von Silja Samerski
Morbide Gesellschaft und Ritualisierung der Krise
Das Medizinsystem macht krank, so lautet die Kernthese eines Buches, das Mitte der 1970er Jahre in zahlreichen Sprachen erschienen ist. Im Deutschen hat es den Titel Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens; darin wirft der Philosoph und Gesellschaftskritiker Ivan Illich (1926–2002) dem modernen Medizinsystem vor, nicht der Gesundheit zu dienen, sondern vor allem dem industriellen Wachstum. Den Versuch, mit immer mehr technischen Mitteln Gesundheit zu produzieren, entlarvt er als kontraproduktiv: „Wenn sie über ein kritisches Maß an Intensität hinausgeht, ist die institutionelle Gesundheitsfürsorge – ob in Form von Therapie, Prävention oder Umweltplanung – gleichbedeutend mit systematischer Verweigerung von Gesundheit.“ (Illich, S. 13)
Die Nemesis der Medizin wurde in den 1970er Jahren weltweit rezipiert und kontrovers diskutiert. Beginnend mit dem berühmten Satz „Die etablierte Medizin hat sich zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit entwickelt“, löste Illichs Streitschrift in der deutschen Ärzteschaft heftige Empörung aus. Die Zeiten haben sich jedoch gewandelt. Was damals anstößig war, ist heute oftmals Allgemeinwissen: Mammographie und Prostata-Screening schaden mehr als sie nutzen, ärztlich verschriebene Medikamente sind eine der Haupt-Todesursachen in den westlichen Gesellschaften und das Krankenhaus kann ein lebensgefährlicher Ort sein. (Vgl. z.B. Gøtzsche; Bartens; Klauber u.a.) Dennoch ist Nemesis keinesfalls ein überholtes Buch – im Gegenteil: Es geht über die übliche Medizinkritik weit hinaus und ist deshalb auch heute noch brandaktuell. Illich versteht den Gesundheitsbetrieb als ein quasi religiöses Unterfangen, das von der Verheißung lebt, Krankheit und Tod mit immer ausgefeilteren technischen Mitteln kontrollieren und bekämpfen zu können – und den Menschen dadurch die Fähigkeit nimmt, sowohl mit der Sonnenseite als auch mit der Schattenseite des Lebens zurecht zu kommen. Im Nachwort zur deutschen Neuauflage im Jahr 1995 schreibt Illich rückblickend, er habe in Nemesis den Versuch analysiert, „die Lebens- und Leidenskunst durch die technische Produktion von Befriedigungen zu erübrigen. Ich wollte das medizinisch orchestrierte Streben nach Gesundheit zum Paradigma für eine Megatechnik machen, die es erlaubt, von der Conditio humana abzusehen“ (Illich, S. 206).
Illichs Kritik an dieser „Megatechnik“, die auf quasi religiösen Grundannahmen beruht, ist angesichts der Corona-Krise brandaktuell. Die drastischen und oftmals schädlichen Corona-Maßnahmen haben die religiöse Dimension des „Strebens nach Gesundheit“ auf besondere Weise sichtbar gemacht. Im Namen von Gesundheit fielen Oster- und Weihnachtsmessen aus, wurden KiTas, Schulen und Spielplätze geschlossen, durften Verwandte und FreundInnen sich nicht sehen und wurden Alte, Kranke und Sterbende alleine gelassen. Dieser Ausnahmezustand war in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zweifellos einzigartig. Das Buch Nemesis führt seinen LeserInnen jedoch vor Augen, dass es im Gesundheitsbetrieb bereits angelegt ist, alle Rechte und Freiheiten dem Ziel des Lebensschutzes und der Gesundheitsoptimierung unterzuordnen. Viele Zumutungen des Corona-Ausnahmezustandes hat Ivan Illich bereits in den 1970ern als Auswüchse des alltäglichen Medizinbetriebes diagnostiziert.
„Die Ritualisierung der Krise – ein allgemeines Merkmal einer morbiden Gesellschaft – bietet dem Medizin-Technokraten […] Machtprivilegien, die für gewöhnlich nur der kommandierende Offizier im Feld beanspruchen kann; unter dem Stress der Krise kann der Experte, der vermeintlich die Situation kontrolliert, leicht den Anspruch auf Befreiung von den gewöhnlichen Regeln von Recht und Anstand erheben.“ (Illich, S. 72)
Dieses Zitat liest sich wie ein Kommentar zur Corona-Krise. Tatsächlich hat die Ausrufung der Pandemie Eingriffe in das Leben von Menschen legitimiert, die vorher nicht vorstellbar gewesen wären. Der „Krieg gegen Corona“ hat denjenigen, die sich „im Feld“ wähnten, vor allem VirologInnen, MedizinfunktionärInnen und GesundheitspolitikerInnen, eine einzigartige Macht über den Alltag von BürgerInnen verliehen. Grundrechte wurden suspendiert, und die Regierung – unterstützt von einem Rat aus WissenschaftlerInnen – legte per Dekret fest, wer wann wozu aus dem Haus gehen, wer sich mit wem treffen darf und welchen Immunstatus jemand haben muss, um Weihnachteinkäufe machen oder seiner sterbenden Großmutter beistehen zu dürfen. Widerstand gab es kaum. Mindestens zwei Jahre lang galten die Corona-Maßnahmen als unantastbar, Kritik wurde wie Ketzerei behandelt. „Der Medizin-Betrieb, der soviel Raum und Zeit der Gesellschaft beansprucht, bildet ein verzaubertes Grenzland – nicht ganz von dieser Welt; und ebenso sakrosankt wie sein religiöses oder militärisches Gegenstück.“ (Ebd.)
Es ist erstaunlich, wie gut seine Einsichten über die Unverhältnismäßigkeit der Mittel, die Verklärung von Gesundheit und die Entmündigung von PatientInnen auf die heutige Zeit übertragbar sind. „Die Ausrichtung aller Institutionen auf die ‚Krise‘ rechtfertigt die monströse Verklärung ganz gewöhnlicher Ineffizienz.“ (Ebd.) Natürlich bezieht sich Illich, wenn er in Nemesis von der „Krise“ spricht, nicht auf einen gesellschaftlichen Ausnahmezustand wie die Corona-Krise. Er meint stattdessen eine ganz alltägliche medizinische Krise: das hochtechnisierte Sterben im Krankenhaus. In einer medikalisierten Gesellschaft, so seine These, wird das Sterben als Krise behandelt, in der die Medizin den Kampf gegen den Tod aufnimmt – den sie schließlich ohnehin verliert: „Der Zauberdoktor betrachtet sich als Krisenmanager. Auf heimtückische Weise führt der dem Bürger in seinem letzten Stündlein den tödlichen Traum einer Gesellschaft von unbegrenzter Macht vor.“ (Ebd.) Was Illich damals über die medizinischen „Sterbezeremonien“ (Illich, S. 71) schlussfolgert, lässt sich genauso gut über die Corona-Maßnahmen sagen: Sie zeugen davon, dass „die religiöse Verwendung der medizinischen Technik […] deren technischen Zweck“ überwiegt (Illich, S. 72).
Die Herrschaft der Technik
Die Nemesis der Medizin ist eine scharfsinnige Analyse des Medizinbetriebes, aber gleichzeitig auch eine grundlegende Kritik an grenzenlosem Technikfortschritt und industriellem Wachstum. Mit „Technik“ bzw. „Werkzeug“ (im Englischen tools) meint Illich keinesfalls nur technische Geräte oder Maschinen, sondern auch Dienstleistungen und Institutionen wie das Medizinsystem, welches das immaterielle Gut „Gesundheit“ produziert. Der Irrglaube, diese „Werkzeuge“ könnten Menschen von den Schattenseiten des Daseins wie Siechtum, Tod und Mühsal befreien, führt geradewegs in neue Formen der Abhängigkeit und Unterwerfung:
„Wenn das übermäßige Vertrauen auf industrielle Produktion und Dienstleistung die Sozialordnung so bestimmt, dass die Industrie ein virtuelles Monopol über die Anwendung neuer Errungenschaften erobert, dann wird die Versklavung der Menschen durch die Maschine nicht abgeschafft, sondern in neue, weltweit homogene Formen gepresst. Das Werkzeug wird vom Diener zum Despoten.“ (Illich, Selbstbegrenzung, S. 14)
Die Corona-Krise ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie Werkzeuge zu Despoten werden. Im Sinne Illichs wird hier nicht nur ein materielles Mittel wie die Impfung als Werkzeug verstanden, sondern auch die sozialtechnologischen Eingriffe wie Lockdowns und Maskenpflichten. Diese Werkzeuge standen zu keiner Zeit in einem angemessenen, begründeten Verhältnis zu den gesteckten Zielen. Ein maßvolles, vernünftiges Management der Krise hätte klar definierte Ziele und darauf abgestimmte Strategien bzw. Mittel gebraucht, die hinsichtlich ihrer Kosten und Nutzen immer wieder kritisch überprüft werden. Viele Maßnahmen sind stattdessen schnell zum Selbstzweck geworden, ihre „religiöse Verwendung“ überwog ihren „technischen Zweck“, wie Illich über den Medizinbetrieb im Allgemeinen schreibt. (Illich, S. 72) Sie sollten glauben machen, Politik und Wissenschaft hätten Krise und Virus „im Griff“, wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und später Karl Lauterbach immer wieder betonten.
Der größte „Despot“ während der Corona-Krise war zweifellos die Impfung. Der Glaube an eine technische Lösung war so groß, dass das Impfen als einziger Weg aus der Pandemie galt – noch bevor man überhaupt etwas über die Wirkung der Impfstoffe wissen konnte. Ob sie Ansteckungen verhindern, war in den Zulassungsstudien der Hersteller überhaupt nicht untersucht worden. Dennoch versprach die Politik „Wir impfen Deutschland zurück in die Freiheit“ und erklärte es zum wichtigsten Ziel, dass alle Menschen eine Injektion bekommen. Viele der einschneidenden Maßnahmen des Winters 2021/22, die 2G- und 3G-Einlasskontrollen und der Ausschluss der „Ungeimpften“ aus dem sozialen Leben hatten nichts anderes zum Ziel, als die Impfquote zu erhöhen (die dennoch niemand genau kannte). Obwohl sich in Israel, dem „Impf-Weltmeister“, im Herbst 2021 die sogenannten Impfdurchbrüche mehrten und eigentlich schon klar war, dass die Impfung nicht zur erhofften Herdenimmunität führen würde, riefen Politiker und Medizinfunktionäre in Deutschland eine „Pandemie der Ungeimpften“ aus. Ungeimpfte wurden zu Sündenböcken für die Tatsache, dass das vermeintliche Allheilmittel Impfung nicht hielt, was alle hatten glauben wollen. Bis heute wertet die deutsche Gesundheitspolitik entgegen jeder Evidenz die Genesung als Weg zur Immunität systematisch ab, während sie die Impfung überhöht.
Das Corona-Management beruhte also zu keiner Zeit auf einer überlegten Abwägung von Zielen und Mitteln. Im Gegenteil: Je offensichtlicher wurde, dass die eingesetzten Mittel die formulierten Ziele nicht erreichen, desto vehementer sind sie eingefordert und verschärft worden. Für Ivan Illich ist diese Forderung nach Mehr vom Gleichen, auch wenn es offensichtlich nicht wirkt, typisch für eine fortschritts- und technikgläubige Gesellschaft. Wenn AbiturientInnen heute nicht (mehr) lesen und schreiben können, wird lediglich noch mehr Schule gefordert; wenn Krebskranke trotz Chemotherapie und Bestrahlung sterben, wird eine noch teurere und giftigere Therapie entwickelt. „Obgleich alles darauf hinweist, dass es zur totalen Niederlage führt, wenn man immer mehr vom gleichen fordert, meint man in einer dem Wachstumswahn verfallenen Gesellschaft, mehr und mehr zu brauchen.“ (Illich, Selbstbegrenzung, S. 25) Illich spricht hier von einem „modernen Regentanz“. Wenn der Regen nicht kommt, glauben die TänzerInnen, dass sie nur noch nicht intensiv genug getanzt haben.
Das „Streben nach Gesundheit“ führt zu einer zunehmend überwachten und kontrollierten Gesellschaft
Die Nemesis der Medizin ist ein Buch über die wachsende Unfreiheit in einer Gesellschaft, die das selbständige Tun und die eigenen Fähigkeiten durch industrielle Waren und professionelle Dienstleistungen ersetzt. Menschen werden nicht nur entmutigt, sich gegenseitig beizustehen, zu genesen, sich gesund zu erhalten sowie zuhause zu gebären und zu sterben, sondern sie werden auch regelrecht davon abgehalten. Sobald die Medizin ein Monopol über das Feld der Gesundheit errichtet hat, so Illich, „wird die Gesellschaft zum Krankenhaus“ (Illich, Selbstbegrenzung S. 14). Damit meint Illich nicht, dass nun alle hinter den Mauern von Kliniken verschwinden – im Gegenteil, die Grenzen der Institutionen lösen sich sogar auf. Es ist vielmehr so, dass Menschen zunehmend auch im Alltag ihr Leben und Denken nach den Vorstellungen, Planungen und Diagnosen von GesundheitsexpertInnen ausrichten müssen. „Die Gesellschaft insgesamt ist zur Klinik geworden, und alle Bürger sind Patienten, deren Blutdruck dauernd überwacht und reguliert wird, damit der sich ‚innerhalb‘ normaler Grenzen halte.“ (Illich, S. 119)
Die Corona-Maßnahmen haben diese Medikalisierung des Alltags zugespitzt und eine dauernde Überwachung erzwungen. Wie im Krankenhaus sind Menschen in verschiedene medizinische Kategorien eingeteilt und verschiedenen „Behandlungspfaden“ zugewiesen worden. In vielen Schulen durften beispielsweise im Herbst 2021 geimpfte SchülerInnen ohne Test direkt ins Klassenzimmer marschieren, während die nicht geimpften sich erst testen mussten – oftmals in einem Extra-Raum. Manchmal fanden Schulausflüge oder Veranstaltungen sogar mit 2G-Regel statt, so dass SchülerInnen ohne entsprechenden G-Nachweis ausgeschlossen waren. In einer Gesellschaft, die zur Klinik wird, übernehmen auch Bildungsinstitutionen medizinische Überwachungs- und Kontrollfunktionen. Da sie im Namen von „Gesundheit“ geschehen, nimmt kaum jemand Anstoß daran. Wären SchülerInnen nicht aufgrund von medizinischen, sondern aufgrund von biologischen Merkmalen auf diese Weise institutionell diskriminiert worden, hätte es einen Aufschrei gegeben. Ausgestattet mit den Weihen von VirologInnen und anderen GesundheitsexpertInnen aus dem „verzauberten Grenzland“ des Medizinbetriebes konnten diese Maßnahmen jedoch „den Anspruch auf Befreiung von den gewöhnlichen Regeln von Recht und Anstand erheben“ (Illich, S. 72).
Dass MedizinerInnen das Recht zugestanden wird, Menschen in verschiedene soziale Kategorien einzuteilen und ihnen unterschiedliche Rechte und Pflichten zuzuschreiben, ist nicht neu. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir uns beispielsweise nicht selbst krankmelden dürfen, sondern ÄrztInnen erst beglaubigen müssen, dass es uns schlecht geht. Diskriminierung aufgrund von biologischen Merkmalen wie Hautfarbe oder Geschlecht ist gesellschaftlich verpönt, Diskriminierung aufgrund von medizinischen Diagnosen und Attesten jedoch nicht.
„Die Medizinbürokraten unterteilen die Menschen in solche, die Auto fahren dürfen, die der Arbeit fernbleiben dürfen, die eingesperrt werden müssen, die Soldat werden sollen; in solche, die in andere Länder fahren, kochen oder die Prostitution ausüben dürfen, solche, die sich nicht um das Amt des Vizepräsidenten der USA bewerben dürfen … und solche, die tot sind, solche, die fähig sind, ein Verbrechen zu begehen, oder die wahrscheinlich eines begehen werden.“ (Illich, S. 55)
In der Corona-Krise hat diese Klassifizierung und Attestierung beispiellose Ausmaße angenommen. Zu Illichs Liste ließen sich zahlreiche neue Corona-Kategorisierungen hinzufügen: MedizinbürokratInnen unterteilen die Menschen in solche, die – auch vollkommen gesund – für zwei Wochen zuhause eingesperrt werden dürfen, die keinen Einkaufsladen mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften betreten dürfen, die nicht mehr in ihr Heimatland reisen dürfen, die aufgrund ihrer unkonventionellen Ansichten als Gesundheitsgefahr gelten und die nach einem Stichtag trotz Impfung als „ungeimpft“ gelten und deshalb ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen dürfen.
Besonders durchdringend und umfassend wird die medizinisch begründete Klassifizierung und Überwachung von Menschen dann, „wenn sich eine Gesellschaft zur präventiven Treibjagd auf die Krankheit rüstet“ (Illich, S. 71). Als Illich diesen Halbsatz schrieb, konnte er den „Krieg gegen Corona“ nicht vorhersehen; er spricht von der Treibjagd auf die Krankheit an sich, also von einer Medizin, die das Ziel verfolgt, Krankheiten zu verhindern, bevor sie auftreten. Die „Schnüffelei nach Gesundheitsrisiken führt zu polizeimäßigen Kontrollnetzen, um jene zu erfassen, die besonderen Schutzes bedürfen.“ (Illich, S. 66f.) In der Corona-Krise wurde die „präventive Treibjagd auf die Krankheit“ zum Alltag und hat dauernde Überwachung und Verdächtigung mit sich gebracht. BürgerInnen waren aufgefordert, Infektionsrisiken im Alltag zu kontrollieren. Alle Menschen, auch die kerngesunden, galten als Risiko, als potentielle Gesundheitsgefahr. Der britische National Health Service (NHS) beispielsweise hat BürgerInnen dazu aufgerufen, sich auch bei bester Gesundheit als Gefahr für ihre Mitmenschen zu verstehen: „Act like you’ve got it.“ Was die „Schläfer“ beim Kampf gegen den Terror, waren die „asymptomatisch Kranken“ beim Kampf gegen das Virus: unauffällige und daher besonders gefährliche Risikopersonen. (Eigentlich handelt es sich bei der Rede von „asymptomatisch Kranken“ um ein Oxymoron, einen Widerspruch in sich. Wer keine Symptome hat, ist nicht krank. Die neue Patientenkategorie der „asymptomatisch Kranken“ gab es zuvor schon in der Genetik, wenn ein Laborbefund einem kerngesunden Menschen einen „Gendefekt“ bescheinigte. In beiden Fällen mutiert ein biochemischer Befund zu einer vermeintlichen Diagnose und macht aus gesunden Menschen medizinische Fälle und Risikoträger.)
Der Verdacht wurde also verallgemeinert; BürgerInnen galten nicht mehr als TrägerInnen von Rechten, sondern in erster Linie als TrägerInnen von Infektionsrisiken. Erst dann, wenn sie nachweisen konnten, dass sie frisch getestet, kürzlich genesen oder geimpft waren, durften sie z.B. ins Hotel gehen oder in die Bahn steigen. Innerhalb kurzer Zeit wurde eine digitale Infrastruktur geschaffen, die dazu verpflichtete, bei alltäglichen Verrichtungen immer wieder nachzuweisen, kein „Superspreader“ zu sein. Die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung (und mit ihr die Beweislast) wurde umgekehrt – eine typische und folgenreiche Perversion des Rechts im Präventionsregime. In einem Rechtsstaat gilt jeder Mensch als unbescholten, solange nicht etwas anderes bewiesen werden kann. Eine Gesellschaft, die sich dem Ziel der Prävention verschrieben hat, verallgemeinert jedoch den Verdacht und macht es für ihre Mitglieder zur Pflicht, ihre Normalität oder Unverdächtigkeit nachzuweisen. (Bröckling, S. 38ff.)
Ein Weg aus der „verplanten, technisierten Hölle“?
Wer die Frage „Cui bono“ stellt, um die Corona-Maßnahmen zu analysieren, macht schnell kapitalistische Profiteure wie Pfizer und die Gates-Stiftung als einflussreiche Hintermänner oder gar Drahtzieher aus. Dass die Pharmaindustrie die Zulassungsbehörden und Politik besticht und auch nicht vor mafiösen Methoden zurückschreckt, ist vielfach dokumentiert. (Vgl. u.a. Gøtzsche) Die intransparente Zulassung, massive Vermarktung und mangelnde behördliche Kontrolle der Corona-Impfstoffe ist fraglos ein Skandal. Doch es wäre irreführend, die Schuld für Impfzwang und Corona-Panik vornehmlich bei Pfizer und Bill Gates zu suchen – ungefähr „ebenso unsinnig, als wolle man die Mafia für den illegalen Drogenkonsum verantwortlich machen.“ (Illich, S. 53) Die technokratischen Maßnahmen der vergangenen drei Jahre sind Ausdruck der Irrationalität einer Gesellschaft, die vom Glauben an technische Machbarkeit beherrscht wird. In Gesellschaften, in denen „der Markt für Konsumgüter einen bedrohlichen Umfang erreicht hat“, so Illich, sind Menschen davon überzeugt, „dass im Bereich der Gesundheitspflege wie auch auf allen anderen Gebieten menschlichen Strebens die Technik dazu dienen könne, die Lebensbedingungen des Menschen in beinahe jeder Richtung zu ändern“ (ebd.). Diese Erwartung führt in eine „Gesundheitsherrschaft“ (Hontschik) mit einem „nie dagewesene[n] Maß an hierarchischen Kontrollen“ (Illich, S. 200), um allen Menschen medizinisch bereitzustellen, was Gesundheitsbürokratien als ihr Bedürfnis diagnostizieren. Die Folge ist ein „zwanghafte[s] Überleben in einer verplanten, technisierten Hölle“.
Die unerträgliche Verplanung und Technisierung des Alltags, die Illich in den 1970ern voraussah, haben wir während der Corona-Krise besonders drastisch erlebt. „Noch nie in der Geschichte ist das Leben der Menschen außerhalb von Gefängnissen so strikt reguliert worden wie in der Corona-Zeit.“ (Prantl, S. 8) Die Abschaffung von Freiheiten und die zunehmende Programmierung von Umwelt und Verhalten sind aber nicht etwa präzedenzlose Maßnahmen einer vermeintlichen „Corona-Diktatur“, sondern die unvermeidlichen Folgen des Bestrebens, Gesundheit institutionell und technisch zu kontrollieren. Die Corona-Krise hat lediglich zugespitzt oder gesellschaftlich akzeptabel gemacht, was im Gesundheitsbereich schon vorher alltäglich war. Auch ganz ohne Ausnahmezustand bahnt sich im Gesundheitsbereich beispielsweise durch die Digitalisierung ebenfalls eine „verplante, technisierte Hölle“ an – eine massive Zunahme an technokratischer Verwaltung und Gängelung im Namen der Gesundheit. DigitalexpertInnen, PolitikerInnen, Krankenversicherungen und IT-Konzerne träumen von einer datengetriebenen und präventiven Medizin, in der digitale Maschinen das „Streben nach Gesundheit“ überwachen und steuern. In Zukunft soll jeder Mensch qua Geburt eine elektronische Gesundheitsakte erhalten, in der möglichst viele Daten gesammelt werden können. Die „Schnüffelei nach Gesundheitsrisiken“ kann dann automatisiert werden und erscheint nicht mehr als Überwachung, sondern als vermeintlich objektive Aufklärung und Information. Gezielte Gesundheitsinformationen und Entscheidungsarchitekturen können Menschen dann ganz ohne menschliche Autoritäten zu denjenigen Optionen und Verhaltensweisen drängen, die ExpertInnen als „rational“, „faktenbasiert“ und „gesundheitskompetent“ qualifizieren. Menschen mit Gesundheitsrisiken oder Verweigerer von Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen können ohne Aufwand in Datenbanken identifiziert und pädagogisch oder verhaltensökonomisch bearbeitet werden. Geht es nach den Plänen von Digitalkonzernen und der WHO, sind die Corona-Impfpässe ein erster entscheidender Schritt auf dem Weg zu allgemeinen Impfpässen bzw. zu einer digitalen Identität. Diejenige „Manipulation, die notwendig ist, um Bevölkerungen den Bedürfnissen technischer Systeme anzupassen“ (Illich, S. 188), wird in einer digitalisierten Gesellschaft also zunehmend von einer anonymen Infrastruktur übernommen. Vor der Corona-Krise mussten sich die PlanerInnen einer solchen digitalen Überwachung und Verhaltenssteuerung noch um die Akzeptanz in der Bevölkerung sorgen; mittlerweile ist der „Big Brother, der Präventionsstaat, […] in der Corona-Zeit ein Freund und Partner geworden“ (Prantl, S. 8).
Eine umfassende, kritische und offene Aufarbeitung der Corona-Krise würde die Chance bieten, nach denjenigen Selbstverständlichkeiten zu fragen, die sowohl dem „Krieg gegen Corona“ als auch dem „Krieg gegen den Krebs“ oder den Verheißungen einer digitalisierten Präventionsmedizin zugrunde liegen. Ivan Illichs Nemesis ist eine äußerst fruchtbare Lektüre auf der Suche nach tiefgründigen Antworten sowie nach neuen, weiterführenden Fragen. Illich kritisiert nicht nur diejenigen, die vorgeben, Gesundheit zu produzieren und zu verkaufen, sondern auch diejenigen, die glauben, sie konsumieren, steuern und optimieren zu können. Wenn es jedoch Hoffnung geben soll, dass wir uns unsere Fähigkeiten füreinander zu sorgen, gesund zu sein, zu gebären, zu genesen, zu heilen, uns beizustehen und zu sterben nicht gänzlich von einer „Megatechnik“ (Illich, S. 206) rauben lassen wollen, dann führt an der Lektüre und Diskussion von Illichs Nemesis kein Weg vorbei.
Literatur
Werner Bartens, Vorsicht Vorsorge! Wenn Prävention nutzlos oder gefährlich wird, Frankfurt 2008.
Ulrich Bröckling, Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention, in: Behemot. A Journal on Civilisation 1(1), 2008.
Peter C. Gøtzsche, Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität. Wie die Pharmaindustrie das Gesundheitswesen korrumpiert, München 2014.
Bernd Hontschik, Heile und herrsche. Eine gesundheitspolitische Tragödie, Frankfurt a.M. 2022.
Ivan Illich, Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, München 1995 (1975). >> Im Text nur mit „Illich“ gekennzeichnet.
Ivan Illich, Selbstbegrenzung. Ein politische Kritik der Technik, München 1998 (1973). >> Im Text mit „Illich, Selbstbegrenzung“ gekennzeichnet.
Jürgen Klauber u.a. (Hg.), Krankenhausreport 2014. Schwerpunkt Patientensicherheit, Stuttgart 2014
Heribert Prantl, Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne, München 2021.
Im Buchbeitrag finden sich noch viele weitere Quellenangaben.
(* Auszüge aus Silja Samerskis Buchbeitrag: „Kontraproduktiv“ und „todfeindlich“. Zur Aktualität von Ivan IllichsNemesis der Medizin angesichts der Corona-Krise, im Sammelband herausgegeben von Andreas Urban: Schwerer Verlauf. Corona als Krisensymptom,Promedia Verlag, Wien 2023.)