Die Progressiven

Thesen zur fortschreitenden Regression der Linken

von Hendrik Wallat

Die politische Gegenwart weist die Mainstream-Linke als ausgesprochen autoritär aus. Man hält sich, die eigene Geschichte mittlerweile weniger verdrängend als überhaupt nicht kennend, irgendwie immer noch für die Guten, die per se moralisch überlegen sind. Andere Menschen zu erziehen, fühlten sich Progressive schon immer berufen, ihren Beglückungsfantasien notfalls auch mit Gewalt nachzuhelfen, dazu sehen sie sich gleichsam naturrechtlich legitimiert, schließlich geht es ja um das Gute, das man sich einbildet selbst zu sein. Offensichtlich ist, dass gerade diese Hybris immer wieder zur Rechtfertigung von Herrschaft und Gewalt beigetragen hat. Die meisten Linken haben, wie ihre gesamte Geschichte, eine Abfolge von politischen Tiefpunkten, lehrt, schlicht überhaupt keine Probleme mit autoritären politischen Programmen und kollektivistisch-etatistischem Machbarkeitswahn. Die Freiheit des Einzelnen ist ihnen weder Ziel noch unbedingtes Gut; auf ein solches zu bestehen, sei vielmehr gleichermaßen autoritär wie asozial. Das Individuum ist ein potentieller Störfaktor für die progressive Weltbeglückung. So verkehrt der liberale und rechte Populismus daher auch liegt, wenn er, entweder nichts begreifend oder schlicht Klientelpolitik betreibend, die derzeitigen tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Transformationen in einen autoritären digitalen Bio-Kapitalismus als öko-sozialistische Machtübernahme anprangert, so sehr wohnt daher selbst noch diesem Irrtum ein Körnchen Wahrheit inne.

Der progressive Support des autoritären Umbaus der kapitalistischen Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse rührt nicht nur daher, dass Teile der Linken längst zum Establishment der ideologischen Staatsapparate gehören; das ist eine simple Tatsache, deren politische Folgen recht vulgärmaterialistisch, darum aber noch lange nicht verkehrt auf der Hand liegen. Er ist auch darin begründet, dass viele bis heute ungebrochen in der unaufgearbeiteten Tradition des linken Autoritarismus der Umerziehung und etatistischen Gesellschaftstransformation stehen. Zu mehr als zu einem formalen Bekenntnis zur Demokratie und ihrer Verfassung hat es ein Großteil der Linken nie gebracht. Sie haben von diesen keinen Begriff als Vermittlungsformen kapitalistischer Herrschaft und pflegen zu ihren bürgerlich-rechtstaatlichen Prinzipien ein rein taktisch-politisches Verhältnis.Wo sie das Sagen haben, darf sich daher das Individuum auch in Zukunft schon einmal warm anziehen. Vorerst gerät es bisher nur unter ideologisch-medialen und sozial-technologischen Dauerbeschuss, der sich auf das sinnliche Streben nach (auch materiellen) Glück und die liberale, rechtsstaatlich verbriefte Willkürfreiheit des Einzelnen richtet. Letztere wird von vielen Linken nicht als dialektischer und aufzuhebender Fortschritt begriffen, der historisch nicht von der bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftung zu trennen ist. Materielles Glück und individuelle Autonomie können zwar aufgrund des Klassencharakters dieser Vergesellschaftungsweise und ihrer subjektlosen Systemzwänge strukturell nicht universell und materiell verwirklicht werden; die politisch-rechtlichen Bewegungsformen bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung sind daher auch solche der abstrakten Herrschaft des Kapitals, nicht aber der konkreten Freiheit autonomer Individuen. Sie stellen dennoch gewiss nicht bloß eine „bürgerliche“ Rechtsfertigungslüge zur ideologischen Absicherung von asozialen Privilegien dar, als welche sie zunehmend (wieder) denunziert werden.

I.

Weite Teile der Linken sind nicht weniger autoritär, konformistisch und staatsgläubig wie der Rest der Bevölkerung. Dies betrifft die psychische Subjektkonstitution wie die politische Praxis gleichermaßen. Die meisten Linken stehen, wie (un-)bewusst auch immer, zu einem Großteil in der Tradition des sozialdemokratischen Autoritarismus, sofern sie reformistisch orientiert (und auch grün) sind, in einem geringeren Maße, dort, wo man sich noch der Revolutionsromantik hingibt, in der des bolschewistischen Totalitarismus, wobei der tschekistische Ungeist in einer völlig auf den Hund gekommenen „Antifa“ fortlebt. Von den bürgerlichen Freiheitsrechten und der demokratischen Verfassung der kapitalistischen Verhältnisse haben sie alle zumeist so wenig einen Begriff, wie sie zugleich ein rein instrumentelles Verhältnis zu ihnen pflegen. An die Stelle der Selbstbefreiung und Autonomie setzt der autoritäre Mainstream-Linke bis dato Umerziehung, Moralismus und digitale Denunziation – nicht nur im Politik- und Medien-, sondern auch im Wissenschaftsbetrieb. Darüber hinaus wandern, was strukturell gravierender ist, progressive Ideologeme zusehends derart weit in die herrschende Politik ein, dass die Momente der Rationalität im Irrationalen und des Fortschritts bürgerlicher Vergesellschaftung vermehrt zerstört werden. Das betrifft einerseits die repressive Moralisierung individueller Lebensführung und die Beschneidung der Willkürfreiheit des Einzelnen im Namen einer reaktionären „sozialen“ Freiheit, einem gegenwärtigen Hot-Spot-Ideologem der autoritären Linken. Andererseits werden, direkt mit der repressiven Moralisierung zusammenhängend, zunehmend die rationalen und emanzipatorischen Momente des bürgerlichen Rechts zerstört und damit die staatliche Sicherung abstrakter Freiheit und Gleichheit aller Individuen unterminiert. Diese progressive Regression geschieht in Namen einer reaktionären „Gerechtigkeit“, deren normativer Bezugspunkt nicht mehr virtuell autonome und nicht-identische Subjekte, sondern Gruppenidentitäten und politisch korrekte Gesinnungen sind, denen der Einzelne subsumiert wird.

Neu ist das nicht für die Linke, neu ist, dass sich ihre regressive Polit-Propaganda gesamtgesellschaftlich ausbreitet, sogar bis in das Bundesverfassungsgericht hinein, einer zutiefst vor-demokratischen Institution der deutschen Staatsverfassung, die jedoch im Zweifelsfall (vor „Corona- und Klimanotstand“) immerhin rechtsstaatliche Normen häufig gegen autoritäre Politik verteidigte. Zu dieser Entwicklung passt, dass man im „alten weißen Mann“ den Klassen- und im rechten „Schwurbler“ den Fortschrittsfeind auch wieder handfest zu personalisieren versteht. An ihnen darf der progressive Gutmensch seine eigene, schlecht unterdrückte Aggression dann umso ungehemmter ausleben und im Kampf gegen die überall lauernde Verschwörungstheorie der eigenen Verschwörungsmentalität freien Lauf lassen. Nicht die irrationalen Verhältnisse brüten dieser zufolge den Wahn aus und schreien nach Kritik, sondern ihre irrationale rechte Kritik wird zur eigentlichen Quelle der Bedrohung der Wirklichkeit. Mit dieser hat sich die Linke längst derart ausgesöhnt, dass sie sich ihre grundsätzliche Kritik nur noch in Form von wahnhaften Verschwörungsideologien „regressiver Rebellen“ (Amlinger/Nachtwey) imaginieren kann, was selbst lupenreiner Ausdruck jener verschwörungsideologischen Verkürzung und Personalisierung gesellschaftlicher Phänomene ist, die man dem potentiell stets mindestens strukturell antisemitischen Anderen a priori wie kollektiv unterstellt – um ja nicht mehr sich auf irgendeine inhaltliche Diskussion einlassen zu müssen, zugleich aber den eigenen Verein mittels der projektiven Konstruktion eines äußeren Feindes zusammenhalten zu können; wahrlich kein Privileg von Rechten. Dass Linke, die hinter jedem falschen Blick eines Polizisten strukturellen Rassismus wittern, die meinen, dass die Gewalt dieser Gesellschaft ursächlich von der Polizei selbst ausgeht, und zur Freude des sich ausbreitenden Racketwesens ihre Abschaffung im Hier und Jetzt fordern, gleichzeitig aber nach härtestem Durchgreifen der Polizei gegenüber politisch unkorrekten Protesten lechzen, offenbart die gerne hinter Polit-Phrasen sich verbergenden Abgründe dieses politischen Milieus. Die Linke ist als Meister der Doppelmoral, anders als sie es sich einbildet, keinesfalls per se eine Kraft der Emanzipation, wie ihre Geschichte und Gegenwart jeden lehrt, der nicht bereits Opfer ihrer progressiven Ticketmentalität und ihrer Geschichtsmythologie geworden ist.

II

Konformismus und Autoritarismus der Linken werfen ein bezeichnendes Bild auf die Universitäten, in deren sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten nicht wenige Mitglieder dieser Spezies akademisch sozialisiert werden. Das Maß an Konformismus und Halbbildung, welches dort systematisch produziert wird, dürfte selbst für denjenigen erschreckend sein, der kein idealistisches Bild von den bürgerlichen Bildungsanstalten hat. Besonders frappierend ist die postmoderne Melange aus politischer Denunziation von Wissenschaft als Macht- und Herrschaftsform (des weißen Mannes) und gleichzeitig krudester Apologie positivistischen Flachdenkens, einhergehend mit der Ausblendung der Funktion und Organisation des Wissenschaftsbetriebs in kapitalistischen Gesellschaften. Dies ist freilich nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Dessen verbindende Klammer ist der postmodern-gramscianische, von den Rechten als „Kulturmarxismus“ etikettierte Kampf um Macht und Hegemonie, der in stalinistisch-nietzscheanischer Manier Kritik und Wahrheit als Leitbegriffe der (Selbst-)Aufklärung offensiv zerstört (nicht zuletzt, indem diese als Inbegriff von Herrschaft denunziert werden). Wo das Argument und seine Objektivität nichts, willkürliche Gesinnung und (unter-)priviligierter Standpunkt hingegen alles zählen, sind Canceln und Denunziation keine Auswüchse, sondern die offensichtliche wie adäquate Erscheinung des Wesens selbst. Eine Lehre, die man überall ziehen kann, wo der progressive Zeitgeist sein Unwesen verbreitet. Am krassesten und gleichzeitig gefährlichsten ist dies im Bereich des Islam-Appeasements der Fall. Hierzu gehört auch die Erkenntnis, dass ein Großteil der progressiven Ideologie hegemonial geworden ist und sich komplett kapital-kompatibel verhält; bei mir vor Ort weht vor einem autonomen Wohnprojekt, einem großen Sozialdienstleister und dem örtlich größten Industrieunternehmen die gleiche bunte Flagge. Ideologisch sind die Progressiven offensichtlich die herrschende Klasse. Sie steht in keiner Hinsicht antagonistisch zum kapitalistischen System, sondern ist eine ihrer gerade für dessen ideologische Reproduktion zentralen Stützen.

III

Es ist daher auch kein Wunder, dass bis weit in die Kreise kritischer Theorie hinein nicht dialektische Gesellschaftstheorie betrieben wird. Stattdessen hat man sich dem metaphysischen und politischen Positivismus verschrieben. Anders als es für diesen konstitutiv ist, gilt es für dialektische Kritik, nicht nur den Meinungssubjektivismus, den die linken Wissenschaftsfreunde jenen „Schwurblern“ vorhalten, die ihre unwissenschaftliche Meinung autoritär-wahnhaft absolut setzen, als geistige Verfallserscheinung kapitalistischer Vergesellschaftung zu dechiffrieren. Es wäre nicht weniger deutlich zu machen, dass die andere Seite der Hypostasierung der subjektiven die autoritäre Durchsetzung der gesellschaftlich als wahr sanktionierten Meinung durch die politisch-mediale Macht darstellt – wovon die positivistisch und demokratisch geläuterten Linken nichts wissen wollen. Es ist hier nicht der Ort, Adornos hochaktuellen Essay Meinung Wahn Gesellschaft im Einzelnen zu erörtern oder seinen provokativen Aphorismus Pseudomenos aus der Minima Moralia zu diskutieren. Festgehalten zu werden verdient allerdings allemal der Sachverhalt, dass die naive Gegenüberstellung von objektiver Wahrheit auf der einen, guten und richtigen Seite von Wissenschaft und öffentlicher Mehrheitsmeinung und einer falschen und verkehrten Meinung auf der anderen Seite, sich ganz sicher nicht auf Adorno berufen kann, was selbstredend nichts über die (Un-)Wahrheit einer Aussage besagt: „Über das, was wahr und was bloße Meinung, nämlich Zufall und Willkür sein soll, entscheidet nicht, wie die Ideologie es will, die Evidenz, sondern die gesellschaftliche Macht, die das als bloße Willkür denunziert, was mit ihrer eigenen Wahrheit nicht zusammenstimmt. Die Grenze zwischen der gesunden und der pathogenen Meinung wird in praxi von der geltenden Realität gezogen, nicht von sachlicher Einsicht.“ (Adorno, Theodor W.: Meinung Wahn Gesellschaft. Gesammelte Schriften Bd. 10.2, Frankfurt/M. 1997, S. 578) Selbstredend stellt dies keine Apologie von irrationalem Querulantentum dar. Wer pathologische Meinungen ideologiekritisch sezieren will, kann sich aber nicht in die Tradition der Kritischen Theorie stellen, wenn er nur jenen (individuellen und kollektiven) Wahn analysiert, der von der offiziellen Meinung abweicht. Dem pathologischen Dissens eines irrationalen Meinungssubjektivismus korrespondiert die Pathologie des öffentlichen Konsenses. Beide sind zwei sich bedingende Pole irrationaler Vergesellschaftung. Eine einfache, undialektische Entgegensetzung von irrational/pathologisch/unwahr und rational/gesund/wahr kann es bezüglich einer selbst hochgradig irrationalen Gesellschaft überhaupt nicht geben – eine Irrationalität, die ganz wesentlich auch eine ihrer Öffentlichkeit, ihrer medialen Meinungsbildung, ihres Wissenschaftsbetriebs und ihrer Subjektformen ist, wobei es mehr als fraglich ist, dass ausgerechnet jene „Gesunden“, welche die öffentliche (Staats-)Meinung unhinterfragt teilen, per se weniger autoritär, dafür rational-reflektierter agieren und urteilen sollen als die pathologischen „Querdenker“. All dies kann nur als ausgemacht annehmen, wer positivistisch oder hegelianisch denkt, was am Ende beides metaphysisch dasselbe ist und das Gegenteil von Kritischer Theorie darstellt. Wem das Ganze aus guten Gründen das Unwahre ist, dem kann die Wirklichkeit nicht eine Erscheinung der Vernunft sein, als welche sie jene begreifen, die den Schwurblern und Verschwörungsgläubigen mit staatlich beglaubigten, mehr oder weniger wissenschaftlich fundierten Faktenchecks zu Leibe rücken. Jene haben den Positivisten und Staatshegelianern allemal die Ahnung voraus, dass diese Welt tatsächlich substantiell irrational ist, was sich freilich bei ihnen in irrationalen Formen wie etwa Verschwörungsglauben etc. äußert. Das Gegenteil dieser pathogenen Meinung ist jedoch nicht die gesunde, die durch politische Autorität und Medien verbreitet wird, um sodann vom demokratischen, angeblich so gar nicht autoritären Subjekt abgenickt zu werden, sondern kritisches Bewusstsein, das diese Dialektik austrägt, nicht aber politisch willfährig leugnet: „Die Idee der freien Meinungsäußerung, die von der Idee einer freien Gesellschaft nicht getrennt werden kann, wird notwendig zu dem Recht, die eigene Meinung vorzubringen, zu verfechten und womöglich durchzusetzen, auch wenn sie falsch, irr, verhängnisvoll ist. Wollte man aber darum das Recht der freien Meinungsäußerung beschneiden, so steuerte man unmittelbar auf jene Tyrannei los, die freilich mittelbar in der Konsequenz von Meinung selbst liegt. Der Antagonismus im Begriff der freien Meinungsäußerung läuft darauf hinaus, dass dieser die Gesellschaft als die von Freien, Gleichen und Mündigen setzt, während die eigene reale Einrichtung all das hintanhält und einen Zustand permanenter Regression der Subjekte produziert und reproduziert.“ (Adorno, ebenda, S. 590)

IV

Zu den ideologischen Entwicklungen der Gegenwart gehört auch, dass neben der Queer-Ideologie und einem identitären wie anti-universalistisch-reaktionären Anti-Rassismus weitere Verfallsformen Kritischer Theorie zu Elementen der herrschenden politischen Ideologie geworden sind. Neben der Sozialpsychologie des autoritären Charakters und dem Schlagwort der konformistischen Rebellion, die sich, würde man sich dabei nicht selbst ertappen, ganz wunderbar auf jene münzen ließen, die sie in ihrem Integrationsideologem des „Kampfes gegen Rechts“ stets im Munde führen, ist allen voran die kritische Theorie des Antisemitismus und die (an sich richtige) Analyse der kapitalistischen Gesellschaft als abstrakte, subjektlose Form der Herrschaft zu nennen. Die kritische Theorie kapitalistischer Vergesellschaftung als strukturell antisemitischer hat sich längst zur Abwehrideologie von Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft verkehrt, die nun selbst als (strukturell) antisemitisch denunziert wird; institutionalisiert ist diese Verkehrung, die Kritik mundtot machen soll, den sozialen Grund des Antisemitismus notwendig reproduziert und antisemitische Praxis verharmlost, in Gestalt des Antisemitismusbeauftragen. Dies ist kein Plädoyer für dessen Abschaffung, auch nicht für die Schleifung politischer Demokratie-Bildung; politische Bildung, gerade die Aufklärung über jene Fundamente der bürgerlichen Demokratie und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, die gerade auch von progressiven Ideologen angegriffen werden, ist aktueller denn je. Man sollte nur nicht so tun, als ob all dies etwas mit kritischer Gesellschaftstheorie oder gar Kritik zu tun hätte. Vielmehr handelt es sich um ideologische Institutionen und Praktiken, die Ausdruck von gesellschaftlichen Widersprüchen sind, die sie notwendig reproduzieren. Oder anders und kürzer ausgedrückt: Dass sie notwendig sind und es kaum Ansätze besserer Alternativen gibt, besagt nicht im Geringsten, dass sie deswegen in irgendeinem Sinne an sich gut und vernünftig wären. Die Grenzen einer solchen politischen Aufklärung gegenüber regressiven politischen Ideologien sind strukturell-absolut. Vermittelte und rationalisierte Formen von Herrschaft, die nicht per se für kapitalistische Vergesellschaftung, aber doch für ihre westlich-bürgerliche Gestalt (wenigstens für einen längeren Zeitraum) konstitutiv (gewesen) sind, bezeichnen eben nicht die Abschaffung von Herrschaft, Ausbeutung und sozialer Irrationalität, sondern allein ihre fortschrittlichste Vermittlungsform, die es unbedingt gegenüber den ubiquitären Tendenzen der gesellschaftlichen Regression zu verteidigen gilt.

Eng mit dieser Problematik verbunden ist die Verkehrung der Kritik an verkürzter Kapitalismuskritik zu einer hegelianisch-systemtheoretischen Ideologie, die einerseits das Kapital nicht mehr als verdinglichtes und verselbstständigtes gesellschaftliches Verhältnis, sondern zu einem abstrakten, sich dem absoluten Geist gleich selbst setzenden Subjekt fetischisiert, andererseits banalste Fragen nach offenkundigsten gesellschaftlichen Machtverhältnissen und politischen Interessen als politisch und theoretisch reaktionär, strukturell antisemitisch abkanzelt. Schon für Luhmann waren, wenngleich er offensichtliche, politisch relevante Machtungleichheiten selbst nicht leugnete, der Klassen- und Herrschaftsbegriff in Bezug auf funktional differenzierte Gesellschaften der kapitalistischen Moderne nicht bloß anachronistisch, sondern im Kern ideologisches Hetzvokabular, wenn auch weniger antisemitisches, als schlicht alteuropäisches. (Vgl. Niklas Luhmann: Macht, 2. Aufl. Stuttgart 1988, S. 82) Luhmann war aber wenigstens der progressiven moralistischen Hybris abhold. Ihre derzeit sich auswütenden Formen und Erscheinungen hätte er sicherlich als anti-modernen Regress zu analysieren verstanden, so wie er auch sonst nicht den normativen Selbstbeschreibungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft auf den Leim ging, wie es die Progressiven bei gleichzeitiger Verachtung dieser zu tun pflegen.

V

Offensichtlich sind weite Teile der Linken nicht fähig oder willens zu einer materialistischen Analyse der kapitalistischen Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse. Dies betrifft insbesondere den Staat des Kapitals und seine demokratische Verfassung. Gerade von der Demokratie und ihrer Verfassung herrscht ein normativistisches, zutiefst ideologisches (Miss-)Verständnis vor. Während politisch ein taktisches wie desaströses Verhältnis zu den bürgerlichen Freiheitsrechten dominiert, mutiert die Demokratie gleichzeitig zum Reich der Freien und Gleichen, das hier und da vielleicht ein paar akzidentielle Probleme aufweist, der Substanz nach aber mit Herrschaftsfreiheit gleichgesetzt wird. Dass die (unbedingt verteidigungswürdige) abstrakte demokratische Freiheit und Gleichheit, die sich in der Rechtssubjektivität verwirklicht, die adäquate, allerdings historisch erkämpfte und keinesfalls zwingende Bewegungsform kapitalistischer Unfreiheit und Ungleichheit ist, wird konsequent verkannt. Die derzeitigen Klassenkämpfe, die sich ganz wesentlich auch im Aufstieg des Rechtspopulismus kundtun, bleiben, in den Nebel der Demokratieideologie gehüllt, folgerichtig völlig unbegriffen. Die dechiffrierbare Tatsache, dass die kapitalistische Vergesellschaftung irrational und herrschaftsförmig ist, wird von dieser mittels eines abstrakten, politisch zunehmend hilflosen und kontrafaktischen Demokratienormativismus verdeckt. Da diesem zufolge die „real-existierende“ Demokratie an sich bereits gut, rational und herrschaftslos ist und scheinbar so gar nichts mit ihrer kapitalistischen Basis zu tun hat, kann jede Kritik an ihr nur irrational, anti-emanzipatorisch und halt anti-demokratisch sein. Diese Annahmen führen auch dazu, dass Formen der regressiven Kritik nicht mehr als irrationale Ausdrücke einer irrationalen Gesellschaft versteh- und kritisierbar werden, sondern nur noch moralistisch als böse oder psycho-pathologisierend als wahnhaft bekämpft werden. Was der gesellschaftliche Grund dieses Wahns sein könnte, bleibt folgerichtig ausgeklammert, da man sich in der demokratisch verfassten kapitalistischen Gesellschaft ja bereits im Reich der Freiheit und Vernunft wähnt. Damit ist a priori eine vernünftige Kritik an kapitalistischer Vergesellschaftung und ihres demokratisch verfassten (Rechts-)Staats ausgeschlossen, weil dem Selbstverständnis nach gegenstandslos. Dass weite Teile der Linken zugunsten der Verteidigung der Demokratie (gegen die Rechten) sich von einer materialistischen Analyse und Kritik der herrschenden Verhältnisse verabschiedet haben, ist nicht nur ein intellektueller Offenbarungseid einer ideologisch wie materiell gut im Bestehenden eingerichteten Klasse. Es hat auch die brisante politische Konsequenz, dass die vermehrt offen aufberstenden Widersprüche kapitalistischer Krisengesellschaft nur noch politisch reaktionäre Alternativen vorfinden und sich folgerichtig zunehmend in diesen ausleben. Kurzum: Da es gerade auch aufgrund der Main-Stream-Linken keine substanzielle emanzipatorische Alternative zu den herrschenden Verhältnissen gibt, ist sie wenigstens indirekt eine wesentliche Ursache des Aufstiegs rechter Bewegungen und ihrer anti-emanzipatorischen wie irrationalen Kritik an den herrschenden Verhältnissen, deren eigene Irrationalität und Herrschaftsförmigkeit man hilflos leugnet, indem man sie zu einem demokratischen Reich der Freien und Gleichen umdichtet.

VI

Mit Rechten reden? Wer für die Abschaffung aller Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse eintritt, hat sich mit jenen Kräften, die ihre Verewigung anstreben, prinzipiell nichts zu sagen. Ihnen gilt der politische Kampf. Gleichwohl ist noch Adorno nicht davor zurückgescheut, mit einem ehemaligen NSDAP-Mitglied wie Arnold Gehlen zu diskutieren, wenngleich man zu Recht das Möglichste tat, diesen in der jungen postnationalsozialistischen BRD nicht auf einen professoralen Lehrstuhl hieven zu lassen. Eine solche Diskussion muss möglich sein mit Menschen, bei denen man es nicht mit echten Faschisten und Nazis zu tun hat, sondern mit jenen „Rechten“, die man sich vom Hals zu halten bestrebt ist, indem man sie propagandistisch unter jene rubriziert. Verlust politischer Urteilskraft geht hierbei Hand in Hand mit moralischer Denunziation, wo dies schlicht liberale oder konservative Positionen trifft. Der inflationäre wie hilflose Gebrauch des Nazi-Labelling verharmlost echte Nationalsozialisten und führt zu einer diskursiven Verrohung, sodass selbst dieser Vorwurf, der doch der ultimativen Delegitimation des politischen Gegners dienen soll, nur noch mit einem Achselzucken quittiert wird. Das progressive Anti-Nazi-Schwert stumpft in demselben Maße ab, wie es offensichtlich aus instrumentellem Geschichtsrevisionismus geschmiedet und willkürlich-inflationär gegen den politischen Gegner geschwungen wird. Dass die politisch etablierten Demokraten vor einer Diskussion mit den Rechtspopulisten zurückschrecken und sie stattdessen dämonisieren, zeugt davon, dass sie sich wenigstens unbewusst ihrer Sache nicht gar so sicher sind – mit Recht. Wer nicht mehr zu bieten hat als eine subjektive Gesinnung, die sich zugleich selbst die Absolution erteilt, moralisch überlegen und unangreifbar zu sein, zieht sich, substantiell anti-dialektisch, auf eine sich absolut setzende identitäre und abstrakte Position zurück, die, noch vor aller inhaltlich-konkret begründeten Schwäche, in sich strukturell fragil ist, da sie, im eigenen Dünkel blind befangen, den Widersprüchen der Wirklichkeit durch ihre illusorische Leugnung entgehen zu können meint. Die Demokraten machen es den Rechten in der Tat leicht, die für jeden, der auch nur ein Fünkchen politischer Urteilskraft hat, evidente Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Ideologie für sich politisch gewinnbringend auszuschlachten. Diese ist so eklatant, dass progressive Demokraten meinen, diese scheinbar nur noch dadurch verdecken zu können, dass sie mit dem Vorwurf der strukturell antisemitischen Verschwörungstheorie um sich werfen und die Politisierung der gesellschaftlichen Widersprüche als Populismus abkanzeln. Die Linke macht sich selbst überflüssig, wenn sie diesem demokratisch-identitären Standpunktdenken und seiner Realitätsleugnung folgt und sich selbst nur noch durch ihr abstraktes Gegenüber, die Rechten, negativ definiert. Die von den Rechten aufgegriffenen und politisch reaktionär ausgeschlachteten Widersprüche kapitalistischer Krisenvergesellschaftung sind nicht durch das eigene Einreihen in die demokratische Einheitsfront zu leugnen und illusorisch aus der Welt zu schaffen. Es wäre vielmehr Aufgabe der Linken, die gesellschaftlichen Widersprüche, von denen sich die Rechte nähren kann und welche die Demokraten aller Lager leugnen, zuzuspitzen und sie in einer emanzipatorischen Politik aufzuheben.

VII

Da letzteres sich nicht annähernd irgendwo anbahnt, kommt die libertäre Linke in eine reichlich absurde Situation. Sie muss derzeit mehr denn je die Mindeststandards jener bürgerlich-kapitalistischen Zivilisation und ihrer politisch-rechtlichen Verfassung verteidigen, die zugleich ihre eigene Zerstörung ausbrüten. Man hält aufgrund mangelnder Alternativen also etwas am Leben, das selbst der soziale Grund seiner Regression ist. Diese Absurdität eines gleichsam anarchistischen Verfassungspatriotismus, wird mittlerweile noch dadurch potenziert, dass es keineswegs allein oder auch nur primär gegen die Gefahr des Rechtspopulismus anzukämpfen gilt. Weit größer ist die Gefahr, die von den sich selbst links-liberal verstehenden, de facto reaktionären und autoritären Machtzentren der Gesellschaft für die Restbestände liberaler Vergesellschaftung und ihre rechtlich-politischen Normen ausgeht. Die Speerspitze dieses Angriffs aus dem politischen Machtzentrum heraus sind die Grünen, die ihre ausgeprägteste soziale Basis im Milieu der Universitäten und den Mainstream-Medien haben. Wenn es nicht so ernst wäre, wünschte man ihnen tatsächlich jene AFD-Pest an den Hals, die sie nicht mehr loswerden können, da sie politischer Ausdruck von gesellschaftlichen Verhältnissen ist, deren Wirklichkeit die Mainstream-Ideologie beflissentlich leugnet und verdrängt; daher auch das völlig hilflose wie panische Reagieren der etablierten Politik auf den Rechtspopulismus, der den anti-emanzipatorischen Einbruch der Realität in die demokratische Ideologie anzeigt. Im Rechtspopulismus nicht den politischen Hauptfeind zu sehen, stellt keine Aufwärmung der desaströsen Sozialfaschismusthese dar. Zum einen ist die AFD schlicht nicht der zeitgenössische Widergänger der Nationalsozialisten. Zum anderen geht die Zerstörung liberaler Demokratie und bürgerlicher Vergesellschaftung momentan primär von den Zentren der politischen Macht und ihres progressiven Supports selbst aus. Diese fügen derzeit „der“ Demokratie einen Schaden zu, der bis an ihre legitimatorische Substanz reicht, indem sie sie selbst endgültig in eine rein ideologische Kulisse verkehren, zugleich ihre fortschrittlichen, rechtsstaatlichen Momente schleifen und konsequent die Augen verschließen vor der Wirklichkeit kapitalistischer Krisenvergesellschaftung, die zunehmend den Alltag der Menschen erreicht. Der Rechtspopulismus kann sich trefflich über diese Schützenhilfe der Progressiven und ihr ideologisches Dauer-Bla-Bla freuen, was ihm scharenweise Anhänger verschafft. Dass dies so einfach möglich ist, berichtet von der bittersten politischen Gegenwartslektion: Die Linke ist entweder de facto inexistent oder bildet keine emanzipatorische Alternative zum herrschenden System, sondern ist Teil, Nutznießer und ideologisch herrschende Klasse desselben.

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