von Ortwin Rosner
Franz Schandl hat mir vorgeschlagen, einen Artikel zur bürgerlichen Ideologie zu schreiben. Diesen Vorschlag unterlaufe ich eine Spur weit: das drängendste Problem unserer Zeit scheint mir nämlich weniger Ideologie als solche zu sein als eine massive ideologische Verwirrung.
Zuerst einmal ein kurzer Text, den ich dazu ‒ im unmittelbaren Zusammenhang mit den Corona-Demos, aber übergreifend gedacht ‒ auf Facebook gepostet habe:
„In den FB-Diskussionen habe ich festgestellt, die meisten der Corona-Leugner sind postmoderne Hybride, ideologisch Verwirrte, richtige Kinder unserer Zeit. Sie sind im Grunde gar nix, weder links noch rechts, aber dann doch alles davon, wenn es nötig ist. Und natürlich viel Esoterik hineingemischt. Sie reden Phrasen nach, ohne zu verstehen, was sie überhaupt heißen, sind aber kaum imstande, einem längeren, komplexeren Gedankengang zu folgen. Ihr sogenanntes Denken besteht nicht mehr aus Ideologien, sondern nur mehr aus Bruchstücken von Ideologien, die sie wild zusammenkleistern, ohne dass sie die daraus entstehenden Widersprüche bemerken. Ein beeindruckendes postmodernes Phänomen.“
Ein Beispiel: Der Kapitalismuskritiker …
Aus den vielen möglichen Beispielen, die man hier zur plastischen Veranschaulichung heranziehen könnte, wähle ich den Facebook-Account eines gewissen E. D. Er hat immerhin fast tausend Freunde und erhält für seine Aussagen überwiegend Zustimmung. Dass sie eine inkohärente Mischung aus unterschiedlichen und bisweilen einander sogar völlig widersprechenden weltanschaulichen Positionen beinhalten, scheint die breite Anhängerschar nicht nur nicht zu stören, sondern mehr noch, und das ist das eigentlich Bedenkenswerte, weder von dieser noch von E. D. selbst bemerkt zu werden. Hauptsache, die Sprüche, Phrasen und Schlagwörter klingen gut und animieren dazu, sie zu liken.
Zuerst scheint mir der Mann ein klassischer Linker zu sein. In regelrechten Kampfpostings tritt er ein für faire Löhne, für eine Besteuerung der Reichen, gegen Armut und sogar für das bedingungslose Grundeinkommen. Sätze von Karl Marx, Sarah Wagenknecht und Martin Luther King geben sich hier die Klinke in die Hand. Dazu passt, dass der Mann (ein Deutscher) angibt, Gewerkschaftsfunktionär zu sein. Dass er die Gefährlichkeit des Corona-Virus in Abrede stellt und mit Vehemenz gegen die Maskentragepflicht wettert, ändert noch nicht viel an dem Bild, das tun viele zu der Zeit, und ich bin keiner, der rasch jemanden als „Verschwörungstheoretiker“ abstempelt.
Mit Unbehagen bemerke ich allerdings nach und nach, dass sich unter seinen zahlreichen Followern auch nicht wenige tummeln, die den Immigranten die Schuld an allem geben, ohne dass E. D. dagegen einschreitet. Richtiggehend stutzig werde ich jedoch, als ich bemerke, dass er weder die Quellen noch die Inhalte seiner Postings irgendeiner Prüfung unterzieht, er teilt einfach wild alles, was auch nur irgendwie seinem mir immer hetzerischer und einfältiger anmutenden Tenor „Die da oben tun mit uns, was sie wollen, aber wir, das Volk, lassen uns von den Regierenden nicht verarschen!“ entgegenkommt.
… der plötzlich neoliberale Schlagworte verbreitet
Wirklich schwer begreifbar, mit wem ich es hier eigentlich zu tun habe, wird es mir aber, als derselbe Mann im Zusammenhang mit seinem Unglauben an die Gefährlichkeit des Corona-Virus ein Posting teilt, das ‒ im New-Age-Stil geschrieben ‒ plötzlich nicht mehr „denen da oben”, sondern dem uneinsichtigen Einzelnen die Schuld an allem gibt: „Die moderne Medizin kümmert sich um deine Krankheit ‒ davon lebt sie! Um deine Gesundheit musst du dich kümmern ‒ davon lebst du!“
„Genauso ist es! Eigenverantwortung! So muss es sein!“, stimmen seine Anhänger der Reihe nach ‒ und das ganz ironiefrei ‒ zu. „Ein jeder hat es selbst in der Hand, ob er gesund bleibt oder nicht!“ ‒ „Ein jeder ist selbst für sein Immunsystem verantwortlich!“
Ein besonderer Eiferer ist sich sicher, dass die meisten Leute nur deswegen krank würden, weil sie ihre Verantwortung für sich selbst nicht einsähen, und dass man, wenn sie das täten, locker einen Großteil der medizinischen Einrichtungen einsparen könnte. E. D. schenkt ihm ein „Gefällt mir“.
Durchmixt sind diese Stellungnahmen mit Schuldzuweisungen an die Finanzwirtschaft. Immer schwerer wird es für mich, irgendeinen Sinn in alldem zu erkennen. Später entdecke ich, dass auch E. D. selbst etwas postet, was ich nur als Hetze gegen Ausländer bezeichnen kann. Dann empört er sich allerdings wieder über die Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA. Als ich E. D. frage, ob er nun eigentlich ein Linker oder ein Rechter sei, wird mir vorgeworfen, ich dächte in Schablonen. Als ich kritisiere, dass er weltanschaulich höchst Widersprüchliches verbreite, behauptet er, er erhebe ja keinen absoluten Wahrheitsanspruch, er stelle nur die „Meinungsvielfalt“ dar.
Als ich ihn aber darauf hinweise, dass ein Ruf nach Abbau des Gesundheitswesens und „Eigenverantwortung“ der Kranken mit seinem lautstarken Eintreten für „das Volk“ wohl eher unvereinbar sei, prescht der besagte Eiferer noch einmal vor und gibt mir zu verstehen, dass ich geistig nicht ganz gesund sei. Offenbar hat die von E. D. verkündete „Meinungsvielfalt“ in seiner Time-Line dort ein Ende, wo man ihn kritisiert.
(Selbst-)Widersprüche demnach, wohin man schaut. Aber sie, und das ist das Auffallende, kümmern niemanden mehr, sie werden von niemandem reflektiert. Das Internet ist ein Meer an wohlklingenden Behauptungen. Man liket und verbreitet das, was einem gerade in den Kram passt, ohne zu verstehen, was es eigentlich bedeutet. Und man ist dabei alles zugleich und am Ende doch nichts.
Die Postmoderne als Hintergrund des geistigen Zerfalls
Man könnte freilich nun versucht sein, dieses phänomenale Beispiel ideologischen Irrlichterns als Einzelfall abzutun oder als bizarres Charakteristikum einer Minderheit, das bloß ein paar „kranke Spinner“ in ihrer Facebook-Blase betreffe ‒ inmitten einer ansonsten „gesunden“ Gesellschaft ‒ oder nur den Bodensatz von Ungebildeten ‒ in einer rundherum aufgeklärten Welt. Oder man mag es allein auf die Dynamik der sozialen Medien schieben. All das sind sehr gängige Reflexe. Meine Gegenthese ist, dass hier etwas aufbricht, was symptomatisch für den derzeitigen Zustand der Gesellschaft ist. Ich behaupte, dass das Geschilderte nicht isoliert, sondern nur als Ausdruck einer tiefergehenden geistigen Verwahrlosung des gesamten gesellschaftlichen Diskurses verstanden werden kann.
Denn die ganze heutige Zeit atmet diese Konfusion. Wenn etwa linksliberale Leitartikelschreiber in einem Moment den Schrecken der Klimakrise an die Wand malen, im nächsten sich aber darüber freuen, dass jene Wirtschaft wieder zulegt, die bekanntlich die Klimakrise verursacht, dann erscheint uns das vielleicht nur deswegen nicht vollkommen verrückt, weil wir diese Absurditäten, im Unterschied zu jenen der Corona-Demonstranten, schon gewohnt sind.
Möglicherweise liegt aber paradoxerweise der ideologischen Wirrnis doch auch wieder eine Ideologie zugrunde. Ohne gleich jemanden als Verursacher ausmachen zu wollen, aber es gibt hier doch eine überraschende Parallele. Die soeben beschriebene eigenartige Aufsplitterung der Aussagen der Subjekte in inkohärente und nicht mehr verständlich zusammenfügbare Bestandteile entspricht jedenfalls doch frappant dem, was die postmoderne Philosophie ‒ und das mit einem gewissen Erfolg ‒ vorangetrieben hat.
Schließlich ist die Postmoderne beziehungsweise der Poststrukturalismus dasjenige theoretische Gebilde, welches das Problem des Widerspruches (des logischen, aber auch des gesellschaftlichen) ad acta gelegt haben wollte, als Problem, das lediglich eine autoritär gesinnte Vernunft beträfe. Anstelle einer Kritik des Widerspruchs kam es zu einer Feier der Vielheit. Demgemäß wurde die Dialektik verabschiedet. Stattdessen hielt der Kult um die Differenz (die zwischen den Subjekten, aber auch die im Subjekt) Einzug, die kein Problem mehr darstellen sollte, sondern einfach nur mehr per se als gut erachtet wurde.
Auch die Idee einer Wahrheit, die zu suchen sei, wurde für konservativ und überflüssig erklärt, und das vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie. Auch sie sollte es bestenfalls nur mehr im Plural geben. Wer immer aber noch nach der „einen“ Wahrheit suchte, geriet unter Totalitarismus-Verdacht.
Demgegenüber wurden Schlagworte wie Heterogenität, Permutation und plurale Verkettung sowie insbesondere der oder das „Andere“ ausgewalzt und gleichzeitig das „nomadische Subjekt“ oder überhaupt gleich der „Tod des Subjekts“ verkündet. Denn die Idee einer logischen Kriterien standhaltenden Einheit des Subjekts meinte man als bloßes Produkt einer unterdrückerischen gesellschaftlichen Sprache entlarvt zu haben. Die Auflösung des Ichs wurde euphorisch gefeiert, als der entscheidende Schritt zur Freiheit.
So zum Beispiel im Falle des französischen Autorenduos Gilles Deleuze und Félix Guattari, die sich an diesem Gedanken regelrecht berauschten: „Nicht, um dabei an einen Punkt zu kommen, wo man nicht mehr ich sagt, sondern dahin, wo es völlig gleichgültig ist, ich zu sagen oder nicht. Wir sind nicht mehr wir selbst. Jeder wird seine Teile schon erkennen. Man hat uns unterstützt, verschlungen und vervielfältigt.“ (Deleuze/Guattari 1977, S. 5)
Solche Sätze mögen zwar bizarr und ungewöhnlich klingen, gleichzeitig aber ist mehr, als uns bewusst ist, von diesen Ideen der Postmoderne in unseren Alltag eingedrungen und selbstverständlich für uns geworden, als Teil der neoliberal-digitalen Welt, in der wir leben. „Vervielfältigt“ werden unsere Ichs ‒ wie alles, was Information trägt ‒ tatsächlich heutzutage wie am Fließband, in den Medien und im Internet. Danach, dass jeder „seine Teile schon erkennen“ wird, schaut es ‒ siehe das obige Beispiel ‒ jedoch immer weniger aus. Und auch die Auffassung, dass man mit derartigen postmodernen Strategien dem Totalitarismus einen Riegel vorgeschoben hätte, erweist sich angesichts der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen als illusorisch.
Ganz im Gegensatz dazu scheint auf diesem Boden mittlerweile etwas zu gedeihen, was ich als „Patchwork-Totalitarismus“ bezeichnen möchte. Was das ist und wie es so weit kommen konnte, möchte ich im Folgenden ausloten. Dafür werde ich auf das Werk des 1969 verstorbenen Frankfurter Theoretikers Theodor W. Adorno zurückgreifen.
Regressives Bewusstsein
Gerade um Adornos geistiges Erbe gibt es ein gewisses Gerangel, und er wird retrospektiv von manchen postmodernen Denkern zu vereinnahmen versucht als einer, der doch im Grunde schon „einer von uns“ gewesen sei. Der slowenische Starphilosoph Slavoj Žižek etwa (von dem man allerdings auch nicht so genau weiß, was er eigentlich ist …) versucht ihn auf diese Seite zu ziehen. (Vgl. Žižek 1994)
Dabei übergeht man jedoch gerne jene markanten Elemente des adornoschen Denkens, die einer solchen Vereinnahmung entgegenstehen. Und an wenigstens einer Stelle seines Werks kann man etwas lesen, was sogar einer Kritik der postmodernen Philosophie avant la lettre ‒ also bevor es sie überhaupt gab ‒ gleichkommt.
Die Passage findet sich in den erst vor wenigen Jahren aus dem Nachlass veröffentlichten Vorlesungen zur Dialektik. Adorno geht dabei auf einen uralten Einwand gegen die dialektische Philosophie des deutschen Idealisten Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein: „Warum muß denn alles in Widersprüchen sein? Gibt es denn wirklich nur Widerspruch, und gibt es nicht auch einfache Differenzen?“ (Adorno 2017, S. 84)
Adorno: „[…] weil, wenn man nur Differenz sieht, wenn man nur des Verschiedenen gewahr wird, ohne daß man in dem Verschiedenen die Einheit findet und damit, daß man seine Einheit findet, eben auch den Charakter des Widerspruchs, der in dem bloß Verschiedenen steckt, gewahrt ‒ weil dann das Denken gewissermaßen zerfließt […] dann kommt es im Grunde überhaupt nicht mehr zu einer Erkenntnis, sondern tatsächlich nur noch zu der bloßen Feststellung von mehr oder minder nebeneinandergeordneten und disorganisierten und disparaten Fakten.“ (Ebd., S. 85/86)
Mit anderen Worten: Wer nur Differenzen konstatiert, der ist ja noch nicht so weit, dass er den Sinn, das heißt den geistigen Zusammenhang der Dinge erfassen kann, das, was sie bedeuten.
Die Unfähigkeit, sich der Realität in ihrer von inneren Widersprüchen in Spannung versetzten Fülle zu stellen, bringt Adorno in seinen Schriften über die Kulturindustrie schließlich mit dem Waren- und Fetischcharakter in Verbindung, den alle kulturellen Produkte in der bürgerlichen Gesellschaft universal angenommen haben. Von diesem Warencharakter wird alles durchflutet, nicht nur das, was wir in den Geschäften als Ware kaufen, sondern unsere gesamte Wahrnehmung. Hierunter fällt zum Beispiel auch das Phänomen des Ohrwurms: In einen Warenfetisch verwandelt schon derjenige eine Beethovensymphonie, der eine isolierte Tonfolge daraus immer wieder wie ein Schlagerlied pfeift, um sich dabei gut zu fühlen, ohne sich um Sinn und Aufbau des ganzen Werks zu scheren. Für Adorno ein Kennzeichen von regressivem Bewusstsein.
Wir sehen nun etwas klarer, was mit den Corona-Rebellen passiert ist und was ihren Geist so sehr lähmt: Sie alle sind durch und durch genau diesem Fetischcharakter erlegen. Wahrheit selbst ist für sie zur Ware geworden, so wird sie behandelt und herumgereicht, als Verdinglichtes, als „Ohrwurm“. Und ganz so wie die postmoderne Vielheit, nämlich als eine zusammenhanglose Reihe von „Wahrheiten“, die man „entdeckt“ oder die einem „enthüllt“ werden, als Differenzen, die man hinzufügt oder auch nicht, wie es einem beliebt.
Von hier aus wird auch das Phänomen der „Querfront“ neu verständlich. Denn wenn das Denken auf seinen bloßen Warencharakter reduziert wird, geht es tatsächlich nicht mehr um „rechts“ oder „links“. Man reproduziert ja keine Ideologien als Ganzes mehr, man bedient sich nur mehr ihrer Bestandteile, die zu isolierten Meinungsfetischen erstarrt sind und die man zusammenmontiert, wie es einem passt, selbst wenn es in Wahrheit nicht zusammenpasst. Das hört sich gut an, das muss richtig sein, das teile ich, das like ich.
Der wirr anmutende Patchworkcharakter eines solchen ideologischen Gebildes ergibt sich daraus, dass es nur mehr aus solchen Bruchstücken besteht, die unvermittelt aneinandergereiht werden. Mit anderen Worten: Es fehlt das, was bei Hegel die Vermittlung darstellt. Darum ergibt die Zusammenstellung schließlich auch keinen Sinn.
Der totalitäre Zug wiederum ergibt sich daraus, dass keine der betreffenden Aussagen über die Welt sich ihre Vereinzeltheit, die sie in Gegensatz zu den übrigen bringt, eingesteht, sondern stattdessen eine jede einen Absolutheitsanspruch erhebt, gleichsam, als wäre sie eine Spruchweisheit des Dalai Lama. Die isolierten Sätze werden gehandelt, als wären sie für sich bereits ein Ganzes, abgeschlossene und fertige Erkenntnisse, und als enthüllten sie, jede für sich, auch bereits schon das Ganze, Tiefsinnigste und Höchste.
Fortschreitendes Bewusstsein
Vielleicht ist es hier an der Zeit für eine Klarstellung. Widersprüche werden natürlich weder von Adorno noch von mir als etwas „Verbotenes“ betrachtet. Widersprüchlichkeiten sind selbstverständlich erlaubt. Ein jeder Mensch trägt Widersprüchlichkeiten in sich. Die ganze Hegel’sche Philosophie strotzt von Widersprüchlichkeiten. Und auch mich durchziehen jede Menge von Widersprüchen, so dass ich mir manchmal unsicher bin, wie weit „links“ oder wie weit „rechts“ ich stehe, und daran zweifle, wie sinnvoll diese Einteilungen sind. Mehr noch: Das ist auch unvermeidlich, denn die Dinge sind objektiv widersprüchlich und folgen nicht klaren Begriffen.
Nur sollte man sich dieser Widersprüche als Widersprüche bewusst sein oder versuchen, sie ins Bewusstsein zu heben, vor allem aber verstehen, was sie bedeuten. Die Hegel’sche Philosophie ist genau dieses Projekt und versteht sich darum als fortgeschrittenes oder fortschreitendes Bewusstsein. Die Freud’sche Theorie des Unbewussten ist eine andere Variante davon. Und genauer besehen weist auch schon die Mäeutik ‒ „Hebammentechnik“ ‒ des sokratischen Dialogs Züge davon auf. Die ganze bisherige Geschichte der Philosophie, soweit sie notwendig das Element der Dialektik enthält, kann am Ende als so ein Versuch betrachtet werden, Widersprüche als Widersprüche bewusst zu machen und dadurch die Erscheinungen der Welt präziser zu fassen.
Demgegenüber steht das Phänomen jenes zeitgenössischen regressiven gesellschaftlichen Bewusstseins, das sich seiner Widersprüche überhaupt nicht bewusst ist und das auch keine Bereitschaft zeigt, sich damit auseinanderzusetzen. Dadurch ist es von einem entwickelten Weltverständnis ausgeschlossen. Stattdessen werden die einfachen Antworten als Lösungen präsentiert. So in dem Sinne: Wenn Merkel/Trump/wer auch immer weg ist, dann ist alles wieder gut.
Das Problem der Brüche
Es braucht allerdings wohl kaum erwähnt zu werden, dass die hier entdeckte Ähnlichkeit eine unerwünschte ist. Postmoderne Akademiker und Akademikerinnen haben gewiss nicht an ideologisch verwirrte Corona-Rebellen, rechtslastige Reichstagsstürmer, Verschwörungstheoretiker und wildgewordene Hassposter auf Facebook gedacht, als sie ihre Konzepte erstellt und vorangetrieben haben. Vieles, was ich hier geschrieben habe, würde also wohl brüskiert zurückgewiesen werden. Das sind Kinder, die man nicht gerne anerkennt. Schließlich gehört man doch selbst einer fortschrittlich-gebildeten Schicht an, hält sich für supertolerant, weltoffen und über allen Ideologien stehend und sieht sich auf der ganz anderen Seite des politischen Spektrums angesiedelt. Trotzdem aber hat der in den Thesen und Theorien der Postmoderne propagierte Subjekttypus am Ende womöglich sogar mit den „Corona-Hybriden“ viel mehr zu tun als mit den Schwarzafrikanern, Homosexuellen und Transgendermenschen, die man dabei im Sinne hatte.
Denn erst die Corona-Demonstrationen sind so richtig Fleisch gewordene Postmoderne ‒ und Fleisch gewordene Veranschaulichung des geistigen Zerfalls, den die Postmoderne mit sich gebracht hat, sowie der tiefen gesellschaftlichen Gräben, um die sie sich nie bekümmert hat.
Klar ist allerdings freilich auch, dass die Postmoderne die hier geschilderten ideologischen Wirrnisse nicht erfunden hat und keineswegs allein dafür verantwortlich ist. Sie weisen auch auf eine, vielleicht sogar auf die Schwachstelle des Marxismus hin. Die Produktion von Ideologien hat nie so glatt und schematisch funktioniert, wie sich das der dialektische Materialismus vorgestellt hat, als getreue Widerspiegelung der Interessen ökonomischer Klassen. Aus dieser Problematik ist ja nicht zuletzt auch die Kritische Theorie hervorgegangen, die deswegen eine Wende ins Feld psychoanalytischer Erklärungen vollzogen hat. Aber auch die postmodernen Philosophen hatten anfangs nur reagiert auf die Brüche und Differenzen, die sie objektiv vorgefunden hatten, so wie Jean-François Lyotard, der die verschiedenen gesellschaftlichen „Sprachspiele“ für unvereinbar miteinander hielt und die Idee einer Vermittlung aufgab. Das ist die Grundbotschaft seines 1979 veröffentlichten Buches „Das postmoderne Wissen“.
Man kann ihm und anderen Köpfen der Postmoderne jedoch vorwerfen, das zu leichtfertig getan zu haben und die Unüberbrückbarkeit zwischen den Diskursen durch eine übergeordnete Vernunft nicht nur konstatiert, sondern auch vorangetrieben und gefeiert zu haben und so schließlich jener vom Nietzscheanischen Machtrausch bloßer Phrasen besessenen Willkür und Beliebigkeit des Denkens Vorschub geleistet zu haben, mit der man es heute allenthalben zu tun hat.
Tod und Wiederauferstehung der Ideologien
Der Zusammenbruch des Ostblocks 1989, der allen radikal linken Positionen das Wasser abgrub, trug im Folgenden dann das seine dazu bei, aus der postmodernen Strömung die Ideologie einer saturierten akademischen Elite zu machen, die zwar megafortschrittlich wirken, trotzdem aber zum Schluss kommen wollte, dass die Welt im Großen und Ganzen schon so in Ordnung sei, wie sie sei. Eine Weltanschauung, die sich bloß auf Zeichensysteme konzentrierte und ‒ so wie der Dekonstruktivist Jacques Derridain seiner 1967 erschienen „Grammatologie“ ‒ behauptete, dass es gar keine der Sprache vorgelagerte Realität gäbe, kam da gerade recht.
Das postideologische Zeitalter wurde ausgerufen. Die Ideologien sind tot, wurde behauptet. Das aber war vielleicht die größte Ideologie von allen.
Freilich, man wollte schon noch irgendwie links sein; aber nur mehr links light. Im Zuge dieser Entwicklungen erlebte daher der Linksliberalismus seinen Aufschwung, vielleicht das letzte Gesellschaftsmodell mit Breitenwirkung, das noch am ehesten so etwas wie eine halbwegs kohärente ‒ wenn man so will: bürgerliche ‒ Ideologie darstellt, wenngleich auch er von tiefen Widersprüchen zerfurcht ist, die er nicht reflektiert.
Feststellbar ist seither im öffentlichen Diskurs ein massiver politischer oder vielmehr postpolitischer Zusammenschluss zwischen einem sich an Karl Poppers Begriff der „offenen Gesellschaft“ wie an einen Strohhalm klammernden Linksliberalismus und sorgfältig ausgewählten Versatzstücken der Postmoderne. Innerhalb dieser Grenzen verbleibend setzt man sich fast nur noch mit den Themen der Diversität und der politischen Korrektheit auseinander, während die Entwicklung einer Grundsatzkritik an politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten praktisch ausgeschlossen bleibt. Wo die Texte postmoderner Autoren aber über ein darüber hinausgehendes widerständiges Potential verfügen, werden sie nur mehr geglättet rezipiert. Das ist etwa der Fall bei dem Machttheoretiker Michel Foucault, der inzwischen darauf reduziert wird, Ahnvater der politischen Korrektheit gewesen zu sein.
In Österreich beschränkte sich seit Mitte der 80er Jahre das Selbstverständnis der Linken immer mehr auf ein rühriges Gutmenschentum, mit anderen Worten, darauf, gegen die FPÖ und Ausländerfeindlichkeit zu sein. Es wurde zu einem gewöhnlichen Phänomen, dass Prominente, Künstler und Kabarettisten sich schon deswegen für politisch engagiert hielten, weil sie sich über den Rechtspopulisten Jörg Haider empörten, selbst wenn sie sonst von Politik nichts verstanden und sich auch gar nicht dafür interessierten.
Der breite Zerfall linken politischen Bewusstseins hatte langfristig drastische Folgen. In das geistige Vakuum, das die Linken frei ließen, drangen Neoliberalismus, Esoterik und Rechtsextremismus nach und breiteten sich immer mehr aus: „Die neoliberale Globalisierung wurde als Schicksal betrachtet, in das wir uns zu fügen hätten, und politische Probleme wurden auf reine Sachfragen reduziert, die von Experten gelöst werden müssten. Für eine echte Wahl, die die Bürger zwischen unterschiedlichen politischen Projekten hätten treffen können, blieb da kein Platz; deren Rolle beschränkte sich auf das Absegnen der ,vernünftigen’ politischen Maßnahmen […]“ (Mouffe 2018, S. 14/15)
Was der Linksliberalismus nicht verstanden hat: In der Ruhelosigkeit des Kapitalismus kann es keinen Tod der Ideologien geben. Alle Ideologien und Religionen leben weiter, wenn auch nur mehr als Bruch- und Versatzstücke, die jederzeit reaktiviert und als Fetische wiederauferstehen können, so wie es mit allen Dingen geschieht, die im Kapitalismus scheinbar den Tod erleiden. Mit einer solchen gespenstischen Massenauferstehung hat man es auf den Corona-Demonstrationen zu tun.
Literatur:
Adorno, Theodor W.: Einführung in die Dialektik (1958), hrsg. v. Christoph Ziermann, 3. Auflage, Berlin 2017.
Deleuze, Gilles und Félix Guattari: Rhizom, aus dem Französischen von Dagmar Berger u.a., Berlin 1977.
Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus, aus dem Englischen von Richard Barth, 2. Auflage, Berlin 2018.
Žižek, Slavoj (Hrsg.): Mapping ideology, London/New York 1994.