von Franz Schandl
Bauer wollte ich nie werden. Nie.
Zu mühsam erschien mir die Plackerei am Hof meiner Großeltern mütterlicherseits. Die agrarische Existenz im Waldviertler Dorf stand ganz im Zeichen der heiligen Allianz von ora et labora. Es war stets harte Arbeit, verbunden mit einem blinden Glauben an den christlichen Gott und seine katholische Kirche. Und ich war dagegen, obwohl ich noch gar nicht wusste, warum. Die Zustände dort habe ich als bedrückend empfunden, schon als Kind. Die Scholle hatte keine Fenster zur Welt, höchstens ein Guckerl. Wir schreiben so ungefähr das Jahr 1970. Ich kam gerade aufs Gymnasium.
Schlagen statt streicheln
Viele Kinder leisteten bereits in jungen Jahren Schwerarbeit, hatten kaum Freizeit, kamen in der Schule nicht mit, begannen früh zu trinken. Das waren die unseligen Jahre, als Motorisierung und Alkoholisierung am flachen Land noch unglücksträchtig synchron liefen. Der Alkohol spielte überhaupt eine böse Rolle. Einerseits verständliche Flucht, verstärkte er andererseits diverse Übel. Zucht und Strenge, Volkspartei und Katholizismus offenbaren eine stickige Welt. Sie dominierten das bäuerliche Milieu in absolutistischer Manier. Hinter den Kulissen gestalteten sich die Verhältnisse ungemein verlogen und äußerst brutal. Wenn der Alte angesoffen war, war für Frau und Kinder oft Feuer auf dem Dach. Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, wo mehr geschlagen als gestreichelt wurde.
Ich hingegen hatte Glück. Nie bin ich in die Kirche gezwungen worden. Weder beichten noch ministrieren habe ich müssen. Kein Sonntag wurde mir gestohlen. Denn groß geworden bin ich bei meinen Eltern und meinen Großeltern väterlicherseits, einem toleranten Arbeiterhaushalt. Dieses Privileg habe ich früh wahrgenommen und auch weidlich genossen. Ich war ein behütetes, ob seiner asthmatischen Anfälle fast verhätscheltes Kind. In der Landwirtschaft war ich nur, wenn auch häufig, als Besucher zugegen. Meine Welt war das nicht.
Mein Vater galt, weil Arbeiter, Sozialist und Betriebsrat, den schwarzen Verwandten als „roter Teufel“, so die Urgroßmutter im Originalton. Nicht nur deswegen war die Beziehung meiner Eltern zur Familie meiner Mutter nie friktionsfrei. Meine Mutter hat jedenfalls ihre Flucht von der Scholle in die Fabrik als Befreiung empfunden, wenngleich ihre späteren Leiden nicht von der Akkordarbeit der Textilarbeiterin zu trennen gewesen sind. Aber das wäre eine andere durchaus spannende Geschichte.
Am Hof
Am besagten Hof gab es ungefähr acht Kühe, sie alle hatten einen Namen und wurden viele Jahre von meiner Großmutter täglich zweimal händisch gemolken. Eine Zeitlang gab es sogar einen Stier, Schweine sowieso, auch Gänse und selbstverständlich Hühner. Man erntete Roggen, Weizen, Gerste, Hafer, Kartoffeln, Rüben, Äpfel, Birnen, diverses Obst und Gemüse etc. Der Hof versorgte sich zum Großteil selbst. Man war sozusagen breit aufgestellt. Aber um das zu bewerkstelligen, musste man rund um die Uhr arbeiten. Eine meiner Tanten ging um 5 Uhr in den Stall, setzte sich dann um 6 Uhr an die Nähmaschine meiner Mutter, um sich ein Taschengeld zu verdienen. Das Einschalten der Maschine wirkte einige Jahre auf mich wie ein Wecker. Meine Tanten waren, wie meine Mutter zuvor, Mägde ohne Salär. Eigenes Geld gab es für Angehörige am Bauernhof nicht. Wenn man etwas Außertourliches brauchte oder gar wollte (z.B. einen Mantel oder Schuhe) musste man zum Familienoberhaupt bitten gehen, das meist ebenfalls wenig Geld hatte. Das war auch mit ein Grund, warum der Wechsel in die Lohnarbeit, d.h. in die Fabrik, sehr attraktiv gewesen ist.
Zu essen gab es aber reichlich. Schweinefleisch gab es sogar im Überfluss, geschätzte zehn Mal die Woche. Das war ein Luxus, den sich die Bauern da gönnten. Gar manchen hat das nicht gutgetan. Dicke Kinder, einst die Ausnahme, wurden häufiger. Gegessen wurde, was auf den Tisch kommt, so der Tenor. Heikel sein war verpönt. Ich, das dürre, asthmatische Kind, war sehr heikel.
Des Abends, sie hatten noch keinen Fernseher, saßen sie lesend in der Küche. Karl May stand hoch im Kurs. Das interessierte mich zwar weniger, dafür aber die Comics meines Onkels. Mit diesem keine fünf Jahre älteren Verwandten zog ich durch die Gegend. Winnetou, d.h. Lex Barker und Pierre Brice, standen frisch auf dem Spielplan der Kinos, was aber auch hieß, dass man vereinzelt ganz reell und nicht nur virtuell an den Marterpfahl gebunden wurde und die Bastonade bekam.
Der Bauer, mein Großvater, war für mich immer ein alter Mann. Noch heute denke ich zurück an die Szene, als er die schweren Getreidesäcke in den Dachboden gehoben hat. Er war ungefähr so alt wie ich jetzt bin, also sechzig. Ganz fix und fertig sah er an diesem heißen Augusttag aus. Marod wirkte er. Der Dreck ist ihm nur so runtergeronnen. Ich habe ihn nie entspannt erlebt, auch finanziell stand es nicht gut. Wenn jemand unnötig das Licht hat brennen lassen, wurde er krawutisch. „Licht sparen, hat der Kaiser gesagt“, war eine häufige Redewendung. Nix urassen! Nur nix urassen! Mit dreiundsechzig ist er an einem Herzinfarkt verstorben, eine Rente hat er nie erlebt. Auch auf Urlaub oder Sommerfrische ist er nie gewesen, nur im Krieg. Meine Großmutter, die Kleinhäuslertochter, musste er heiraten, weil sie ein Kind von ihm hatte. Das war meine Mutter.
Rum und Roderer
Beim Erdäpfelgraben diente uns ausschließlich ein Roderer. Hochdeutsch nennt man ihn Roder, aber das weiß ich erst, seit ich nachgeschaut habe. Weil er bisher so hieß, heißt er auch weiter so. Der Roderer beförderte die Früchte zwar aus dem Boden, sammelte sie aber nicht gleich selbst ein, sondern schleuderte sie nicht unweit aufs Feld. Die Erdäpfel waren also aufzuklauben. Die Ernte verlief noch weitgehend händisch und war ob des ständigen Bückens ziemlich mühsam. In Zweierreihe ging es ans Werk. Beim Einsammeln der Kartoffeln denke ich noch an meine betagten Urgroßeltern, die ebenfalls als Hilfspersonal zum erweiterten Inventar des Hofes zählten. Mein Lieblingspartner war der Urgroßvater. Vom Arbeitstempo her waren wir gleichauf. Ich eher faul, aber jung, er eher fleißig, aber alt. Mit den Großeltern und den Tanten hätte ich nie mithalten können. Die hatten den Sack schon voll, während ich gerade einmal meinen Korb gefüllt hatte. Außerdem gab es viele Sorten Erdäpfel, nicht wie später nur mehr speckig-mehlige Universalkartoffeln.
Zwischenzeitlich saßen wir auf dem Wagen, blickten über Äcker und Wiesen, genossen die spätsommerliche Landschaft, den Geruch des glosenden Erdäpfelkrauts, das wir verbrannten, oder wir warfen Erdäpfel ins Feuer, um sie zu braten. Die schmeckten natürlich ganz ausgezeichnet. Es gab stets eine deftige Jause und vor allem auch, was es zu Hause bei den Eltern nie gegeben hat: Russischen Tee, versetzt mit etwas Rum, zumindest bilde ich mir das ein. Schwarztee mit Rum trinke ich heute noch gelegentlich. Der Urgroßvater hat ihn ungefähr halbe-halbe getrunken. Den stillen, kleinen Mann mit seinem Blechhäferl sehe ich noch immer vor mir. Dem Schnaps war er nicht abgeneigt. Meine Bar würde ihm sicher große Freude bereiten, seine Wangen von sattem Rot in tiefes Purpur verwandeln.
Die Urgroßmutter, die mir andauernd Zuckerl zusteckte und so unweigerlich meine Karies beschleunigte, vergönnte mir auch den einen oder anderen Spritzer Alkohol im Tee. Sie war da so raffiniert, dass weder meine Großmutter noch meine Mutter Kenntnis davon hatten. Aber vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein, die Geschichte, dass der Urgroßvater und ich selig von meiner Urgroßmutter in den Rausch geschickt wurden. Zehn war ich da übrigens noch nicht, eher sechs, also sagen wir acht. Beim Schreiben dieser Zeilen fällt mir einmal mehr auf, wie Erlebnis und Geschichte, Erzählung und Erinnerung auseinanderzuhalten wären, und doch ineinander verschwimmen und wohl auch gegeneinandergeraten.
Fortschritt als Abgesang
Der rasche Einzug der Geräte begann Ende der Sechziger und es war ein kräftiger Schub: Aus dem Leiterwagen wurde ein Ladewagen, auch das Heu wurde durch ein Gebläse in den Dachboden befördert, daneben veränderten Wasserklosett, Waschmaschine, Kühlschrank, Fernseher und Telefon auch den bäuerlichen Haushalt fundamental. Der Fortschritt war freilich gleichbedeutend mit dem Ende. Einige Jahre nach dem Tod meines Großvaters wurde auch die Landwirtschaft aufgegeben. Da waren die Verwandten meiner Mutter aber nicht die Ausnahme, in meinem Dorf traf das fast alle Landwirte.
Was meine Vorfahren betrieben, war dazumal schon anachronistisch, ökonomisch völlig aussichtslos. Die Landwirtschaft hatte auch in Eberweis der Agrarindustrie zu gehorchen. Mono statt multi war angesagt. Es ging darum, sich zu spezialisieren und den neuen Trends zu gehorchen. Investieren, Kredite aufnehmen, Maschinen kaufen, Land erwerben oder zupachten. Big is better! Architektonisch wirken solche Orte zunehmend wie aus den Fugen geraten. Die Keuschler waren bereits wegrationalisiert, nun waren die Kleinbauern dran, und auch die mittleren folgten, wenn sie sich weigerten, groß zu werden. Mit ihnen verzog sich die alte Zeit, die heute bloß noch als Folklore die Erzählungen garniert, auch diese hier. Das parallel dazu forcierte alternative Aussteigertum, verbunden mit einer Flucht aufs Land in eine kärgliche agrarische Existenz voller Bescheidenheit, war mir immer ein Rätsel. Dem Darben war ich noch weniger zugetan als dem Derben.
Der Begriff Bauer hat in den Siebzigern und Achtzigern des vorigen Jahrhunderts eine eigentümliche, doch definitive Abwertung erfahren. Fast analog zu Prolet wurde er zu einem Schimpfwort. Die übrig gebliebenen Bauern waren nun zu Agrarunternehmern und Landschaftsgestaltern, kurzum zu einer Untersorte von alimentierten Bürgern geworden, zu einer Endbourgeoisie personeller Ohnmacht aber fortgesetzter Zerstörung ländlichen Raums. Arglos und wehrlos hängt man am politischen Gängelband und an den finanziellen Futtertrögen der EU.
Das böse Spiel, in dem die Marktwirtschaft ruiniert, die Politik brav assistiert und fallweise saniert, ist absolut erschreckend. Eine emanzipatorische Landwirtschaft muss sich fragen lassen: Was essen wir? Was produzieren wir? Wie gehen wir mit dem Boden, der Landschaft, den Früchten, den Tieren und schließlich mit uns selbst um? Sie muss das Ernten vom Profitieren befreien. Darüber ist einiges in dieser Ausgabe nachzulesen.
Entzerrung statt Verklärung
Die Kindheit muss schön gewesen sein, denn sonst wäre es keine Kindheit gewesen. Und da es doch meine Kindheit gewesen ist, kann, nein, muss es so wohl sein. Solch gängige Verklärung sollte man sich versagen. Es war alles andere als eine Idylle. Und doch gab es sehr beglückende Momente in diesem bedrückenden Klima, die auch Jahrzehnte später noch im Gedächtnis hängen und die Sicht der Vergangenheit ins Positive verzerren. Etwa wenn ich den Traktor lenken durfte, einen schier unverwüstlichen 15er-Steyr. Unten rechten die Tanten das Heu, der Großvater hob es mit einer Gabel nach oben, die Großmutter, die auf dem Leiterwagen saß, verstaute es. Es roch einmal mehr ganz vorzüglich, eine nahe Quelle bot Erfrischung und Trinkwasser. Im Heu verstecken und sonst was spielen war auch nicht zu verachten. Wir entdeckten gar einiges und wir schützten die Hennen vor dem Iltis, zumindest dachten wir das.
Der Wald war ein mystischer Ort, Märchenland vieler, meist imaginierter Abenteuer. Ihn zu durchstreifen ist mir nicht nur erinnerlich, es ist mir geblieben. Ebenso die Freude am Holzhacken. Holzmachen in kleiner Gesellschaft wirkte ungemein belebend. Zwar durften die Jüngeren nicht so, wie sie wollten, das wäre zu gefährlich, aber sie durften doch einiges. Ich war Spezialist im Abrindeln. Wozu das gut war, weiß ich nicht oder nicht mehr, auf jeden Fall hielt ich mich für geeignet. Der Geruch der frisch gefällten Bäume, der geschnittenen und gespaltenen Stämme und Äste wirkte wie eine naturale Droge. Wir schienen aus der Zeit ausgetreten zu sein, hatten scheinbar keine Eile, sondern verweilten in den Augenblicken einer knisternden Ruhe, eines behaglichen Rauschens. Motorsägen hatten wir noch keine. Die Lust am Werken im Wald ist aber eine der Zeitweiligkeit und keine der Regelmäßigkeit. Am Schicksal etwa der Holzknechte gilt es nichts zu romantisieren. Als Job ist das wahrscheinlich schlimmer als viele andre.
Von allen Sinnen dieses Landlebens erscheint mir der Geruchssinn als der markanteste. Geduftet hat es mitunter ausgesprochen gut, manchmal aber auch furchtbar gestunken. Und das nachhaltig. Der Stall machte nicht nur Arbeit und Mist, er punzierte durch sein Aroma auch die Dazugehörigen. Den Geruch wurde man so schnell nicht los. Und dann noch ständig die Hühnerscheiße auf den Fersen. Wie hasste ich den Hendldreck! Andauernd lästig waren auch die Fliegen in der Küche, denen ein Fliegenfänger einen bösen Garaus machen sollte. Während man gemütlich aß, zappelten die kleinen Kreaturen ihrem Ende entgegen.
Totmachen war überhaupt unlustig. Die Hühner endeten geköpft am Hackstock. Die sodann mit heißem Wasser übergossenen und gerupften Kadaver stanken furchtbar. Absolut keinen Bock hatte ich auf das Sau-Abstechen. Was andere Buben magisch anzog, hat in mir immer Ekel, ja Trauer ausgelöst. Dass es einem nicht leidtut, das Schwein zu schlachten, sondern im Gegenteil Freude bereitet, ist mir nie verständlich gewesen. Auch der anschließenden Blutorgie des Blunzenmachens entzog ich mich erfolgreich. So viel Wirklichkeit wollte ich mir wirklich nicht antun. Dagegen träumte ich vor mich hin und tue das noch heute. Sofern man mich lässt.
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PS: Der Zuschreibungen sind viele, auch unvermutete. Vielleicht bin ich ja doch ein Bauer. Da ich zur Landwirtschaftskammerwahl wahlberechtigt bin, fungiere ich sicher als Tabellenfutter in diversen Statistiken als Landwirt. Als einer der letzten Diadochen Waldviertler Kleinhäuslertums muss ich gestehen, dass ich als Verpächter geerbter Agrarflächen (Acker und Wiese) meine Bezüge (zusätzlich Naturalien, abzüglich Steuern) monatlich um 14 Euro auffette. Dazu gibt’s noch 8 Euro Jagdpacht – das dafür jährlich.
PPS: Arbeiter wolle ich übrigens auch nie werden, da reichten die ersten Fabriksbesuche. Ebenso wenig Lokomotivführer, Amtsmann, Lehrer, Journalist, Schriftsteller, Wissenschaftler. Eigentlich wollte ich nie was werden. Zumindest das dürfte mir gelungen sein.