Krieg in der Ukraine: Vorkriegszeit im Westen

von Lorenz Glatz

Die Sowjetunion und ihr Militärpakt sind zerfallen, nicht so die von den USA „zum Schutz“ vor der UdSSR gegründete NATO. Vielmehr „the problem with a state having lots of capabilities is that if it has them, it’s going to want to use them“ (Kenneth Waltz, amerikanischer Politologe). Daher hat die übriggebliebene Supermacht die sich am Ende des Kalten Kriegs ergebenden „capabilities“ genutzt und die ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten sowie die baltischen Republiken der gescheiterten Sowjetunion mit Hilfe der regierenden Eliten Zug um Zug der Nato einverleibt und die westliche Überlegenheit weiter vergrößert.

Der Anschluss der Ukraine aber würde den Kipppunkt für die Weltmachtstellung Russlands, des mit der Hälfte der Bevölkerung weiter existierenden, atomar bewaffneten Kerns der Sowjetunion, bedeuten. So hat es der Präsidentenberater Brzezinski (The Grand Chessboard, 1997) analysiert, und die politischen Führer der USA gingen ans Umsetzen – mit der „orangen Revolution“ in der Ukraine 2004, dem antirussischen Putsch 2014 und der Erklärung des NATO- und EU-Beitritts zu einem Staatsziel 2019. Russland reagierte mit der Besetzung der überwiegend russischsprachigen Krim und der Unterstützung des Aufstands im gleichartigen Donbas 2014 und schließlich mit der Invasion der Ukraine 2022. Seitdem macht der Westen schleichend mobil.

Als prorussische Kriegspropaganda gilt im Westen alles, womit eins auf die Beteiligung von USA, NATO und EU an der Entwicklung zum und im Krieg hinweisen, ja selbst eine Äußerung des Papsts, in der er für sofortige Friedensverhandlungen eintritt. Die Sprachregelung vom „Angriffskrieg“, die Personalisierung des Feindes auf „Putin“, das von den Präsidenten der USA und der EU abwärts proklamierte „aktuelle“ Ziel eines „Siegs über Russland“, die massiven Waffenlieferungen an die Ukraine und das Training ihrer Soldaten in den NATO-Ländern, die laufend nachgeschärften Wirtschaftssanktionen und die Behauptung, dass die Ukraine „die westlichen Werte“ und die Demokratie gegen das autoritäre „Putin“-Regime in Russland verteidigt – all das und noch mehr sind inzwischen den Bewohnern des Westens vertraute Verlautbarungen.

Vergessen gemacht sind hingegen Darstellungen wie die der deutschen „Bundeszentrale für politische Bildung“, die der ukrainischen Politik 2013 noch zuschreibt: „Fehlende Rechtsstaatlichkeit, mangelnde Bürgerrechte, Demokratiedefizite, Korruption und prügelnde Parlamentsabgeordnete bestimmen das mediale Bild“ (www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/170305/demokratie-durch-referendum). Seit dem Einmarsch russischer Truppen kommen zudem noch die Verbote der wichtigsten Oppositionsparteien und die vorsorgliche Absage der Präsidentschaftswahlen hinzu.

Keine Rolle mehr spielen inzwischen auch die kurz nach dem russischen Überfall unter israelischer und türkischer Vermittlung aufgenommenen Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien. Dabei wurde von ukrainischer Seite ein Plan vorgelegt, der den Verzicht auf den NATO-Beitritt, eine Neutralitätserklärung und die Bewerbung um einen EU-Anschluss beinhaltete. Der Vertrag sollte durch eine Reihe von Garantiestaaten geschützt und die Fragen bezüglich der von Russland besetzten Krim und der annektierten Gebiete des Donbas sollten binnen 15 Jahren in bilateralen Verhandlungen gelöst werden. (FriedensForum Ausgaben 4 / 2023) Laut dem um Vermittlung bemühten damaligen israelischen Ministerpräsidenten Bennett „gab es eine gute Chance auf Waffenstillstand, wenn sie ihn nicht verhindert hätten“. Mit „sie“ sind Großbritannien und die USA gemeint, die die Ukraine dazu bestimmten, den Krieg gegen Russland weiterzuführen. (Interview Berliner Zeitung 6.3.23)

Der Krieg zieht sich mittlerweile in die Länge. Und seit die Waffenlieferungen an die Ukraine die Vorräte der westlichen Heere und die Kapazitäten der Rüstungsindustrie strapazieren, wird ohne Scheu die im Gang befindliche „Umstellung auf Kriegswirtschaft“ und die „Massenproduktion von Rüstungsgütern“ verkündet. (www.telepolis.de/features/EU-setzt-auf-Kriegswirtschaft-Massenproduktion-von-Ruestungsguetern-laeuft-an-9679958.html) Allein Deutschland hat für das „aktuelle Ziel“ umgehend 100 Mrd. Euro Kredit als „Sondervermögen Bundeswehr“ seiner Bevölkerung in Rechnung gestellt, was immerhin ein zusätzliches Zweijahresbudget für die Bundeswehr ausmacht. Generell rüsten die europäischen EU- und NATO-Staaten schon länger auf. Zwischen 2013 und 2023 stieg deren Wirtschaftsleistung um 12 Prozent, die Gesamtbeschäftigung um 9 Prozent. Die Militärbudgets nahmen dagegen um 46 Prozent zu und lassen die Aktienkurse der Kriegsindustrien boomen. Und in der Zuversicht, „dass Putin besiegt wird“, haben die Eliten des bislang neutralen Schwedens und Finnlands ihre Länder „sicherheitshalber“ in die Nato geführt.

Sterben, Bluten, unter Trümmern liegen müssen dafür zunächst einmal die Ukrainer*innen und die Soldaten Russlands, sofern sie nicht rechtzeitig ins Ausland geflohen sind. Den „Heldentod“ sind so in den letzten zwei Jahren weit mehr ukrainische und russische Soldaten gestorben als amerikanische in zwölf Jahren Krieg in Vietnam. Aber inzwischen ruft auch der beliebteste Politiker des großen Nachbarn Österreichs, Verteidigungsminister Pistorius, nach einer „kriegstüchtigen deutschen Truppe“ (Deutsche Welle 4.4.24), und auch hierzulande fordert der „Risikobericht“ des Ministeriums: „Österreichs Bundesheer muss kriegsfähig gemacht werden“ (Kurier 29.1.24)

Der französische Präsident Macron hat im Februar das Tabu eines Atomkriegsrisikos bei einer direkten Konfrontation von NATO und Russland in Frage gestellt und die Entsendung von französischen und anderen NATO-Truppen gegen Russland in die militärische und politische Debatte gebracht, und laut Polens Premier Donald Tusk sei Europa „in einer Vorkriegszeit“ und müsse „bereit sein“. (Frankfurter Rundschau 30.03.2024).

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