Streifzüge 3/2001
von Gerold Wallner
Als die Titanic unterging, war die Betroffenheit groß; nicht nur, weil das Schiff als unsinkbares Symbol des Fortschritts gegolten hatte, auch nicht, weil die Legende vom heroischen, stoischen, höflichen Sterben der Passagiere der ersten Klasse das comme il faut der Bourgeoisie noch einmal beschwor, sondern vor allem deshalb, weil es der erste Untergang eines Schiffs war, der nahezu in Echtzeit über den als Kommunikationsmittel durchgesetzten Funk in Windeseile von aller Welt erlebt wurde.
Ähnliches mag wohl für die Passagiere der gekaperten Clipper und die Angestellten in den vom Feuer eingeschlossenen Büroräumen gelten, die über das Mobiltelefon um Hilfe riefen, oder ihre Angehörigen informierten und sich verabschiedeten.
Der Unterschied liegt aber dort, wo beim einen Mal der Einbruch des Irrationalen durch einen schlichten Eisberg und die mangelhafte Kompetenz des Kapitäns verursacht wurde, beim anderen Mal aber durch menschliche Planung. Und es ist dieser Einbruch des Irrationalen in die Welt der bürgerlichen Geselligkeit, der einen Ausweg zu weisen scheint: bessere Konstruktionspläne für Schiffe und Gebäude, bessere Konstruktionspläne für die Welt. Nun wird von Krieg gesprochen (schon wird er auch geführt); was inhaltlich zu erwarten ist, sind aber die rationalen Methoden von Polizei und Justiz, unterfuttert mit militärischer Assistenz, mit Aktionen der Diplomatie und der Geheimdienste, und wenn Bush in der Rhetorik der Heimatfilme bin Laden dead or alive zu sehen wünscht, kann wohl angenommen werden, dass ihm alive lieber ist, damit das dead von einem unabhängigen Gerichtshof gesprochen wird, der der Rationalität so zum nächsten Triumph verholfen hat. Geht das Ganze noch einher mit der Etablierung oder Festigung befreundeter Regime, so ist die neue Weltordnung nicht angekratzt, sondern firmer bestätigt. Bis zum nächsten Mal.
Diese wieder hergestellte Rationalität wird dann weiter zusammen schnurren, die Festungsbauten werden höher, die Grenzen dichter, die Staaten der bürgerlichen Geselligkeit werden immer mehr jenen Wohnsiedlungen der Reichen ähneln, die von Stacheldraht und privaten Wachdiensten umgeben ihrer kontrollierten Einwohnerschaft ein angenehmes Leben bieten. Und nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm. Dieser Wohlstand, mit all seinen Privilegien und Verpflichtungen, wird aber zusammen mit seiner Demokratie und seinen Rechts garantien zusehends zur Minderheitenveranstaltung. Mit ihr beschränkt sich der Wirkungskreis der in dieser Gesellschaft geborgenen Rationalität, so weit sie mit sozialem und geselligem Leben als sinnliche Dimension des Lebens gemeint ist (z. B. Wahlen, Mitbestimmung, Bürgerinitiativen, Arbeit), auf immer schmälere Metropoleninseln.
Die unsinnliche, abstrakte, ideologische Dimension dieser Rationalität wird aber, von der Mehrheit der Menschheit nicht ausgeübt und wohl von keinem steuerbar, allgemein weiter gelten. Die bürgerliche Geselligkeit wird ihre umfassende Mobilität vorwärts treiben, ihre Sicherheits-, Polizei- und Wachdienste ausbauen, und ihre Logik von Recht und Gesetz nicht aufgeben. Die feindlichen Mineure werden ausgehoben, Helden der Demokratie gefeiert werden, die Menschenrechte des Kapitalismus weiterhin in Kraft gehalten. Das Treiben der Geldkarawanen auf den Infohighways wird sich durch bellende Hunde nicht aufhalten lassen, auch wenn die Orte der realen Muße kleiner und beengter werden. Was spricht gegen eine geopolitische (und wohl auch sicherheitspolitische) Organisation der Heimstätten der Geldsubjekte à la club mediterrané? Abgeschlossen von störenden Umwelteinflüssen? Ohne Belästigung durch bettelnde Eingeborene? Na sehen Sie.
Es ist also diese Aussicht auf das sich Einnisten in unserer Welt, auf dieses Nesthockertum, darauf, nicht um die Burg flügge werden zu wollen und zu anderen Horizonten aufzubrechen, die zum nächsten Argument führen wird. Schon die Aussicht auf weitere Normalität mit ihrer weiter verfochtenen Rationalität lässt die Frage zu, ob nicht hier business as usual betrieben wird. Wenn westliche Rationalität aufrecht erhalten wird, wird wohl erlaubt sein, diese Rationalität kritischer zu beleuchten. Wie rational ist etwa eine Börse? Wie rational ist eine Gesellschaft, die der Bewegung der Gelds alles unterwirft?
Ich will jetzt hier erst gar nicht das Argument der Wertkritik entfalten. Unsere Publikationen und andere haben dies schon öfter mit wechselnder Klarheit getan. Hier will ich mich lediglich mit dem Alltagsbewusstsein befassen. Was also sagt dieses Alltagsbewusstsein, wenn es sich einmal gehen und fünfe grade sein lassen will? Es sagt: „Was kostet die Welt? “ Es beruft sich auf Geld, um darzutun, dass jetzt einmal nichts mit Geld ausgedrückt wird, dass die Welt, das Leben, das Wohlsein nicht käuflich ist. Es beruft sich negativ auf Geld, um es einmal gut zu haben. Das Alltagsbewusstsein ist sich also im Klaren darüber, dass nicht alles daran gemessen wird, was wert ist und was nicht. Wo ist diese unterschwellige Ahnung nun besser aufgehoben als im Volksmund des Witzes?
Natürlich ist dieses Alltagsbewußtsein nicht rebellisch. Es wird weiterhin arbeiten, in Kauf nehmen, dass jede soziale Aktion, jeder Austausch durch das Geld und in der Folge durch Papier verdoppelt erscheint; es wird weiterhin in Kauf nehmen, dass seine Wünsche und Vorstellungen unberücksichtigt bleiben, weil die Frage, wer dies alles bezahlen soll, als unbeantwortbar definiert wird. Es wird sich damit begnügen, dass es halt so ist, und die Diktatur von Zeit und Geld den Rubel rollen und den Schornstein rauchen lassen muss, auch wenn er die Umwelt vergiftet. Es fragt, was die Welt wohl koste, und versucht, aus dieser Welt noch seinen Nutzen zu ziehen. Es bleibt für sich, macht seine Rechnung mit dieser Welt auf, und versucht, alles andere draußen zu halten. Es nimmt das Geld in Kauf, um zu überleben, aber es verachtet sein Lebensmittel als nutzlosen Reichtum und verurteilt ihn: „Goldene Knödel kann man nicht essen.“ Es ist ungreifbar. Die Leute haben es nicht einmal an der Tasche, denn es steckt in der Wirtschaft.
Das Alltagsbewußtsein, nicht willens, ein Konstrukt wie „Realabstraktion“ zu begreifen (noch einmal: nicht willens, nicht unfähig), kann sich nun Geld nur noch vorstellen an seiner personifizierten Manifestation, an einem Menschen, der vollkommen wirklich Geld hat. Und der ist natürlich sozial verdächtig, ein Sozialschmarotzer sui generis. Nicht nur wer arbeitslos, nicht weißer Hautfarbe, weiblich, Kind oder im Ruhestand ist, erscheint sozial auffällig, auch wer reich ist, zieht das argwöhnische Interesse auf sich, solange sein Geld nicht in der Wirtschaft steckt, sondern für privaten lukullischen Konsum verausgabt wird; im übrigen eine kleine Erklärung für die yellow press und die krankhafte öffentliche Neugier auf Drogenkonsum, Krankheiten und Scheidungsdramen der Prominenten.
Und jenseits der Prominenten gibt es die, die den nächsten Ausspruch des Volksmunds verkörpern: “ Geld hat kein Mascherl.“ Und so wie Geld kein Mascherl, keine Zuordnung also hat, hat sein Träger keine Heimat. Das war einmal in unseren Breiten der ewige Jude, das war für den jungen türkischen nota bene laizistischen Staat der (nota bene christliche) Armenier (auch mit einer großen Diaspora versehen), das sind nun die Globalisierer, also die Banker und Spekulanten, also die Amerikaner. Wir finden den Basilisken auf dem Grunde unseres Hausbrunnen. Und wenn er vor Wut zerspringt vor dem vorgehaltenen Spiegel, dann weil er uns erblickt. Hält er uns den Spiegel vor, zerspringen wir vor dem darin eingeschlossenen Terror.
Es ist dieses Spiegelbildliche der Entwicklung in der bürgerlichen Geselligkeit, die den Terror auf sich selbst zurück wirft. Wir bekommen diese Art von Fortschritt nur im Spiegel. Mit dem Heraustreten der europäischen Menschheit aus dem Mittelalter, mit Beginn einer Entwicklung von Wissenschaften und Genies begann gleichzeitig die mörderische Kampagne gegen die europäischen Frauen. Als die europäische Menschheit aus Europa heraustrat, begann die mörderische Kampagne gegen andere Völker. Dies alles war gebunden an die Durchsetzung der Geldrechnung und der Zeitwirtschaft. Durchgesetzt wurde diese Diktatur von Zeit und Geld mit dem Versprechen eines Reichtums, der zu diesem Zeitpunkt allerdings schon seine konkrete Angreifbarkeit verloren hatte. Er kam von wo anders und ging wo anders hin.
Wenn das Alltagsbewusstsein darauf rekurriert, ist es auch schon egal, wer sich darauf zu einer nun terroristischen Antwort hinreißen lässt. Solange der Reichtum ein konkreter, sinnlicher und, und das ist ebenso wichtig, ein allgemeiner ist, wird der Terror keine Chance haben. Solange Reichtum aber nicht konkret ist, und ein jedes, das sein Aktienpaket besitzt, kann in der Zeitung nachlesen, dass es heute oder morgen ärmer oder reicher geworden ist, ja sogar falliert hat, ohne dass sich an der Menge der Güter, die zum Verzehr anstünden, auch nur das Geringste geändert hat, solange ist er nur eine Chimaire der Armut. Und die Armut selbst wird dort zum konkreten Reichtum, wo sie an die Stelle des Unfassbaren einen acte gratuit setzt. So kann das Almosen oder die Schule, gegeben von denen, die bekannt sind als Wohltäter, die ärmsten Leute reicher machen, als sie angesichts der Waren- und Geldströme inclusive der unverbindlichen, nichts gewährenden Verpflichtung, mit diesem Strom ~u schwimmen, je waren. Wo aber Almosen und Mildtätigkeit von der bürgerlichen Sichtweise selbst nur noch als Karikaturen des kapitalistischen Reichtums begriffen werden, dort ist, wiederum im Spiegel, der Angriff des Terrors auf die Symbole dieses Reichtums auch nur die Zerstörung einer Karikatur.
Wo Reichtum durch Mangel definiert ist (der Rubel muss rollen und das Geld in der Wirtschaft stecken), werden Symbole oder symbolträchtige Personen zum Ziel der Wut über das versagte Glück und Glück selbst in das kommende Paradies phantasiert; sei es nun himmlisch oder nicht.
Das Attentat, das nun in die Geschichte eingehen wird, lehrt zweierlei. Wir werden nicht das Dilemma lösen, eine irrationale Rationalität der Waren- und Geldströme zu verteidigen gegen eine rationale Irrationalität des Angriffs auf eine Gesellschaft, die sich selbst ihrer Grundlage begibt, wenn sie ihre Mitglieder dazu anhält, nur um ihr eigenes Fortkommen besorgt zu sein und diesen kanonisierten Egoismus als Tugend, Verpflichtung und garantiertes Recht der gesamten Welt aufherrschen will. Wir werden vice versa nicht eine rationale Irrationalität verteidigen gegen die Vergeltung einer irrationalen Rationalität, wo jene in ihrem Angriff und in der Opferung ihrer paradiesischen Kämpfer des Reichtums erst gar nicht habhaft werden kann und so nichts zu versprechen und zu gewinnen hat. Dieses „wir“ bleibt amorph und unbestimmt. Ich spreche für ein „wir in statu nascendi“.
Zum Zweiten halten wir fest, dass wir nicht mehr in einer dissoziierten Welt leben, die es uns erlaubt, anlässlich des Anderen in ehrfürchtiges Staunen zu fallen, denn das Andere sind wir selbst. Wir erstaunen nicht. Wir betrauern eine Welt, die Menschen dazu bringt, sich selbst und andere zu opfern, und dieses Opfer einer Gottheit, unfassbar wie Mammon oder Gott, zu weihen, ohne sich selbst zu hemmen, wie Gott den Abraham hemmte, als er Isaak opfern sollte, auf seinen eigenen Befehl hin, um Abraham zu prüfen. Gott ist damals in diesem schlechten Spass Abraham in den Arm gefallen. Es ist an uns, den Opfernden in den Arm zu fallen. Aber die Opfernden sind nicht nur die Attentäter, sondern auch jene, die Hochhäuser wie Altäre bauen. Hier schließt sich der Kreis.