„Leben im Sterben“

Streifzüge 1/2002

von Heinz Blaha1

„Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, und jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung.“ (Karl Marx)

Wie gewöhnlich erstürmte sich der Herbst an jenem unseligen 11. Tag im September seine Kreise mit den Blättern im Wind. Die Tage sind merkbar kurz geworden, bevor die Dunkelheit der Nacht als Bedrückung einer besinnlichen Zeit die Menschen streifte. Die verordnete und wertbestimmte Trauer nach dem Kamikaze-Überfall auf das Imperium war knapp vor Allerheiligen und ordnete sich ein zur jährlichen Erinnerung an den „sterbenden Geist“, der als Inkarnation der Warenproduktion als ewig erachtet werden soll. Der Zeitpunkt ist passend und es verspricht die Tradition der räuberischen Wertegemeinschaft, einmal im Jahr an den Tod zu erinnern. Schließlich ist es die Betroffenheit personifizierter Warenkörper, welche in ihrer reflektionslosen Ungesellschaftlichkeit an das tierische Recht des Stärkeren erinnern.

Die betroffenen Hüter im Zentrum des fetischistischen „Wertes“ sind rückwärtsgewandt angeschlagen und treffen im Rundumschlag, mit aller potenzierten Wucht, das Fremde, das Wertlose, den un-identifizerbaren lebendigen Toten. Das unendliche Leben als Materie gilt für alle Beteiligten, obgleich das Endliche in unerträglicher Seligkeit zu erdulden, angemaßt wird. Die Größe des Sterbens beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung des Lebens greifbar zu werden. Im gleißenden Scheinwerferlicht des Warenuniversums dämmert es anscheinend nie.

Durchaus schmerzt der Abgang eines trauten Menschen oder bleiben Verstorbene in persönlicher Erinnerung. Doch um an Geliebte oder weniger geliebte verstorbene Menschen zu denken, bedarf es eigentlich keinerlei Rituale. Das Spiel ist freilich eines, bei dem die bürgerliche Affirmation irgendwann aus der Rolle des Zuschauers in die des Sterbenden wechseln muss. „Der Tod scheint als ein harter Sieg der Gattung über das bestimmte Individuum und ihrer Einheit zu widersprechen; aber das bestimmte Individuum ist nur ein bestimmtes Gattungswesen, als solches eben sterblich, schreibt Marx in „ökonomisch-philosophische Manuskripte“(1848). 2

Der Aberglaube bezieht seine siechende Kraft aus der Vorstellung ewigen Lebens, das erleichtert die Handlungen der werttreuen Geselligkeit. „Andauernde Freiheit“ und „Unendliche Gerechtigkeit“ ist das Logo der Wertverwertung.

Während die personale Unverträglichkeit der Verdinglichung eine psychosoziale Gesamtklinik in den Zentren produziert, wird mittels eines „aufgeklärten“ freien Willens und in selbstherrlicher Verblendung das Leid der periphär Getroffenen wertlos! Kollateralschäden oder schwarze Schafe der Menschheit, ein Abbuchungsposten wie er im Buche der Betriebswirtschaftslehre abgedruckt und durchgesetzt wird.

Die Schizophrenie in der Affirmation des Abstrakten ist in ihrer Glückseligkeit als fiktive Sicherheit des positiven Denkens zu bemerken, denn wenn das Geschehen nicht so funktioniert wie es sollte, gibt es für alle religiösen Seiten das Beruhigungsmittel, den hoffnungsvollen Glauben ein zweites Leben als „Joker“ im Hemdsärmel zu besitzen. Funktionseliten und ihre Apologeten verkünden das Ende der Geschichte (F. Fukuyama) als unendliches Leben und Sicherheit vor dem Tod bei ewiger Warenproduktion.

In der säkularisierten Religon des Warenfetisch bewirkt, einer „negativen Dialektik der Aufklärung“ folgend, der abstrakte Selbsthass ein unfreiwilliges „Showdown“ der Macht. Das Aufdecken der Karten ist nicht vermeidbar, doch Kulturindustrie und Theorielosigkeit bieten die idealistische Möglichkeit in der propagierten Rechtfertigung des Selbstbetrugs, ewiges Leben im Tauschakt aufrecht erhalten zu können. Kompensatorisch dazu entwickeln sich Hybris und Todestrieb kapitalistischer Vernunft“, die epidemisch grassierende „Sucht der Selbstzerstörung“, um vice versa das verdinglichte aufgeklärte und sozial unterentwickelte „Selbst“ durch ein imaginiertes und atomisiertes „Ich im Wir“, zu ersetzen. Die „Ware“ Mensch normt sich als verinnerlichte „Ich-AG“ zur wertstützenden Massenfigur der Selbstzerstörung.

Der Rettungsanker schwelgt in der angstvollen Hoffnung, im nächsten Leben alles anders machen zu können. Was das natürliche „was“ sein soll, erstickt sich schon bei der geringsten Nachfrage. Das ist ebenso die sinnlose Hoffnung und der Antrieb biologistischer Tendenzen, dass Kinder an die Macht(! ) kommen sollen, um es besser zu machen. Weshalb auch? Unverstandene „Schuld abladen“ wäre ebenfalls angebracht und ehrlicher.

Warum sollten die „Youngsters ohne Geschichte“ 3 irgend etwas besser machen, sie machen bewußtlos das Beste daraus und zementieren damit das Geschehen. Warum sollte ein kreatürliches Verhalten auch Staunen hervorrufen?

Die fiebernden Attentäter des 11. Septembers, sind ebenso universale wie auch historische Gegebenheit postmoderner Existenzen, welchen der konkrete Gedanken fehlt, der erst einmal zu abstrahieren ist.

Doch davor herrscht Angst und dies zu übertönen ist Sinn und Selbstzweck der „Gesellschaft des Spektakels“, in „der die kapitalistische Produktion den Raum vereinheitlicht und den keine äußeren Gesellschaften mehr begrenzen können. „4 Die demokratischen Krokodilstränen nach dem Kamikaziüberfall auf die USA waren ausgesprochen spektakulär wie die Tat selbst und einfache Gemüter lassen sich beeindrucken. Daraufhin marschierte der akkumulierte Marktwirtschaftsfundamentalismus, allen voran die USA als „Mudschahidins des Werts“5 mit Bomben und Tod los, um das Böse zu vernichten. Im Gegensatz dazu schleichen sich flächendeckend Brosamen vorhandener Lockstoffe der Warenwirtschaft, wie Jeans und Lippenstift als „endlose Gerechtigkeit“, in die ausgemergelten Gestalten. Das wird der „Bevölkerung“ kaum Auftrieb geben. Die Kulturindustrie ist schrankelos in ihrer peinlichen Durchdringung des globalen Marktes und es ist bezeichnend, dass Video- Shops als erstes in Kabul ihre Pforten öffneten. Es klingt schon seltsam, wenn zwei Weltreligionen, welche „Frieden“ als letztes Ziel beanspruchen, diesen um jeden Preis erringen wollen und es ist passend Marx ein zweitesmal zu Wort kommen zu lassen: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protesta(k)tion gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. „6 Sie ist das verdinglichte Selbstwertgefühl der gläubigen und ungläubigen Menschen, welche nicht zu sich kommen und deshalb außer sich sind.

Aus früheren Freunden wurden Feinde, doch worüber reden, wenn beide das Selbe möchten und am Ende die Macht entscheidet. Schnell sind die Fronten klar unter Freunden, doch werden gewisse Feinheiten beachtet. Die saudiarabischen Muslims, welche ebenso schnell die Hände abhacken und Frauen steinigen, unterscheiden sich jedoch gründlich. „Der Taliban will kein Geld verdienen“, rotzte der geladene Bush ins Mikrofon und das entspricht einem Todesurteil. Das Marktgesetz wirkt mit seiner ehernen Faust. Wogegen mit dem „guten“ Moslem das Geschäft läuft. UHBP war der erste Freund, der auftauchte und die potentiellen Geschäftsfreunde in ihren Palästen hofierte. Räuber bleiben sie allemal und wer die Welt mit den Augen des Plünderes betrachtet, kann vor sich und den Menschen keine Achtung haben.

Ein junger Mann ging zu Kriegsbeginn in Stuttgart mit einer Tafel auf die Straße. Darauf schrieb er: „Nur eine gerechte Weltwirtschaft gräbt dem Terror das Wasser ab.“ Die leise vernünftige Stimme freute sich, viel Zustimmung erhalten zu haben. Es gibt jedoch keine gerechte Weltwirtschaft unter den Prämissen Arbeit, Ware, Geld, Markt, Staat und anderen alltäglichen Zumutungen der Wertverwertung und wenn die Gerechtigkeit eben so gerecht ist, wie sie ist, dann ist sie auf jeden Fall marktgerecht.

Hinter dem Donnerlärm der Kriegsmaschinerie maskiert sich das bürgerliche Subjekt, welches mit einer Zwiebel zu vergleichen ist. Kernlos maskiert sich die Charaktermaske, um die Hohlheit der „abstrakten“ Arbeit abzulenken. „Wenn alle Irrtümer geklärt sind“, frei nach Brecht, „dann sitzt uns als Gesellschafter das Nichts gegenüber“. Dieses nichtige bürgerliche Waren-„Ich“, ständig auf der Suche nach einem“Selbst“, bildet sich vielmehr als Illusion im Tauschakt, in der entfremdeten Selbstbestätigung als Konkurrenzindividuum, im Spiegel des Tauschpartners. In der Illusion eines imaginierten „Selbst“ und Vollstrecker des Tauschwerts treibt es im Fortschrittsglauben, blind auf die Stimme eines reinen Herzens vertrauend – welches doch nur Liebe und Hass sprechen kann – wie ein verglühender Komet in den eigenen Untergang.

Ein kritisches „Selbst“ der Subjekte soll es gar nicht mehr geben, dieses Gen will nicht und nicht gefunden werden. Das Reflexionsvermögen gesellschaftlich auszuradieren und die Naturalisierung des Gesellschaftlichen voranzutreiben ist die Aufgabe der Form, welche wie ein Nebelgeschwader den Inhalt trübt. Das ist gerade die Ladung des blühenden Antisemitismus bzw. des mittlerweil obskuren anti-Antisemitismus. Diese Kraftlosigkeit erklärt mitunter die Anbiederung „linksrabiater“ Gruppen an das Wertgeschehen.

Die im Tauschverhältnis unterlegenen „Subjekte“ bemerken diese innere „Leere“ ihrer Marginalisierung und begegnen ihr mit „Zerstörung“ nach Innen und Außen, um den modernen Anspruch der Konkurrenz gerecht werden zu können.

Gleichzeitig erhöht sich der Druck, bei fortlaufender „Naturalisierung des Gesellschaftlichen“ auf sich selbst zurückgeworfen zu sein und als atomisiertes „Ich“ bestehen zu müssen. Doch dabei ist es ein grenzenloses Leiden. „Unendliche Gerechtigkeit“ und „andauernde Freiheit“ sind die Postulate des bizarren Friedenskrieg. „Andauernd ist bloß der Tod, nur er meint die endgültige Befreiung, und zwar vom Leben“, schreibt F. Schandl in „The road to nowhere“ und meint weiters, dass „Enduring freedom“ als Deckname für „endless death“ stehe. 7

Die warenproduzierenende Moderne offenbart sich in ihren Predigten und Parolen als nekrotischer Fäulnisprozess, was ein und dasselbe meint.

Kein Wunder dass die Menschen unentwegt vor sich selber herlaufen, denn sie fürchten den Tod, der ihnen aus allem, was sie berühren, entgegen grinst.

Im Sinne des Tauschwertes ist es, daß der Tod von den Menschen schon zu deren Lebzeiten Besitz ergreift. Die postmodernen Marktmonaden erkennen zwar dieses Wort „TOD“ aber in diesem Erkennen ändert das Leben bloß das Aussehen, eben die Form. Es hört nicht auf, es wird nur mehr scheußlich, weil man den Tod fortan in sich spürt. Maupassant läßt in seinem Roman „Bel Ami“, den Schriftsteller Duroys über den Tod zu Wort kommen. Nach längerem Aufenthalt in den Kolonien hat er gelernt, Menschen als Schweine zu betrachten, weil sie leben und als Lebende Besitzansprüche erheben und ihr Eigentum verteidigen. Nachdem Tote als Rechtspersonen nicht gelten, möchte er gern die Lebenden in Tote verwandeln: „Ich fühle seit fünfzehn Jahren, wie er in mir arbeitet; es ist als trüge ich ein nagendes Tier in mir. Ich habe gespürt, wie er mich nach und nach, Monat für Monat, Stunde für Stunde verfallen läßt, wie ein altes Haus, das langsam zerbröckelt. Er hat mich so gänzlich entstellt, dass ich mich nicht mehr wiedererkenne.“ Der lebendige Verfall ist sicherlich kein Vergnügen, aber zur furchtbaren seelischen Qual und ein Grund, mittels Karriere und Diät dagegen anzukämpfen, wird er erst, wenn er tatsächlich im Sterben, als Kategorie des Leistungszwangs begriffen wird. In Frieden und Ruhe einfach sterben ist nicht, er muss noch inszeniert werden. Ist alles erledigt, was zu erledigen ist? Der Tod, als „negative Dialektik der Aufklärung“ begriffen, als Fortsetzung von Auschwitz in anderen Formen, gilt gerade auch für die Jüngeren. Die Frist, die ihnen verbleibt, bis sie den Tod fühlen können, bedeutet Aufschub im Verbraucherhimmel der Warenwelt, sonst nichts. Heute ist der Tod aber nicht mehr das Ende, sondern er nistet sich im Leben ein und reserviert sich einen Stammplatz in der Psyche der Warenmonade. Wer den Menschen keine Zuneigung entgegenbringen kann, sieht im Sterbenden nur den Tod.


1 Angeregt dazu wurde ich von Wolfgang Pohrt; „Brothers in crime“; Edition Tiamat

2 Aus dem Nachtrag zu dem verlorengegangenen Text des zweiten Manuskriptes.

3 Gleichzeitig birgt die Situation eine unbedarfte Vermittlungmöglichkeit, welche sich „trans“ jeglicher Ideologien bewegt.

4 Guy Debord; Die Gesellschaft des Spektakels; S. 145 Edition TIAMAT.

5 Robert Kurz; Streifzüge 3/2001.

6 Karl Marx; „Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie“; MEW- Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 378.

7 Franz Schandl, „The road to nowhere“; Streifzüge 3/2001; Volksstimme 11.10.01.

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