? Wo es doch nach dem Zweiten Weltkrieg endlich wieder aufwärtsging?

Je nach Entfernung und Bekanntheit wurde Camus entweder diskreditiert und verhöhnt – wie in Frankreich –, oder ignoriert – wie im deutschsprachigen Raum. Eine weitere Option war, ihn zu vereinnahmen. In Deutschland und Österreich war Camus als essayistischer und politischer Autor kaum bekannt. Nicht verwunderlich, wurde doch die deutschsprachige Herausgabe des Gesamtwerks erst in den 1990er-Jahren in Angriff genommen. Einzig seine literarischen Werke wie Der Fremde und Die Pest waren schon früh Schullektüre im Französisch-Unterricht. Was ihm jedoch das Etikett „Philosoph für Abiturenten“ einbrachte. Lou Marin, ein in Marseille lebender Deutscher – der die libertär-syndikalistischen Schriften von Camus übersetzte, kommentierte und herausgab –, meinte sogar noch Ende der 90er-Jahre, sein Werk sei „in Deutschland mehr ein Gerücht als eine Bekanntheit“.

Aber auch im 111. Jahr nach Camus’ Geburt ist es nicht zu spät, ihn kennenzulernen. Nach meinen drei Einblicken (2015, 2016 und 2023) in das Leben und Werk Camus’ möchte ich nun einen kleinen Überblick geben über zentrale Begriffe und deren Inhalte. Einmal mehr eine Einladung, die Bücher von und über Camus zu lesen. Gerade weil er keine letztgültigen Worte und keine generalisierenden Handlungsanweisungen aussprach, regt er zu Differenziertheit an. Von wem könnten wir besser lernen, dass es auch ganz andere Sicht- und Handlungsweisen gibt als die jeweils vorherrschenden. Von wem könnten wir besser lernen, dass der Weg zwischen den „Fronten“ zwar schwierig, aber möglich ist. Und von wem könnten wir besser lernen, dass selber denken das Wichtigste ist, anstatt gehorsam etwas zu übernehmen oder auch nur hinzunehmen.

Sisyphos, Prometheus, Nemesis

In den mythischen Gestalten erfährt der Mensch ein Bild seiner Möglichkeiten. – Camus’ Werk teilt sich in drei Stadien, in drei Zyklen. Jedes Stadium steht einerseits für sich und baut andererseits auf dem vorigen auf. So entsteht ein kohärentes Gesamtwerk. 1. Das Absurde, in dem der Mythos von Sisyphos verhandelt wird. 2. Die Revolte, der Mythos von Prometheus. Und 3. der unvollendete Zyklus: die Liebe und der Mythos von Nemesis. Nemesis ist die Göttin des gerechten Zorns. Sie bestraft die menschliche Selbstüberschätzung. Für Camus ist sie eine Allegorie des Maßes, der Verantwortung, der Grenze.

Jeder Zyklus beinhaltet einen Essay, einen Roman und ein Drama. Der erste: Der Mythos von Sisyphos, Der Fremde, Caligula. Der zweite: Der Mensch in der Revolte, Die Pest, Die Gerechten. Der dritte Zyklus blieb unvollendet. Zum Mythos von Nemesis bzw. zum mittelmeerischen Denken hat Camus bereits in Der Mensch in der Revolte geschrieben und auch seine wunderbaren poetischen Essaysammlungen Hochzeit des Lichts (1938) und Heimkehr nach Tipasa (1954) zählen zu diesem Bereich. In seinem ihm wichtigsten autobiografischen Roman Der erste Mensch knüpfte Camus an diese Essays an. Dieses Buch ist zwar unvollendet, aber dennoch sein Meisterwerk. (In Das fesselnde Spiel und die spielerische Leichtigkeit des Albert Camus bin ich darauf eingegangen. Streifzüge 65/2015)

Camus’ Ausgangspunkt lautet: „Ich weiß nicht, ob die Welt einen Sinn hat, der über sie hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne … und ich weiß, dass ich die beiden folgenden Gewissheiten nicht in Einklang bringen kann: mich verlangt nach Absolutem und nach Einheit, aber diese Welt lässt sich nicht auf ein rationales, vernunftmäßiges Prinzip zurückführen.“

Das Absurde bezeichnet also den Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach Sinn und Verstehen und dem desillusionierenden Schweigen der Welt und der Dinge. Das Verlangen nach Sinn und Einheit und die Realität von Nichteinheit müssen demnach nebeneinander bestehen bleiben. Dieser Widerspruch kann weder aufgehoben noch kann eine Seite absolut gesetzt werden.

Camus entscheidet sich also für das skeptische Denken. Dies verlangt eine „Bejahung des Widerspruchs“ und den „festen Entschluss, sich darin zu halten, um darin zu überleben“. Mit „lucidité“, mit klarem Erkennen, ohne Illusionen und ohne Vertröstungen auf ein Jenseits durch einen Glauben soll dieser Diskrepanz begegnet werden. Das heißt jedoch nicht, sich anzupassen oder gar zu resignieren. Es gibt nur zwei Auswege, den Selbstmord oder – die logische Weiterentwicklung des Absurden – die Revolte. „Ist die Absurdität einmal erkannt, dann wird sie zur Leidenschaft, zur herzzerreißendsten aller Leidenschaften.“ Nur so kann die Absurdität auch Grundlage einer Lebensgestaltung werden, das Spannungsverhältnis gelebt und der Selbstmord abgelehnt werden. Bereits im Essay Der Mythos des Sisyphos, in dem das Absurde im Zentrum steht, greift Camus den Begriff der Revolte auf: die Revolte Sisyphos’ gegen das Schicksal. Hier geht es noch um einen individuellen Ausweg: „Ich rebelliere, also bin ich.“

Im nächsten Zyklus, in Der Mensch in der Revolte, wird der Begriff der Revolte erweitert. Camus nimmt auf den Prometheus-Mythos Bezug. Prometheus als Urbild des mutigen Rebellen, der sich gegen die Macht, die Maßlosigkeit und Unmenschlichkeit – von Zeus – zur Wehr setzt. Die Revolte wird nun eine historische, eine sich auf die kollektive Erfahrung der Absurdität beziehende, also eine mitmenschlich-gemeinschaftliche: „Ich rebelliere, also sind wir.“ Es ist eine Revolte, die niemals absolut wird, die aber auch nie ein Ende finden wird. Eine, die permanent ringt, sich gegen Ungerechtigkeiten auflehnt, eine solidarische, eine liebende Revolte. Es gilt, Verantwortung zu übernehmen und für die Freiheit einzustehen. Dies entspricht der menschlichen Natur. „So leite ich vom Absurden drei Schlussfolgerungen ab: meine Auflehnung, meine Freiheit und meine Leidenschaft.“ Das Standhalten gegenüber dem Absurden erfordert jedoch „beständige Anstrengung im Denken und Handeln“.

Camus möchte nicht wählen „zwischen dieser Licht- und dieser Schattenseite der Welt“. „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Auf diese Zwiespältigkeit bin ich in Eine lang gesuchte Antwort näher eingegangen (Streifzüge 66/2016). Wohl ein bedeutender Dreh- und Angelpunkt. Nicht nur das Ertragen dieser Spannung, sondern sie leben zu können, scheint unerlässlich für das Durchhalten einer kritischen Position. Durch seinen heute weitverbreiteten Mangel fehlt es jedoch vielfach an der Fähigkeit zum Widerstand als auch an der zum Genuss!

Das Absurde und die Liebe

Zur Liebe gibt es keinen eigenen Text von Camus, aber wir begegnen ihr in seinem Werk überall. Drei Beispiele: „So ist es nicht möglich, vom Absurden ausgehend die Revolte zu durchleben, ohne an irgendeinem Punkt auf die Erfahrung der Liebe zu stoßen, die zu definieren bleibt.“

Im September 1937 notiert Camus im Tagebuch anlässlich seines Besuchs der Ausstellung Mostra Giottesca in den Uffizien in Florenz unter anderem: „Die Wolken ballen sich über den Kreuzgang, und die Nacht überdunkelt nach und nach die Grabplatten, auf denen die Moral festgehalten ist, die man den Verstorbenen zuschreibt. Wenn ich hier eine Morallehre schreiben müsste, würde das Buch hundert Seiten umfassen, und davon wären 99 leer. Auf die letzte würde ich schreiben: ,Ich kenne nur eine einzige Pflicht, das ist die Pflicht, zu lieben.‘ Und zu allem Übrigen sage ich nein. Ich sage nein mit all meiner Kraft.“

„Denn nicht geliebt zu werden ist nur ein Missgeschick, nicht zu lieben aber ein Unglück.“ Die Revolte ist für Camus die „Bewegung der Liebe“, das „Zu-sich-selber-Kommen“ des Menschen.

„Kein einfaches Thema, hat es doch mit unserer gewöhnlichen Vorstellung von Liebe wenig zu tun“, betont die Philosophin Anne-Kathrin Reif. In ihrem anspruchsvollen Buch Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe (2013)hat sie sich auf die Spur zum dritten Stadium gemacht. „Albert Camus hat kein philosophisches Systemgebäude hinterlassen. Sein Denken ist ein Weg. Diesen Weg habe ich, so wie ich ihn erkenne, noch einmal abgeschritten. Das Ganze ist kein leichter Spaziergang“, schreibt Reif in ihrem spannenden, informativen und oft amüsanten Blog 365tage-camus.de. Da das Buch vergriffen ist, bleibt nur, auf ihre Dissertation zu verweisen, die online frei verfügbar ist: „Die Welt bietet nicht Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten“ : zur Bedeutung der Liebe im Werk von Albert Camus (1999).

Liebe, Freundschaft und Solidarität bieten eine Perspektive. „Das Gegengewicht zum Absurden bildet die Gemeinschaft der Menschen, die dagegen kämpfen“, notiert Camus im Tagebuch.

Revolte versus Revolution

In seiner Essaysammlung Der Mensch in der Revolte beleuchtet Camus die Ideengeschichte der Moderne, die aus Geschichtsphilosophien aller Spielarten hervorgegangenen politischen Theorien und Praxen. Er verortet Verwandtschaften zwischen scheinbar gegensätzlichen Ideologien und spitzt die einzelnen Theorien und politischen Strategien bis zum Selbstwiderspruch zu und widerlegt eingefahrene Interpretationen.

Camus’ Ausgangspunkt ist immer die konkrete Existenz des Menschen im Hier und Jetzt, mit seinem Verlangen nach Glück, Freunde, Liebe, Schönheit und seiner unvermeidlichen Erfahrung von Leid, Unglück, Scheitern und Tod. Auch die Revolte geht von den Erfahrungen des Einzelnen aus und fordert Einheit, Würde und Sein. Die Revolution hingegen geht von einer abstrakten Idee aus, von einer Ideologie, von der Schaffung eines neuen Menschen. Eine Idee utopischer Art wird in die geschichtliche Erfahrung eingeführt und das Sein des Menschen in der Totalität der Geschichte aufgelöst. Revolutionäre bzw. staatliche Gewalt zur planmäßigen Umsetzung dieser Idee sind oft die Folge.

Mit folgenden Sätzen beschreibt Camus die Unterschiede der Begriffe Revolte und Revolution, die auf den Erfahrungen der letzten 200 Jahre gründen. Die Revolte „ist in ihrem Beginn nicht die totale Verneinung allen Seins. Im Gegenteil, sie sagt gleichzeitig ja und nein, sie verwirft einen Teil der Existenz im Namen eines anderen, den sie verherrlicht … Die Bejahung einer Grenze, einer Würde und einer den Menschen gemeinsamen Schönheit zieht nur die Notwendigkeit nach sich, diesen Wert auf alle und alles auszudehnen und auf die Einheit zuzugehen, ohne die Ursprünge zu verleugnen. In diesem Sinn rechtfertigt die Revolte in ihrer ursprünglichen Echtheit kein rein geschichtliches Denken. Die Forderung der Revolte ist die Einheit, die Forderung der geschichtlichen Revolution die Totalität. Die erstere geht von einem Nein aus, das sich auf ein Ja stützt, die letztere von der absoluten Verneinung und verurteilt sich zu jeder Knechtschaft, um ein Ja hervorzubringen, das an die Grenze der Zeiten hinausgeschoben ist. Die eine ist schöpferisch, die andere nihilistisch.“

Camus’ Definition von Revolte bietet eine Alternative zu den verabsolutierenden Geschichtsentwürfen eines Hegel und Marx. „Die absolute Revolution setzte tatsächlich die absolute Formbarkeit des Menschen voraus … Aber die Revolte ist die Weigerung des Menschen, als Ding behandelt zu werden …“ Die Begriffe Grenze, Maß, Nein sind von zentraler Bedeutung. Sie werden anhand des Mythos von Nemesis und im mittelmeerischen Denken weiter ausgeführt. Dabei geht es nicht um moralische Grenzen, sondern um grundsätzliche Fragen der conditio humana. – Camus hat auch stets mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass auf das passende Verhältnis zwischen Zielen und Mitteln sorgsam zu achten sei. Zwänge, Gewalt, auch Staatsgewalt hat er abgelehnt. Gewalt ließe sich zwar nicht immer vermeiden, sie sei aber nicht zu rechtfertigen.

Camus kommt in Der Mensch in der Revolte zum Schluss: Mit fanatischen Anhängern einer Ideologie oder eines Glaubens lässt sich nicht diskutieren. Die einen Streben nach innerweltlicher, die anderen nach außerweltlicher Erlösung.

Die neue Mittelmeerkultur

Welch erstaunlich radikale Zivilisationskritik hat Camus geübt! Folgender Ausschnitt aus dem kleinen Essay Helenas Exil in der Sammlung Heimkehr nach Tipasa veranschaulicht, was mit dem „mediterranen Denken“ („pensée de midi“) gemeint ist. Midi heißt sowohl Mittag als auch Süden. Camus beruft sich auf die Frühzeit der griechische Antike, überliefert vor allem durch die Vorsokratiker, durch Sokrates und die klassischen Tragiker, die vor menschlicher Hybris gewarnt haben.

„Für das griechische Denken war stets die Begrenzungsidee vorherrschend. Es hat nichts auf die Spitze getrieben, weder das Heilige noch die Vernunft, weil es nie etwas verleugnete, weder das Heilige noch die Vernunft. Es hat alles einbezogen, den Schatten durch das Licht ins Gleichgewicht bringend. Unser Europa hingegen, das sich berufen fühlt, alles zu erobern, ist die Tochter der Unmäßigkeit. Es leugnet die Schönheit, wie es alles leugnet, was es nicht anbetet. Und es betet … ein Einziges an: den zukünftigen Sieg der Vernunft. In seinem Wahn versetzt es die ewigen Grenzen, und in diesem Augenblick stürzen sich düstere Erinnyen (Bewacherinnen der Gerechtigkeit, Anm. M. W.) darauf und zerreißen es. Nemesis wacht, die Göttin des Maßes, nicht der Rache. Alle, die die Grenzen überschreiten, werden von ihr unerbittlich gestraft.“ Und Heraklit zitierend: „Die Sonne wird ihre Grenzen nicht überschreiten. … Vermessenheit, Rückgang des Fortschritts.“

Bereits im Alter von 23 Jahren hat Camus seine Vorstellungen von einem friedlichen Zusammenleben im Mittelmeerraum formuliert, von dem ganz Europa lernen könnte. So entdecken wir ein wahres Fundstück im – 2021 erstmals auf Deutsch erschienenen – Band mit Vorträgen und Reden: Die einheimische Kultur. Die neue Mittelmeerkultur. Er hielt diese Rede 1937 anlässlich der Eröffnung des Maison de la Culture in Algier, dessen Generalsekretär er war. Sie wurde auch in der Zeitschrift des Kulturhauses Jeune Méditerranée abgedruckt. Anhand von historischen Befunden wird der Mittelmeerraum als Schmelztiegel zwischen Orient und Okzident dargestellt, der sich immer wieder neu erfunden hat. Aber die abstraktionskritische Kultur blieb stets erhalten, in der Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Schönheit im Fokus stehen, genauso wie die Schöpfung und das schöpferische Schaffen. Für Camus fällt dieser Kultur „die Aufgabe zu, auch die heutigen Weltanschauungen zu verändern. Ein mediterran geprägter Kollektivismus wird sich grundlegend vom ursprünglichen russischen Kollektivismus unterscheiden.“ – Camus grenzt sich dabei aber dezidiert von Vereinnahmungen durch einen rechten Traditionalismus ab.

Um wie viel brisanter als zu Camus’ Zeiten sind die Worte aus Helenas Exil heute: „… wahr ist, dass der Mensch die Schönheit nicht entbehren kann, und einzig unsere Epoche scheint dies nicht glauben zu wollen. Sie versteift sich, um die absolute Herrschaft zu erreichen; sie will die Welt verwandeln, bevor sie sie ausgekostet hat; sie will darüber verfügen, bevor sie sie begriffen hat. … die Welt wird öde dadurch. Odysseus darf bei Kalypso zwischen der Unsterblichkeit und der heimatlichen Erde wählen. Er wählt die Erde und mit ihr den Tod. Eine so einfache Größe ist uns heute fremd.“

Auch in der Rede Der Künstler und seine Zeit an der Universität Uppsala anlässlich seiner Nobelverleihung im Dezember 1957 übt Camus erstaunliche Kritik. Er zeigt auf, dass seit ungefähr hundert Jahren unsere Gesellschaft „nicht einmal die Gesellschaft des Geldes genannt werden kann“, sondern sie wurde zu einer „Gesellschaft der abstrakten Symbole des Geldes“, die von einer „gewissen Art von Mystifikation“ geprägt ist. „Eine auf Zeichen gegründete Gesellschaft ist ihrem Wesen nach eine künstliche Gesellschaft, in der die leibliche Wahrheit des Menschen an der Nase herumgeführt wird.“ – Und in Der Mensch in der Revolte schreibt Camus über „das Drama unserer Zeit, in der die Arbeit, weil ganz der Produktion unterstellt, aufhörte, schöpferisch zu sein“. Das Schöpferische jedoch ist eine conditio sine qua non für ein freies menschliches Dasein. „Jede Schöpfung verneint in sich die Welt des Herrn und des Sklaven. Die hassenswerte Gesellschaft von Tyrannen und Sklaven … wird ihren Tod und die Verwandlung erst auf der Ebene der Schöpfung finden.“

In Helenas Exil ist auch die Rede vom Heiligen. Ja, Camus betonte seinen „Sinn für das Heilige“, obwohl er nicht an ein Weiterleben nach dem Tod glaubte. Er pflegte dennoch Kontakte zu Christen, insbesondere, wenn es um die Verwirklichung gemeinsamer Ziele ging. Auch Franz von Assisi war für ihn von Bedeutung. Jener „mediterrane Mensch, der aus dem Christentum der Innerlichkeit und der Askese einen Hymnus an die Natur und die unbefangene Freude gemacht hat“. Und Simone Weil, französische Philosophin, Sozialrevolutionärin und christliche Mystikerin – unter anderem von Franz von Assisi beeinflusst –, war für Camus neben seinem Freund René Char jene Autorin, die ihm am nächsten stand. Da Weil 1943 mit 34 Jahren in England starb, lernte Camus sie nie persönlich kennen, aber als Lektor bei Gallimard entdeckte er ihre umfangreichen Manuskripte, die er kommentierte und in mehreren Bänden herausgab.

Wenige haben zu seiner Zeit solch weitreichende Kritik jenseits vorgefertigter Ideologien geübt. Und Resignation, Verzweiflung oder Zynismus waren für Camus keine Perspektive. Triftige Gründe, ihn wieder aufzugreifen oder überhaupt erst genauer kennenzulernen. Es steht auch noch aus, so manche Hintergründe von Vorurteilen gegenüber Camus näher zu beleuchten (vgl. zum Beispiel Lou Marin: Camus gegen Sartre). Überdies ist es verwunderlich, dass noch kaum jemand „geistesverwandte“ Aspekte anderer Kritiker und Kritikerinnen erkannt und mit jenen von Camus in Beziehung gesetzt hat. Einen ersten Hinweis darauf werde ich in der Online-Ausgabe diesem Beitrag anhängen. Don’t miss it! A bientôt!

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PS: Wegen des Abschieds von unserer Mutter kann ich die angekündigte Erweiterung dieses Beitrags erst später verfassen und online stellen.

Vor über zehn Jahren hat mich meine Mutter – ebenfalls namens Maria Wölflingseder – auf Albert Camus’ Buch „Der erste Mensch“ aufmerksam gemacht. Nach der Lektüre dieses Buches habe ich begonnen, mich eingehender mit Camus zu befassen.

Meine Mutter ist am 9. Oktober 2024, einen Monat nach Ihrem 91. Geburtstag, gestorben. Sie war sehr lange Zeit wegen ihrer Schulterarthrose und anderer Beschwerden stark bewegungseingeschränkt. Neben körperlichen Schmerzen, litt sie auch stark unter der Unmöglichkeit, ihre vielfältigen Aktivitäten und ihr reges Engagement weiterführen zu können und unter der damit verbundenen sozialen Abgeschiedenheit. Umso mehr freute sie sich zum Beispiel darüber, einem syrischen Flüchtling behilflich sein zu können. Sie dichtete seine Lyrik auf deutsch nach.

Mehr als zwölf Jahre lang habe ich viel Zeit und Energie aufgebracht, meine Mutter in verschiedener Weise zu unterstützen. Nunmehr werde ich mich wieder vermehrt dem Schreiben widmen können.

Obwohl ihre geistigen Kräfte im letzten Jahr mehr und mehr schwanden, erkundigte sich meine Mutter nach Erscheinen dieses Beitrags in der Druckausgabe der Streifzüge im Sommer, ob ich Reaktionen darauf erhalten hätte. Ja, das habe ich. Und ich hoffe, mit der Online-Veröffentlichung noch mehr Aufmerksamkeit für den „unbekannten“ Camus entfachen zu können.

Meiner Mutter sei dieser Beitrag gewidmet.

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Literatur

Albert Camus: Reden und Vorträge 1937–1958, Hamburg 2021.

Albert Camus: Unter dem Zeichen der Freiheit, Camus-Lesebuch (eine Einführung) hg. und mit Zwischentexten von Horst Wernicke, Reinbek bei Hamburg 1985.

Lou Marin: Camus gegen Sartre, in: Begegnungen feindlicher Brüder, hg. von Philippe Kellermann, Münster 2012. – Eine gekürzte Fassung davon: https://direkteaktion.org/209-fallstricke-nationaler-befreiung/

Lou Marin, Hg.: Albert Camus – Libertäre Schriften 19481960, Hamburg 2013.

Lou Marin: Ursprung der Revolte: Albert Camus und der Anarchismus, Heidelberg 1998.
Martin Meyer: Albert Camus – Die Freiheit leben, München 2013.

Annemarie Pieper: Albert Camus, München 1984.

Anne-Kathrin Reif: Albert Camus – Vom Absurden zur Liebe, Königswinter 2013.

Anne-Kathrin Reif: „Die Welt bietet nicht Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten“ : zur Bedeutung der Liebe im Werk von Albert Camus (Dissertation, Universität Wuppertal 1999), online verfügbar.

Dennis Sölch, Oliver Victor, Hg.: Albert Camus – ein Philosoph wider Willen? Zur Geschichte und Gegenwart seines Denkens; mit Beiträgen u.a. von Holger Vanicek, Brigitte Sändig, Anne-Kathrin Reif, Lou Marin, Hans Schelkshorn, Mario Wintersteiger, Basel/Berlin 2022.

www.365tage-camus.de

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