Streifzüge 3/2001
von Anselm Jappe
Eine bereits 1935 geschriebene Notiz, die sich in Adornos Minima Moralia mit dem Titel Der böse Kamerad findet, veranlaßte den Autor einer sein Objekt permanent dummdreist denunzierenden Adorno-Monographie (Hartmut Scheible, Theodor W. Adorno, Rowohlt 1989) zu einer besonderen Empörung. Adornos spricht dort davon, den Faschismus bereits vorausgeahnt zu haben in seinen Schulkameraden, “ die schon mit Vornamen Horst und Jürgen und mit Nachnamen Bergenroth, Bojunga und Eckhardt hießen“. Für völlig untheoretisch, für „denunziatorisch“, für „Ressentiment und Vorurteil“, die „kaum zu unterscheiden“ seinen vom „antisemitischen Ressentiment“ hält der deutsche Hartmut das, und die meisten deutschen Leser würden ihm wohl recht geben. Sehr gut verstehen kann diese Stimmungsbeschreibung hingegen der Autor dieses Artikels, der bereits vor zwanzig Jahren, nach beendeten Schulen und Schulkameradschaften, Deutschland den Rücken gekehrt und das nie bedauert hat. Da er trotzdem noch zu verstehen meint, was dort vorgeht, hat er vielleicht manchmal den Vorteil des Blicks von außen. Er sieht mitunter den Wald, nicht nur die Bäume, und vermag das Gemeinsame auszumachen: etwa das, was Anti-Deutsche mit anderen Deutschen verbindet. Wer hingegen innerhalb eines Bezugssystems lebt, kann das allen Mitgliedern dieses Systems Gemeinsame schwer erkennen, und überschätzt deshalb die Unterschiede.
Die Antideutschen müssen, um sich ideologisch selber als außerhalb des Deutschseins zu begreifen, als Gegner eine „deutsche Ideologie“ zurechtkonstruieren. Diese sei die Grundlage des ontologischen, unüberbrückbaren Unterschiedes zwischen dem deutschen Kapitalismus mit seiner „völkischen Ideologie“ und dem „aufgeklärten“, „liberalen“ westlichen Kapitalismus. Von einer Ideologie kann man sich natürlich leicht, durch ein bloßes Glaubensbekenntnis, lossagen. Aber das ist eine oberflächliche Ebene. Sie ist selber Ausfluß einer viel schwerer zu fassenden, aber am Ende weit realeren sozialpsychologischen Ebene. Dieses „Kollektivbewußtsein“, das sich in reinerer oder unreinerer Fassung bei fast allen Mitgliedern einer gegebenen Gruppe wiederfindet, gilt aber gerade diesen Mitgliedern als selbstverständlich und an keine bestimmte Ideologie gebunden. Es kann deshalb eher von Außenstehenden erkannt werden. Immerhin kann man auch versuchen, sich ihm wissenschaftlich zu nähern, wie es in der großen Studie des Instituts für Sozialforschung zur „autoritären Persönlichkeit“ in den dreißiger und vierziger Jahren geschehen ist, und wie es auch einer der Vordenker der Antideutschen, Wolfgang Pohrt, mit seiner Studie Der Weg zur inneren Einheit (Konkret Verlag, 1991) versucht hat.
Auf dieser sozialpsychologischen Ebene ist einerseits das Gemeinsame zwischen Durchschnittsdeutschen, linken Deutschen und Antideutschen und andererseits ihr Unterschied zu Menschen in anderen Kulturen feststellbar. Allerdings soll hier weder diese Beschreibung geleistet, noch der Frage nachgegangen werden, wie diese deutsche Befindlichkeit entstanden ist. Jedenfalls ist sie, weit eher als Fichte und Herder, dafür verantwortlich, daß die seinerzeit in ganz Europa verbreitete antisemitische Ideologie gerade in Deutschland zur Elimination geführt hat.
Bekanntlich konnte der Nazismus nur aufgrund des deutschen Zugs zur „Genauigkeit“, „Gründlichkeit“, „Pflichterfüllung“ so perfekt funktionieren. Aber bei Kontakten zu Deutschen, auch zu solchen, die gar keine sein wollen und die sich ideologisch vom Deutschsein völlig losgelöst haben, fallen fast jedem Nicht- Deutschen schnell gewisse Züge auf: ständiges Aufrechnen, wer wieviel Geld, Zeit usw. eingebracht hat, mit dementsprechendem Mangel an Liberalität (im Restaurant will jeder genau das bezahlen, was er gegessen hat); Mangel an Einfühlungsvermögen, erst recht gegenüber Kindern; ständige Planung der Zukunft und Unfähigkeit, sich ändernde Situationen zu ertragen und zu improvisieren; ausgesprochenes Konkurrenzverhalten auch gegenüber engen Freunden und Verwandten sowie eine allgemeine Verbissenheit.
Ein besonders typischer Zug „des“ Deutschen ist die Blockwartmentalität. Ständig guckt er sich um, um zu sehen, wer sich nicht an die Vorschriften hält: wer geht über die Straße bei roter Ampel, wer hat seinen Abfall nicht richtig sortiert, wer parkt auf dem Fahrradstreifen, wer hört um fünf nach zehn noch laute Musik, wer steht am Schalter neben mir, statt hinter der gelben Linie? Die unterschiedlichen Inhalte – einmal mag es um „Umweltschutz“ gehen, ein anderes Mal um die spießbürgerliche Sonntagsruhe oder „Privatsphäre“ – verbergen die gemeinsame Form. Die in mediterranen Ländern vorherrschende Mentalität des „Leben und leben lassen“ mag ihrerseits zahlreiche Probleme mit sich bringen, aber jedenfalls fühlen sich dort nicht alle ständig „auf den Schlips getreten“. In Deutschland hingegen wacht jeder – wohl ein protestantisches Erbe – über die Prinzipien, die ihm heilig sind, und haut allen auf die Finger, die sie verletzen. Die Identifikation mit dem Über- Ich verleiht Stärke. Die Linke macht keine Ausnahme bei der Jagd auf Abweichler: wer hält sich nicht an die neudeutsche Sprachregelung, die vorsieht, „mann/frau“, „LeserIn“ usw. zu schreiben? Wer gebraucht weiterhin die „frauenfeindlichen“, „homophoben“, „rassistischen“ usw. Floskeln, die seit eh und je die Alltagssprache durchziehen? Wer kommt im Auto statt mit der Straßenbahn? Solange man die Uneinsichtigen nicht einsperren kann, werden sie zumindest denunziert.
Aber wohl niemand betreibt seinen Sauberkeitswahn mit mehr Schaum vor dem Mund als die „Antideutschen“, die noch jedes Wort, das sie zu Ohren bekommen, solange drehen und wenden, bis sie den Antisemiten an den Schandpfahl stellen können. Der Anti-Anti-Semit oder Antideutsche nimmt eine bequeme Position ein, die für kleine Geister stets sehr anziehend ist: er tritt als selbsternannter Sprecher und Alleinvertreter eines Prinzips (hier des Holocaustes) auf, das so heilig ist, daß der bloße Gedanke, zu widersprechen, statt nur Amen zu murmeln, bereits sakrileg ist. Die Antideutschen wollen überdies nicht nur das letzte bzw. einzige Wort zum Antisemitismus haben, sondern zu allem. Mittels deduktiver Ketten wird alles in Deutschland, und jüngst auch anderswo, auf Auschwitz bezogen. Selbst von „Heuschrecken“ oder von „Plastikdiskurs“ zu reden, Vegetarier zu sein oder sich um die ökologische Katastrophe zu sorgen ist in ihren Augen bereits ein untrügliches Zeichen von Faschismus und Antisemitismus. Was immer jemand sagt, belegt nur, daß er Auschwitz verdrängen wolle. Beim antideutschen Blitzkrieg kommen auch jüdische Intellektuelle wie Derrida unter die Räder. Natürlich ist das eine zutiefst autoritäre und eigentlich religiöse Struktur. Die logische Folge ist es dann, wie es ein gewisser Rohloff in der Jungle World 40/2001 fordert, Andersdenkende in psychiatrische Anstalten einzusperren. So wurde auch tatsächlich in der UdSSR verfahren, der so mancher Antideutsche nachtrauert. Zwar führen einige dieser intellektuellen Schmalspurterroristen gerne ständig Adorno und Horkheimer im Munde (oder sind die auch schon in Ungnade gefallen? ), aber sie hätten sicher deren zur Zeit des Zweiten Weltkrieges erarbeitete These vom „Monopolkapitalismus“ und vom „autoritären Staat“, die auf Strukturähnlichkeiten zwischen Faschismus, Stalinismus und westlicher Demokratie hinweist, als Defätismus und heimliche Hilfe für die Nazis denunziert.
Die Antideutschen spekulieren schamlos auf die Schuldgefühle der deutschen Linken, so wie vor dreißig Jahren andere auf die Schuldgefühle von Bürgersöhnchen spekulierten, die sich gefälligst als Proletarier aufzuführen hatten. Auf alles erhält man die gebetsmühlenhafte Antwort „Auschwitz“, die, einem Mantra gleich, ohne weitere Erklärung und ohne geistige Anstrengung alles zu sagen scheint, wie eine Koransure. Über den Gebrauch dieses Zauberwortes behalten sich die Priester die „Definitionsmacht“ vor. So ist es für sie unzulässig, Nagasaki oder Dresden mit dem Holocaust zu vergleichen, aber die Intifada oder die Taliban darf man damit vergleichen. Sie selber sind so die ersten, die den Nazismus relativieren. Worin besteht denn dessen Singularität, wenn Arafat und Saddam und Bin Laden alles neue Hitlers sind? Und warum schreien sie triumphierend auf, wenn ein Neonazi etwas ähnliches wie ein linker Amerikakritiker sagt, ohne sich daran zu stören, daß z. B. in Italien die offiziell israelfreundlichste der großen Parteien die postfaschistische Alleanza nazionale ist, die gute Beziehungen zum Likud unterhält? Auch anderswo befinden sich unter den Israelfreunden alle möglichen unkoscheren Gestalten vom zumindest rechtskonservativen Spektrum, ohne daß das die linken Israelfreunde in Zweifel versetzt.
„Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ heißt bei ihnen, denn alles auf der Welt wird so interpretiert, als ob es in Deutschland geschehe; deutsche Verhältnisse werden überallhin projektiert und den Akteuren zugeschrieben. Alles wird an deutschen Maßstäben gemessen, die griechische Linke und die Palästinenser, die französischen Globalisierungsgegner und die Zapatisten. Mit anderen Wortenm die ganze Welt ist ein großes Deutschland, und da auf dem „deutschen Standpunkt“ jeder steht, der irgendwo auf der Welt gegen Amerika ist (G. Scheit in Jungle World 41/2001), wird das Deutschsein zu einer reinen Kategorie des Geistes. Wer Deutscher ist, bestimmen die Antideutschen. Sie selber sind es, die auf diese Weise die „deutsche Besonderheit“ aus den Augen verlieren. In Wirklichkeit waren nur die Deutschen so grausig dumm, ihre Haßobjekte auch dann zu „eliminieren“, wenn das auf ihre eigene Kosten ging. Für die Islamisten sind hingegen die Attentate, mit ihrer größtmöglichen Zahl von Opfern, doch nur Mittel zum Zweck. Auch die italienische Mafia hat mehrfach (1984, 1993) Bomben in Züge und auf Straßen gelegt, die blind auf die Menge zielten. Aber die „Botschaft“ an den Staat war trotzdem eine „rationale“: laßt uns in Frieden, dann lassen wir Euch auch in Frieden. Und genau das ist auch die Botschaft der Islamisten.
Aber da die Antideutschen vor fünfzehn Jahren einige richtige Gesichtspunkte in die Diskussion eingebracht haben (eine breitere Wirkung haben sie erst zu entfalten begonnen, nachdem ihre Analysen in sektiererisches Delirium umgeschlagen waren), verdienen sie es vielleicht trotzdem, daß man einige ihrer Inhalte untersucht. Was kommt dabei heraus?
Einer ihrer Grundthesen zufolge ist der gegenwärtige Konflikt ein Zusammenstoß zwischen Zivilisation und Barbarei. Den Neo- Kreuzrittern des Westens zufolge soll man, trotz aller Kritik am Kapitalismus, diesen akzeptieren, weil er auch emanzipatorische Seiten habe. So wie der Antisemit seinen Kapitalismus ohne Juden haben will, so der Anti-Anti-Semit seinen Kapitalismus ohne Antisemitismus und meint, ihn in den USA zu finden. Die angeblich progressiv- aufklärerischen Seiten des Kapitalismus sind dort allerdings nicht stärker, sondern eher schwächer als anderswo. Das zeigen die Terrorjustiz, der Mangel an Sozialstaat, die faktische und bis vor vierzig Jahren auch rechtliche Ausschließung der Schwarzen aus der Gesellschaft, die Korruption der Polizei, das ausgesprochene „Gemeinschafts“denken vor allem in ländlichen Gegenden, die Rolle der Religion. Und worin liegen denn die Errungenschaften der dortigen Moderne? Daß in New York Menschen aus der ganzen Welt mehr oder weniger friedlich zusammenleben? Daß sie das auch in Alexandrien 2000 Jahre lang getan haben, und zwar bis zur Ankunft der Moderne, ist offenbar denen unbekannt, deren Kultur nicht über Popkultur hinausgeht.
Im allgemeinen zählt man zu den „emanzipatorischen“ Seiten des Kapitalismus die formale Gleichheit der Individuen und den Verzicht auf staatlichen Rassismus. Nun soll den rabiatesten der Antideutschen zufolge selbst das nicht mehr gelten: kultureller Relativismus, Antirassismus und „Multi-Kulti“ haben angeblich dem anti-emanzipatorischen Islam den Weg geebnet und die Aufklärung verraten. Warum soll man dann überhaupt noch für den so teuer bezahlten Sieg des Westens sein? Die Judenemanzipation und die Religionsfreiheit bleiben bei dieser Rechnung als einziges auf der Habenseite übrig. Damit fallen wir ins 18. Jahrhundert zurück, und eigentlich noch weiter, denn jüngst haben die Antideutschen die Religionskritik durch die Kritik anderer Religionen ersetzt. Mit der Emanzipation von der Religion ist es in den USA auch nicht weit her, und Israel ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen es keine Trennung von Staat und Religion gibt. Die türkische Verfassung ist weit laizistischer als die der USA, Israels oder Bayerns. Also bleibt nur die Judenemanzipation übrig. Aber daß die USA ein günstigeres Terrain für das Judentum darstellen als z. B. das arabische Andalusien des Mittelalters, bleibt noch zu beweisen. Und man sieht zur Zeit, daß kein unerschütterliches Aufklärertum, sondern reine Interessenpolitik die amerikanische Allianz mit Israel erklärt, die genausogut, je nach den amerikanischen Interessen, auch wieder revidiert werden kann. Außerdem steht sie jedem zynischen Deal offen. So kann man mittlerweile jeder Tageszeitung entnehmen, daß die Amerikaner – schwerlich ohne Wissen Israels – 1991 Saddam erlaubten, ein paar Raketen auf Israel abzufeuern, um sich auszutoben, aber ohne Giftgasbestückung, denn dann hätte er die Atombombe auf den Kopf bekommen.
Jedenfalls wird Israel wohl auf geistig so unbedarfte Verteidiger wie Anton Landgraf verzichten können, dem zufolge das Gute am Kapitalismus die „Ablehnung der Religion oder der Herkunft als Grundlage der Politik“ (40/2001) ist – in Israel sind Muslims und Araber vom Wehrdienst, und damit vom vollen Staatsbürgertum, ausgeschlossen. Eine solche Maßnahme kann ja von einem gewissen Standpunkt aus durchaus gerechtfertigt werden. Aber schwerlich mit universal-aufklärerischen Argumenten, sondern eher mit einem Schmittschen Freund- Feind-Denken. Das besonders Unsympathische am Philoisraelismus der Antideutschen ist es außerdem, daß er die Juden auf die Opferrolle reduziert. Pawlowhaft denken sie, wenn sie Juden hören, sofort an die Öfen. Ihr Interesse für das Judentum ist rein negativ, sie sehen darin nur die bedrohte Art. Israel scheint ihnen vor allem als Außenposten Amerikas zu gefallen; zur jiddischen Kultur als einem wesentlichen Bestandteil der „Welt von gestern“ (Stefan Zweig) haben sie nichts zu sagen. Moni Ovadia, ein italienischer Musiker, Schauspieler und Regisseur sepharditischer Abstammung, der in den letzten Jahren in Italien die jiddische Kultur populär gemacht hat, sagte kürzlich in einem Radiointerview auf die Frage nach dem Verhältnis der jiddischen Kultur zu Israel: „Israel, das sind die Juden, wie sie die Europäer wollen, ein Nationalstaat, dessen Bewohner im Kriege zu Nationalisten werden. Die anderen Juden, von denen in meinen Schauspielen die Rede ist, sind in Europa zu Millionen umgebracht worden“.
Die Totalitarismusthese erlebt bei den Antideutschen eine verblüffende Umdeutung, und sie tun genau das, was sie sonst – zu Recht – der Totalitarismusthese vorwerfen: den Nazismus zu relativieren. Da die Neonazibanden keinen rechten Sparingpartner mehr abgeben, müssen die Antideutschen sich jetzt im Islam den Gegner für ihr Ragnarök suchen. Vergeblich: wie Kurz zu Recht betont, war die Konstellation des Zweiten Weltkrieges einmalig und ist nicht auf die heutige Situation übertragbar. Damals war eines der Kernländer des Kapitalismus in der Lage, im Rest Europas jeden Gedanken an Emanzipation zu vernichten, und hatte in seinem Inneren keine Dialektik mehr zu befürchten. Die islamistische Mafia ist zersplittert; im äußersten Fall könnte sie es dazu bringen, die Okzidentalen aus dem islamischen Weltteil zu vertreiben und dort ganz alleine die Menschen zu draogsalieren. Auf Machtteilung sind die Islamisten aus, nicht darauf, die grüne Fahne auf dem Empire State Building zu hissen. Da, wo Integralisten wirklich die Macht ergriffen haben, nämlich im Iran, ist zwar viel Schreckliches passiert, aber es wäre wahrhaft eine Verharmlosung des Nazismus, das dortige Regime als nazistisch einzustufen. Heute ist der Iran, was Elemente warenförmiger Demokratie angeht, eines der „demokratischsten“ unter den islamischen Länder. Und die dort noch lebenden 26.000 Juden mögen nicht in der besten Lage sein, aber man hat noch nicht davon gehört, daß sie in Konzentrationslager gebracht worden seien. Zwanghaft alles zu tun, was man einmal angekündigt hat, scheint weiterhin eine deutsche Spezialität zu sein. Anderswo folgen den markigen Worten durchaus nicht immer die Taten.
Einer anderen Lieblingsbehauptung der alternativen Teutonen zufolge unterscheidet sich die deutsche Gesellschaft von den westeuropäischen durch ihr besonderes „Gemeinschaftsgefühl“. Es gipfele in der „Volksgemeinschaft“, die weiterhin auf dem Grunde aller deutschen Herzen liege. Zwar gibt es tatsächlich in Deutschland ein besonders widerliches Gemeinschaftsgetue, das sich äußert in Sätzen wie „Du willst wohl immer eine Extrawurst gebraten kriegen“ und in der heuchlerischen Abneigung gegen „Egoismus“. Aber im großen ganzen scheint heute das Gemeinschaftsgefühl in Deutschland eher schwächer ausgeprägt zu sein als anderswo. Regionale oder berufsmäßige Identitäten haben sich ebenso abgeschliffen wie Dorf- oder Stadtviertelgemeinschaften. Der hier besonders ausgeprägte Atomismus reicht bis in das Urbild aller Gemeinschaften, die Familie: in anderen Ländern wäre es undenkbar, daß Eltern ihre Kinder für die Hilfe im Haus bezahlen. Diejenigen aber, die bei dem bloßen Wort „Gemeinschaft“ zusammenzucken, sagen dementsprechend ja zu Kapitalismus und Konkurrenz. Die Funktion jeder Gemeinschaft ist es, die zerstörerische Konkurrenz zu verhindern. Das kann in rein negativer Form als Externalisierung der Konkurrenz geschehen, wie bei der Konkurrenzsistierung zwischen „Inländern“ auf Kosten der „Ausländer“. Aber ohne irgendeine neue Form von „Gemeinschaft“ oder „Gemeinwesen“ kann es nur den zerstörerischen Atomismus der Warengesellschaft geben.
Der Unterschied zwischen dem deutschen und dem westeuropäischen Weg zum Kapitalismus wird stark übertrieben. Und wenn die Deutschen selbst heute noch so sehr vom Gemeinschaftsdenken infiziert wären, daß sie zwanghaft auch andere Kollektive bewundern, wenn diese sich statt als nüchterne Zweckgemeinschaft als bluts- und abstammungsbedingte Schicksalsgemeinschaft auffassen, die ihre Wurzeln im Mittelalter habe und die dank ihres Zusammengehörigkeitsgefühls und der Opferbereitschaft aller ihrer Volksgenossen inner- und außerhalb der Landesgrenzen sich ausdrücklich als Gegenstück zum schnöden internationalen Kapital begreift und sich dabei als von der ganzen Welt eingekreist sieht – dann hätten alle deutschen Herzen dem völkischsten Kollektiv in Europa zufliegen müssen, nämlich den Serben. Stattdessen bewunderten ausgerechnet die Antideutschen diese. Vielleicht aus dem Grund, daß in der serbischen Ideologie angeblich kein offener Antisemitismus existiert. Aber auch wenn dem wirklich so ist, belegt das eher, daß der Antisemitismus kein so essentielles Element völkischer Ideologeme ist, wie oft behauptet wird, sondern durch das Feindbild des Muslims oder andere ersetzt werden kann. In der Geschichte haben sich antiislamischer Kreuzzug und Judenverfolgung nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sind oft miteinander einhergegangen, bei den Kreuzzügen wie bei der spanischen Reconquista.
Eine dritte Grundthese der Antideutschen ist es, die Deutschen seien lagerübergreifend besonders antiamerikanisch, und zwar deshalb, weil sie den Amerikanern nicht deren Sieg im Zweiten Weltkrieg verzeihen können. Da würden sie in anderen Ländern aber staunen. Wenn ein Artikel über die Reaktionen der deutschen Linken auf die Attentate in der Jungle World 40/2001 den Titel trägt: „Dumm und deutsch“, dann müßten dementsprechende Artikel über die Linken anderer Länder überschrieben werden mit „dumm und französisch“, „dumm und italienisch“ usw. In diesen Ländern ist jeder bei seiner vorherigen Meinung geblieben und sind Diskussionen wie die in Deutschland betriebene ganz und gar unverständlich. In manchen Ländern, die im Weltkrieg an der Seite der USA kämpften oder von ihnen befreit wurden, wie Frankreich, Serbien oder Griechenland, ist der Antiamerikanismus seit langem eher stärker als in Deutschland und riefen die Attentate ein weitverbreitetes Feixen und Relativieren hervor. Dieser Antiamerikanismus geht, was unsere Freunde besonders verblüffen würde, oft mit antideutschen Gefühlen einher: es ist die allgemeine Abneigung gegen die Arroganz, das Herrenmenschentum, das polternde Auftreten und, jedenfalls im romanischen Bereich, die Abneigung gegen die ungeschliffenen Emporkömmlinge aus dem Norden, die dem alten Süden sein historisches Primat entrissen haben. Sie sind die reichen Verwandten, die mal mit dem Knüppel, mal mit dem Scheckbuch winken, aber sich nie taktvoll still in die Ecke zu setzten vermögen. Mögen sie auch hofiert werden, sie werden innerlich verachtet.
In Deutschland ist die emotionale Identifizierung mit Amerika vielmehr besonders ausgeprägt. Was Mentalität und Lebensweise angeht, hat Deutschland weit mehr mit den USA als etwa mit Frankreich oder Italien gemeinsam. Die amerikanische Realität ist, gerade in ihren alltäglichen Aspekten und den Verhaltensweisen der Subjekte, für eine in Deutschland aufgewachsene Person weit „lesbarer“ als die eines Mittelmeerlandes. Das zeigt sich auch darin, daß Deutschland ein beinah zweisprachiges Land ist, in dem derjenige, der kein Englisch spricht, fast als Analphabet gilt und in dem selbst die „antiimperialistischen Gruppen“ ständig englische Ausdrücke gebrauchen. In romanischen Ländern hingegen betrachtet man, unabhängig von Alter, politischer Meinung und Bildungsgrad, das Englischsprechen als eine lästige Pflicht. In Brasilien macht man sich schnell beliebt, wenn man nicht der Meinung ist, alle Menschen der Welt hätten nun einmal Englisch zu sprechen, und man deshalb versucht, sich in jeder anderen Sprache eher als auf Englisch zu verständigen.
Und was heißt überhaupt Antiamerikanismus? Nicht überall hat er dieselbe Bedeutung wie in Deutschland. Z. B. in Lateinamerika haben die US-Amerikaner noch nie irgendetwas Gutes angestellt, und ohne sie hätte es dort wohl, mehr als irgenwo anders in der Welt, in den sechziger Jahren zumindest linkspopulistische Revolutionen kubanischer Art gegeben. Hier kann man den Yankees nicht einmal zugutehalten, wenigstens auch die Vorteile des Kapitalismus und der modernen Kultur gebracht zu haben: es war gerade dank ihnen, daß die schlimmsten und reaktionärsten Feudaloligarchien sich an der Macht hielten. Es ist deshalb eine völlige Verdrehung, Antiamerikanismus unter allen Umständen mit Antisemitismus zu identifizieren. Will man wirklich ernsthaft behaupten, ein in Guatemala oder Chile gefolterter Oppositioneller hätte etwas gegen die USA, weil er „eigentlich“ die Juden meint? Wenn man Amerika nicht kritisieren soll, weil das unpersönliche Kapitalverhältnis nicht mit empirischen Trägern identifiziert werden dürfe, dann darf man auch nichts gegen Polizisten haben, weil die ja auch nur zufällig das staatliche Gewaltverhältnis verkörpern. Und dann am Ende auch nichts gegen den einzelnen SS-Mann.
Die größte Befriedigung für einen Antideutschen aber muß es wohl sein, wenn ihm jemand in Israel auf die Schulter klopft und sagt: „Ich bin froh zu sehen, daß es doch noch anständige Deutsche gibt. Ihr habt die Ehre Eures Vaterlandes verteidigt“.