von Peter Oberdammer
Wenn die Aktivitäten der staatlichen Arbeitsvermittlung in Österreich (AMS) in ihrer Substanz als versteckte Opferrituale zur quasireligiösen Verkultung der Arbeit zum Zeitpunkt ihrer realen Krise verstanden werden, müssen zwei logische Bedingungen erfüllt sein.
Der vorgebliche Zweck der Arbeitsvermittlung muss als Fassade mit wenig bis keiner realen Funktion erkennbar sein, die nur zu rituellen Zwecken fortgeführt wird, wie Ritualhandlungen oft abgewandelte Alltagstätigkeiten sind.
Ferner müssen die Arbeitslosen nicht nur als „normale“, staatlichem Verwaltungsrecht unterworfene Rechtssubjekte erscheinen, sondern tatsächlich als Opfer in einem Sühneritual, d.h., es müssen Züge einer Sonderbehandlung in einer Ausnahmesituation auftreten.
Letzteres bedeutet Folgendes:
+ Rituale symbolisieren einen über ihre unmittelbare Funktion hinausgehenden Sinnzusammenhang, bieten alltagsweltliche Orientierung für die Bewältigung komplexer lebensweltlicher Situationen und fördern so die intersubjektive Verständigung im Kollektiv und den Gruppenzusammenhalt. Letzteres ist bei Religionsgemeinschaften empirisch nachweisbar. Im konkreten Fall transportieren und vermitteln sie die arbeitsreligiöse Glaubenslehre (siehe Teil II in Streifzüge 72), bieten (scheinbar) Orientierung angesichts des Verschwindens der Arbeit und schaffen ein (objektiv falsches) Wir-Bewusstsein.
+ Sühneopfer dienen der symbolischen Wiederherstellung eines als wünschenswert empfundenen Gleichgewichtszustands, ohne die Ursache der Störung real aufheben zu können. Weder handelt es sich um Wiedergutmachung noch um Strafe, die in ihrem modernen Sinn hauptsächlich zweckrational auf die Besserung des Täters und Prävention der Tat gerichtet ist (vgl. Foucault). Die den Arbeitslosen pauschal unterstellte „Sünde wider den Glauben“, sprich Arbeitsunwilligkeit, können diese nicht durch Schadenersatz – etwa für mangelnden Beitrag zu Konsum, Steuerleistung und Profitgenerierung – wiedergutmachen, noch kann Strafe deren Besserung (Beschäftigungsaufnahme) oder Prävention (Vermeidung zukünftiger Arbeitslosigkeit) sicherstellen. Der Zwang für Arbeitssuchende, sich an der Konkurrenz um die wenigen Arbeitsplätze mit allen Mitteln und unter Hinnahme jedweder Arbeitsstandards zu beteiligen, bleibt ein rein symbolischer Akt.
+ Menschenopfer sind in religiösen wie säkularen Zusammenhängen immer die höchstmögliche Opfergabe, wenn es gilt, ein zentrales Gut der Gesellschaft zu verteidigen. Auch die Moderne watet knietief in Blut, eigenem oder fremdem, wenn es darum geht, den Zweck durch Opfermythen zu adeln, und das – etwa in Revolutionen, Kriegen u. dgl. – vergossene Blut steigert allemal die Bedeutung und Legitimität des erstrebten gesellschaftlichen Zustands. Dies korrespondiert in gewisser Weise mit dem – sich in der Krise zunehmend verselbstständigenden – Gewaltkern der modernen Subjektivität, die sich in letzter Konsequenz über das Töten bzw. Tötenlassen definiert (vgl. Lohoff 2003), was im Selbstmordattentäter, einer daher originär modernen Figur, zusammenfällt. Dessen frühes Zeugnis hieß bekanntlich Carl Klinke, stammte aus der Niederlausitz und war preußischer Pionier im Deutsch-Dänischen Krieg 1864.
Wirklichkeitssimulation als rituelle Handlung
Der Simulationscharakter der wesentlichen AMS-Agenden, wie Vermittlung, Bildungsberatung und -förderung, bzw. der Arbeitslosen vorgeschriebenen „Pflichten“, wie Stellensuche, Fortbildung und subventionierte Arbeitsübungen (Maßnahmen), lässt sich am Grad ihrer realen Dysfunktionalität messen. Diese ist so weit fortgeschritten, dass man der AMS-Führung und ihren Auftraggebern absolut inferiore Managementqualitäten unterstellen müsste, wäre die eigentliche Raison d’être des Service nicht eine andere. Indes wissen die Handelnden sehr wohl, dass sie real scheitern, auch wenn sie in ihrem Dogmatismus wahrscheinlich nicht wissen warum, und machen trotzdem weiter, ohne nur ein Jota von ihrem ideologisch verselbstständigten Katechismus abzuweichen.
Potjomkin’sches Dorf „Arbeitsvermittlung“
Die voranschreitende objektive wie subjektive Unfähigkeit des AMS zur Stellenvermittlung hat einige Väter:
+ Mangel an Arbeitsplätzen: Die objektive Fundamentalursache für das zunehmende Abgleiten der Vermittlungstätigkeit des AMS in die Opferbeschaffung ist das quantitative Missverhältnis zwischen Arbeitssuchenden und offenen Stellen. Dessen leichte Abschwächung im letzten Jahr ändert nichts an den Größenordnungen. Während 2016 auf einen Arbeitssuchenden durchschnittlich 0,1 sofort verfügbare Stellen in der AMS-Datenbank kamen, waren es im abgelaufenen Jahr 0,14. Auf Basis der Annahme, dass dem AMS 40 % der österreichischen Arbeitskräftenachfrage bekannt sind, fehlten durchschnittlich rein rechnerisch sofort verfügbare Stellen für 75 % (2016) bzw. 66 % (2017) der Arbeitslosen. Der frenetische Jubel in der Öffentlichkeit über die Tatsache, dass „nur“ mehr für zwei Drittel der Arbeitssuchenden Arbeitsplätze fehlen, illustriert daher die wahnhafte Verdrängung des langjährig eindeutigen Trends. 1973 hatte die Arbeitslosenrate mit 1,2 % den Tiefpunkt in der Nachkriegszeit erreicht, 2016 den vorläufigen Höhepunkt von 9,1 % (nationale Berechnung). Zwischenzeitlich ist sie mehrfach über mehrere Jahre merklich zurückgegangen (in den Jahren 1999–2000 und 2005–2008 um jeweils bis zu 1,4 Prozentpunkte); auffälligerweise in den Zwischenkonjunkturen vor größeren Finanzkrisen (Dotcom-Blase 2000/01, Subprime-Krise 2007/08). Wie andere Konjunkturdaten im krisenhaften, kreditgesteuerten Spätkapitalismus auch wird die Arbeitslosigkeit von den Blasenbildungen auf den Finanzmärkten bestimmt und ist nur mehr vorübergehend auf Pump zu senken.
Die magere Ausbeute der Vermittlungstätigkeit des Service belief sich bei Arbeitslosen der Jahre 2010–2013 durchschnittlich auf 0,86 Stellen/Monat (WIFO, 7), dies, obwohl das AMS jede Stelle an bis zu 15 Arbeitssuchende gleichzeitig vergibt und meist wenig Rücksicht auf Übereinstimmung mit der Qualifikation nimmt. In einer vergleichbaren Größenordnung bewegen sich die Befragungsergebnisse bei jungen Arbeitslosen (18–28 Jahre), bei denen überdies die Hoffnung, das AMS erhöhe ihre Beschäftigungschancen, mit zunehmendem Lebensalter und höherem Bildungsgrad sinkt (Steiber u.a., 70, 76). Freilich dürfte die AMS-Vermittlung recht ungleich verteilt sein, wenn in einer Erhebung von 2007 34 % der befragten Arbeitslosen angaben, vom AMS überhaupt keine Stellen angeboten zu erhalten (AK OÖ, 6). Auch 2016 erhob die AK OÖ 40 % Befragte – schwerpunktmäßig ältere und Langzeit-Arbeitslose, die seit sechs Monaten keine Vermittlungsvorschläge erhalten hatten (OTS vom 6.2.2017).
+ Mangel an Arbeitsplätzen jenseits des Prekariats: Naturgemäß zeichnet die quantitative Betrachtung der AMS-Vermittlungstätigkeit ein zu positives Bild, weil sie nichts über die qualitative Übereinstimmung aussagt. Die AMS-Datenbank straft das Gerede von der Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft Lügen und enthält erstaunliche „Angebote“, die schwerlich als ASVG-konforme Beschäftigung zu erkennen sind, geschweige denn eine Existenz halbwegs sichern dürften (siehe Kasten „Besondere Beschäftigungsverhältnisse …“). Fiktiven Stellen, die ihre Dauerausschreibung wohl nur einem Vorratsdenken der Dienstgeber, also dem Aufbau unternehmensindividueller Reservearmeen verdanken, ist das AMS gegenüber genauso aufgeschlossen wie potentiellen Personalwünschen von erst in Planung oder Gründung befindlichen Dienstgebern. All dies wird unter Sanktionsdrohung vermittelt, unabhängig davon, ob sich die Stellen jemals materialisieren werden.
Die Beschäftigungschancen auf dem gesamten österreichischen Stellenmarkt sind nicht besser. Von den Arbeitslosen, denen in den Jahren 2010–2012 der Übergang in ein Beschäftigungsverhältnis gelang, wechselten in Summe ca. 60 % in Armut und Prekariat, nämlich 16,5 % in eine „Vollzeiterwerbstätigkeit mit Niedriglohn“, 18,2 % in eine „Teilzeitarbeit“, 24,5 % in eine „sonstige Beschäftigung“ (WIFO, 97, eigene %-Berechung). 40 % der Empfänger der Vermittlungsvorschläge hielten die vermittelten Arbeitsplätze 2016 für „unsicher“ (OTS der AK OÖ vom 6.2.2017).
+ Mangel an qualifizierter Stellenvermittlung: Über den Inhalt der hausinternen, dualen, 5 bis 42 Wochen dauernden „Ausbildung“ seiner Mitarbeiter verlautet das AMS wenig. Man kann von einer klassischen Anlerntätigkeit ausgehen, deren Inhalte sich an den AMS-Bundesrichtlinien (BRL) orientieren dürften, die nichts anderes als praktische Anleitungen für die Bedienung der im EDV-System vorkonfigurierten Abläufe sind. Immerhin trifft man bei privaten Stellenvermittlern häufig auf akademisches Personal, während der nach Eigendefinition „größte Arbeitsmarktdienstleister“ AMS mit Anlernkräften auskommt. Mangels Spezialisierung kann niemand, der vom Universitätslektor bis zum Lagerarbeiter vermitteln muss, von den „betreuten“ Berufsfeldern und Branchen auch nur rudimentäre Kenntnis haben. Da Arbeitslose den AMS-Beratern nach dem Geburtsdatum zugeteilt werden, wäre nur eine Spezialisierung auf Sternzeichen möglich. Die Arbeitslosenastrologie kann offensichtlich nicht verhindern, dass nicht weniger als 46 % der von der Arbeiterkammer OÖ 2007 befragten Arbeitslosen angaben, vom AMS „lediglich unpassende Arbeitsstellen“ zu erhalten. Dass die mangelnde Qualifikation der AMS-Betreuer zumindest dem Management durchaus bewusst sein dürfte, zeigt eine interne Vorschrift, sich nötigenfalls an das hauseigene Service für Unternehmen (SfU) zu wenden, um „passende“ Stellen für den „Kunden“ zu finden. Das SfU hat tatsächlich etwas mehr Realitätssinn, weil es schließlich Unternehmen bedient. In der Regel geht es hingegen nur darum, dass der „Berater“ auf das Knöpfchen der automatisierten Suche drückt und dann entweder ehrlich zugibt, dass er nichts gefunden hat, oder die Arbeitssuchenden mit Fehlzuweisungen schikaniert.
Aber wer könnte das Simulationskarussell aus Vermittlung unter Bewerbungspflicht und Pflichtbewerbungen beim AMS besser beschreiben als die Autoren des Endberichts des u.a. vom AMS mitveranstalteten „Dialogforums zum Wiener Arbeitsmarkt 2017“: „Generell entsteht aus diesen Ergebnissen der Eindruck, dass aufgrund der Bewerbungsverpflichtung der Arbeitssuchenden und der Notwendigkeit, Bewerbungen nachzuweisen, immer wieder die Qualität (passende Stelle, Interesse, Motivation) zu kurz kommt und es vor allem darum geht, sich irgendwo zu bewerben, egal wo.“ (Breitenfelder/Kaupa, 48)
Programmierte Dequalizierung als Opferproduktion
Will man die subjektiven Unzulänglichkeiten der AMS-Vermittlung nicht einfach Unfähigkeit zuschreiben, lohnt es, die Besessenheit des Service mit der Vermittlung auf Hilfs- und Anlerntätigkeiten näher zu betrachten. Diese ist real ziemlich sinnlos und oft auch gesetzwidrig:
Arbeitgeber reagieren auf Überqualifikation so sensibel, dass es – gerichtlich abgesegnet – als Vereitelung einer Beschäftigung gilt, eine solche in einem Bewerbungsgespräch zu sehr durchscheinen zu lassen.
Die frommen Lippenbekenntnisse des Gesetzgebers halten wiederum explizit fest, „dass immer wenn eine Vermittlung im erlernten Beruf nicht mehr aussichtsreich oder nicht mehr möglich ist, nicht gleich auf die nächstmögliche Helferstelle vermittelt werden darf … Die Fähigkeiten und das Entwicklungspotential der einzelnen Arbeitslosen sind zu berücksichtigen und eine Dequalifizierung zu vermeiden.“ (Erläuternde Bestimmungen zur Einführung von Betreuungsplänen, AMSG-Novelle 2004, § 38c).
Trotzdem wird dieses Vermittlungsziel auf Teufel komm raus jedem unabhängig von der Qualifikation per Betreuungsplan vorgeschrieben. Der Grund ist einfach: Sinnlose Bewerbungen sind nicht nur generell für den homo cogitans schwer zu ertragen, sondern müssen das auf Arbeitskraftverwertung getrimmte Warensubjekt ins Mark seines Selbstwertgefühls treffen. Diese doppelte Demütigung – als Mensch und als Arbeitsmonade – übersteigt selbst den beflissensten „Arbeitswillen“ und gebiert Gelegenheiten für Sanktionen. Wäre das nur ein zufälliger Nebeneffekt, würde das AMS diese Art des Psychoterrors nicht regelmäßig gezielt gegenüber renitenten Arbeitslosen einsetzen, die in wöchentlichen Kontrollterminen mit Fehlzuweisungen überschüttet werden (siehe die Vielzahl von Erfahrungsberichten auf www.aktive-arbeitslose.at).
Die Kombination von teilweise nicht existenzsichernden, prekären, arbeitsrechtlich problematischen und sogar fiktiven Stellen mit unterqualifizierten Anlernkräften als Vermittlern entpuppt sich somit als Asset bei der Optimierung des Nachschubs mit potentiellen Sühneopfern. Denn was sollte der überforderte Berater tun, wenn er schlechte Angebote an Arbeitslose bringen soll, deren Qualifikation er nicht wirklich beurteilen kann, als seine Fehlzuweisungen mit Sanktionsdruck durchzusetzen? So betrachtet bekommen einige Praxen des Service Sinn:
Dass das AMS sich tausende Mitarbeiter hält, um die im Web frei zugänglichen Stellenangebote auszudrucken, anstatt dies zumindest der großen Mehrheit der Arbeitslosen selbst zu überlassen, ist nicht bloße Ressourcenverschleuderung, sondern dient eben dem Aufspüren von Sanktionsmöglichkeiten.
Wenn man die verpflichtenden Betreuungspläne als Dokumente zur Herstellung von sanktionsrelevanten Akteninhalten für des Service hochnotpeinliche Verfahren sieht, wird klar, warum laut Befragung 44 % der Arbeitslosen ihren Betreuungsplan gar nicht kennen und 30 %, die ihn kennen, ihn für nicht sinnvoll halten (AK OÖ, 6).
Dass das AMS offene Stellen in seiner Datenbank hauptsächlich als Sanktionsanlässe betrachtet, lässt uns die AMS-Sanktionsstatistik 2017 durchaus freimütig wissen: „Der restliche Anstieg [bei den Sanktionen, P. O.] dürfte vor allem mit den wieder steigenden Anzahl der offenen Stellen beim AMS im Zusammenhang stehen, da hiermit den arbeitlosen Personen deutlich mehr Stellenangebote gemacht werden können“, heißt es dort. Klar, mehr offene Stellen sind gleich mehr Sanktionen.
Doch selbst wenn man die Vermittlungstätigkeit künstlich von dem Opfergeschäft mit den Sanktionen trennen wollte, ergibt sich folgende sprechende Relation: Die Sanktionsproduktivität war für das Jahr 2017 21,2 Sanktionen/AMS-Planstelle (Personalstand lt. AMS-Jahresbericht 2016), während die Vermittlungsproduktivität – gemessen am 40-%-Anteil des AMS an den Abgängen aus der Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung – 29,65/AMS-Planstelle betrug. Da eine bloße Vermittlung ohne Sanktionstätigkeit viel weniger Aufwand erfordert als selbst die rudimentären AMS-Sanktionsverfahren, setzt das Service jedenfalls mehr Ressourcen für das Strafen als für die erfolgreiche Vermittlung ein.
Im Maßnahmenvollzug“
In der Realität ist schwer zu entscheiden, ob die AMS-Berater von Vermittlung oder von „Fortbildung“ weniger Ahnung haben.
+ Ein Sozialwissenschaftler mit reichlich Erfahrung in EDV-gestützter quantitativer Forschung möchte sich im Bereich Webprogramming fortbilden. Verzweifelt versucht die Schulungsreferentin der Regionalstellenleitung das Begehr auf das AMS-interne Plansoll umzuleiten: „ECDL hätte ich da!“
+ Der Wunsch eines Arbeitslosen, seine Englischkenntnisse über das bereits zertifizierte Niveau hinaus zu verbessern, fördert nach Befragen des Computers folgende Antwort zu Tage: „Business Englisch hätte ich da“, übrigens bei einem bekannten AMS-Klientel-Unternehmen. Das Niveau des Kurses? „Die machen alles, gehen sie zum Infotag.“ Also auch die europaweit vereinheitlichte Sprachbeherrschungsklassifikation ist in der AMS-„Bildungsberatung“ noch nicht angekommen. Obwohl die Kurse des Anbieters das Sprachniveau des potentiellen Kunden unterschreiten, heißt es dort schmunzelnd: „Sie sind uns trotzdem herzlich willkommen.“
+ Ein AMS-Berater lehnt eine beantragte Fortbildung ab, weil der Kurs erst nach 16:00 beginnt und der Förderungswerber dann nicht aus der statistischen Rubrik „arbeitssuchend“ herausfalle. Und wozu macht man eine Schulung sonst?
Die Beispiele illustrieren wesentliche Merkmale des AMS-Schulungswesens. Von einer informierten Bildungsberatung kann keine Rede sein. Der Zweck der Veranstaltung dürfte von den meisten Akteuren in allem anderen – dem Erfüllen des Plansolls, Füllen des Kurses oder Behübschung der Statistik – gesehen werden, nur nicht in tatsächlicher Qualifizierung, wie auch dieser Tage von einem ehemaligen Trainer der Boulevardpresse „gesteckt“ wurde: „Trendopfer“ wären die Kursteilnehmer, die eben in dem geschult würden, was bei AMS und den großen Anbietern gerade in ist, und „Kurstouristen“, die den Kursträgern zum Schönen der Statistik zur Verwahrung übergeben werden, so der „Whistleblower“ weiter (Kronenzeitung, 1., 2. und 4.6.2018). Und am liebsten macht es das AMS mit jenen „Systempartnern“, die zum Großteil von seinen Aufträgen leben und hochkonzentriert sind (Kurier, 25.9.2014).
Eine Studie im Auftrag des AMS will für die Jahre 2010–2013 einen Schwerpunkt „auf dem Bereich der Qualifizierungen“ erkennen (WIFO, 8). Soweit die aufgezählten Kategorien überhaupt Rückschlüsse auf die Inhalte der Maßnahmen geben, umfasst Qualifizierung beim AMS zumindest 42 % „Beratung und Betreuung“, vom beaufsichtigten Bewerbungen-Schreiben bis zu Berufsorientierung („18,4 % externe Betreuungs- und Beratungsleistungen, 12,3 % aktive Arbeitssuche, 11,4 % berufliche Orientierung“). Weitere 20 % durften mit AMS-Unterstützung Arbeit oder eine duale Ausbildung simulieren („geförderte Beschäftigung am 1. Arbeitsmarkt 10,0 %, am 2. Arbeitsmarkt 7,9 %, in Jugendausbildung 2,6 %“), die ohne Förderung wohl nicht nachgefragt worden wäre. Die 2014 ohne nähere Quellenangabe publizierte Behauptung des AMS, es hätte im Vorjahr zu 80 % echte Aus- und Weiterbildung gefördert (Kurier, 25.9.2014), sollte man wohl mit einer Prise Salz nehmen.
Schulungsziel Arbeitssuchender ‒ oder Opfer?
Hier werden Menschen, wenn überhaupt für irgendetwas, dann für ewige Arbeitssuche geschult. In welcher Stellung wird Bewerben oder Berufsorientierung sonst verlangt? Nichts illustriert den Mangel eines qualifikatorischen Zwecks vieler AMS-Maßnahmen besser als die Tatsache, dass Arbeitslose mehrmals in dieselben Kurse gesetzt werden, was etwa schon einmal 22 % der befragten Arbeitslosen angeben (AK OÖ, 6). Eine beliebte fünfwöchige Maßnahme des AMS definiert als Ziel, dass die Kursteilnehmer am Ende des Kurses acht echte Bewerbungen und einen Karriereplan in einer für das AMS direkt zugreifbaren Datenbank abgespeichert haben. Eine AMS-Betreuerin begründete dem Autor gegenüber ihre Präferenz für einen bestimmten Schulungsanbieter damit, dass das AMS direkten elektronischen Zugriff auf die Anwesenheitsdaten der Kursteilnehmer hätte. Die in bunten Hochglanzprospekten beworbenen Maßnahmen demonstrieren bei näherem Hinsehen rasch den repressiven Charakter. „Dies bedeutet auch, dass der/die Arbeitssuchende im Beratungszeitraum von sechs Monaten zwischen 8:00 und 16:00 erreichbar ist“, heißt es in einer Vermittlungs- und Betreuungsvereinbarung eines renommierten AMS-Partners; also sechs Monate Freigang mit elektronischer Fußfessel, weil ja jede Minute ein Job winken könnte. So wie in vielen Schulungsformaten wird hier die rigide Zeitdisziplin eines Jobs, präziser einer Rufbereitschaft simuliert. Das Design solcher Maßnahmen enthüllt den eigentlichen Zweck ohnehin, nämlich die Vorschreibung an sich sinnloser Ersatzhandlungen, die Anlass für Sanktionen bieten können.
Dass die Schulungen des Service auf Arbeitsloser schulen und als Pool potentieller Sanktionsopfer fungieren, dürfte auch so wahrgenommen werden. Junge Arbeitslose würden bei Verhängung von AMS-Maßnahmen verstärkt eine Stelle suchen, was die Autoren der Studie als „aktivierenden Effekt“ (sei es nun in Form positiver Motivation oder durch Abschreckung) interpretieren (Steiber u.a., 78). Warum die von einer AMS-Maßnahme ausgehende „positive Motivation“ zu ihrer Vermeidung motiviert, bleibe dahingestellt. In einer Befragung schwerpunktmäßig älterer Arbeitsloser schlägt sich mehr die Abschreckung nieder: Nur 1,32 % freuen sich auf eine Maßnahme, fast 30 % fürchten sich vor dem nächsten Kurs und ebenso viele bekommen gesundheitliche Beschwerden, wenn sie aufgezwungene Kurse besuchen müssen (AAÖ, Items A26, B10, B16).
Viktimisierung: „Arbeitslose haben gefälligst zu leiden“
Auf den zentralen Stellenwert der Arbeit in der Gesellschaft angesprochen, antwortete Johann Beran, ein ehemaliger Pionier von AMS-Betreuungsmaßnahmen unlängst: „… ein seltsamer Wert, der Arbeit damit zugeschrieben wird, fast schon religiös: Arbeitslose haben gefälligst zu leiden, wenn sie das nicht freiwillig tun, dann helfen wir ihnen dabei“ (Standard vom 22.1.2018). Und dazu müssen nicht nur Sanktionsanlässe bereitgestellt, sondern die Ketzer auch abgeurteilt werden. Die Inquisition ging bei der Opferrekrutierung üblicherweise wie folgt vor. Zunächst wurden Bußprediger in eine Siedlung gesandt, die die – mutmaßlichen – Sünder zur Umkehr aufriefen und zur Denunziation ermunterten, bevor die nichtöffentlichen Verfahren begannen. Die Vorgangsweise des AMS ist ähnlich aufgebaut, wenn auch andere Mittel zum Einsatz kommen. Die Bußpredigt ist hier kein zeitlich distinkter Akt, sondern findet in Permanenz statt, wird nicht von der Kanzel, sondern individuell erteilt, aber von den Medien exemplarisch verlautbart und kommentiert. Vom ersten Kontakt an wird der Arbeitslose nämlich mit Pflichten und Sanktionsdrohungen in mündlicher und schriftlicher Form bombardiert.
Wie bei der Inquisition bezweckt die Bußpredigt des AMS, individuell oder medial, Angst zu verbreiten und die potentiellen Opfer als Ketzer zu stigmatisieren, was deren Widerstandswillen brechen und den Notstandscharakter der Verfahren legitimieren soll. Der Erfolg ist messbar: Ca. 36 % der Arbeitslosen fürchten sich vor dem Kontakt mit dem AMS, jeweils fast 30 % geben an, vor einem AMS-Termin öfters schlecht zu schlafen oder Herzklopfen zu haben, und ca. 13 % sind schon einmal davor krank geworden (AAÖ, Items B08, B13–B15).
Die drastischen Strafen, die unter zumindest temporärer Existenzvernichtung nicht zu haben sind, und der reichlich vorhandene Spielraum für Willkür in den Sanktionsverfahren erledigen den Rest potentieller Gegenwehr, so dass sich nur ca. 3 % der Sanktionierten juristisch wehren und nur 0,3 Promille bis zum Verwaltungsgerichtshof gehen, was immerhin in ca. 30 % der Fälle erfolgreich ist. Angesichts der Umstände, unter denen die Verfahren ablaufen, und der Tatsache, dass das AMS meist nur die Erfolg für sie versprechenden Fälle zu Gericht gehen lässt und andere lieber zurückzieht, ist dies keine schlechte Erfolgsquote. Letzteres weist den arbeitsreligiösen Opferkult als Zerfallsprodukt der Formen klassischer moderner Staatlichkeit aus, das mit diesen nicht immer kompatibel ist und daher schon im Vorfeld jegliche Gegenwehr im Keim ersticken muss.
Bußpredigt
„Wir denken, dass die Übermittlung der Mitteilung an Sie den Charakter des KundInnenservice hatte um sie an die bei uns erforderliche Vorsprache zu erinnern. Ein gutgemeinter Service, der aber in Ihrem Fall mehr zur Verwirrung bzw. Verunsicherung beigetragen hat als Sie zu unterstützen, …“ Mit diesen Worten erklärte der Leiter einer AMS-Regionalstelle die – wie üblich völlig unbegründete – schriftliche Mitteilung über die vorläufige Bezugseinstellung, die aus Anlass der Übersiedlung eines Leistungsbeziehers in die Zuständigkeit einer anderen Regionalstelle zugestellt worden war. Der Service des Service ist eben die Sanktion, wie es bei einer Opferindustrie nicht anders sein kann, und die Sanktion ist gut gemeint, dient sie doch dem Seelenheil des Delinquenten.
Das AMS agiert wie Kafkas Vater, dessen schwarze Pädagogik der Sohn in seinem Brief an den nämlichen einst so mustergültig beschrieben hat: „Es ist auch wahr, dass Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne, war für mich fast ärger. … Überdies sammelte sich aus diesen vielen Malen, wo ich Deiner deutlich gezeigten Meinung nach Prügel verdient hätte, ihnen aber aus Deiner Gnade noch knapp entgangen war, wieder nur ein großes Schuldbewusstsein an. Von allen Seiten her kam ich in Deine Schuld.“ (Kafka, 7)
Die, wie die bereitgelegten Hosenträger des Vaters, nur angedrohten, aber doch wieder zurückgenommenen Bezugseinstellungen werden vom AMS statistisch nicht ausgewiesen. Bei Befragungen berichten schon einmal 24 % der Arbeitslosen, also ein gut doppelt so hoher Anteil wie etwa die tatsächliche Sanktionsquote 2017, von einer vorsorglichen Bezugseinstellung (AK OÖ, 6). Aber auch ohne unmittelbare Sanktionsdrohung ist der Hinweis auf ihre Schuld, sprich die Arbeitslosigkeit bzw. deren Dauer ständige Rede im Umgang mit Arbeitslosen, um den gefallenen Sohn/die gefallene Tochter unmissverständlich an die „Gnade“ des bisherigen Sanktionsaufschubs zu erinnern. Diese schwarze Pädagogik mag bei Erwachsenen schlechter funktionieren als bei einem Kind, dessen emotionale und intellektuelle Abhängigkeit von den Eltern größer ist. Dafür ist die soziale Abhängigkeit des Arbeitslosen nicht geringer, und die Sanktion umso gravierender, nämlich materieller Existenzverlust, was selbst die schwärzeste Pädagogik in der Kindererziehung nicht vorsieht.
Stigmatisierung
Das AMS hängt bei der Kommunikation mit den Arbeitslosen an der (Sanktions-)Drohung wie der Heroinsüchtige an der Nadel (siehe Kasten „Hilflose Vollstrecker“), wie die freimütige nachträgliche AMS-Interpretation einer vorsorglichen Bezugseinstellung als Erinnerung an eine verhältnismäßig harmlose Meldepflicht illustriert. Eine solche impliziert, …
+ dass Arbeitslose ihre Pflichten nur unter Druck von aufrechten Strafmaßnahmen erfüllen, weshalb sie von Zeit zu Zeit ein wenig bedroht werden müssen, …
+ dass mit Arbeitslosen – Rechtsstaat hin oder her – nicht lange gefackelt werden muss, deren Bestrafung keiner großen Umstände wie Unschuldsvermutung, ordentliches Verfahren oder Parteienrechte bedarf und ihnen bestenfalls der Gnadenakt einer formlosen Vorsprache zusteht (siehe Kasten „Formlose Existenzvernichtung“), …
+ dass für Arbeitslose keine gelindere Strafe als der zumindest temporäre Entzug der materiellen Existenzmittel in Betracht kommt, auch wenn es nur um das Einhalten von Meldepflichten geht.
Kurz, so wird ansonsten nur argumentiert, wenn für bestimmte Delikte wie Terrorakte, Kindesmissbrauch u.Ä. die Wiedereinführung der Todesstrafe, Aussetzung rechtsstaatlicher Garantien oder die Anwendung von Folter, wie sie manche Rechtsprofessoren inzwischen wieder befürworten, gefordert wird. Was kommt also nächstens auf die Sünder wider die Arbeitsreligion zu? Kreuzverhör mit verbundenen Augen? Waterboarding?
Diese Notstandslogik in verwaltungsrechtlichen Vorgängen ist nur mit der arbeitsreligiösen Funktion des AMS zu erklären, gefährden doch die Arbeitslosen in diesem Wahn schon durch ihre bloße Existenz die zentralen Glaubensdogmen, was offensichtlich jede „Abwehrmaßnahme“ legitimiert. Das Abstempeln der Arbeitslosen zu Schuldigen an ihrer Arbeitslosigkeit (siehe Teil II in Streifzüge 72) und der konkrete, entwürdigende und entrechtende Umgang des AMS (bzw. der Gesellschaft) mit ihnen sind kommunizierende Gefäße. Ersteres legitimiert Letzteres, und Letzteres verfestigt wieder das Stigma der Arbeitslosen als existentielle Gefahr für die Gesellschaft durch praktische Alltagserfahrung im Bewusstsein der AMS-Mitarbeiter wie der dermaßen Sonderbehandelten, und der Öffentlichkeit generell, und sorgt dafür, dass dieses Narrativ nicht mehr hinterfragt wird.
Entrechtung und Notstandsregime
Die AMS-Verfahren zur Sanktionierung von Arbeitslosen zielen einerseits auf deren materielle Existenzvernichtung und tendieren andererseits zu einer Art undeklariertem Notstandsregime.
Ersteres lässt sich nur aus dem Charakter der Sanktionen als Sühneopfer in Reaktion auf eine – das höchste Opfergut erfordernde – fundamentale Störung des arbeitsreligiösen Normengefüges erklären.
Zweites entspricht einerseits dem Charakter des kollektiven Sühneopfers, das aus dem Kreis der imaginierten Ketzer – also der Arbeitslosen – mehr oder weniger willkürlich Opfer für exemplarische Zwecke rekrutieren muss, und trägt andererseits den praktischen Friktionen zwischen der Opferlogik und der Rechtsform durch einen entsprechenden Spielraum für Willkür Rechnung.
Vernichtungslogik
Sein bekanntes Buch „Überwachen und Strafen“ hatte Michel Foucault in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der historischen Schilderung einer Vierteilung begonnen, um hernach ausführlich zu erläutern, wie aus dem Strafwesen der Moderne physische Qualen weitgehend eliminiert und die Korrektion des Täters oder Prävention in den Mittelpunkt gestellt wurden. Auch die – mehr oder weniger schmerzfreie – physische Vernichtung durch Todesstrafe wurde nach 1945 stark zurückgedrängt. Eine auf die Vernichtung der materiellen Existenz zielende Strafe ist daher eine Anomalie, auch wenn die Sanktionen des AMS nicht zu Tod oder physischem Leiden führen müssen, sondern zunächst nur den sozialen Tod, etwa durch Obdachlosigkeit bewirken dürften. Der Entzug der Lebensmittel ist die Androhung der physischen Vernichtung durch aktives Sterbenlassen; angesichts der existentiellen Abhängigkeit von der staatlichen Versorgung eine umso dramatischere Drohung. Die Inquisition musste noch aktiv töten.
Die temporäre Vernichtung der materiellen Existenzgrundlage ist in letzter Konsequenz immer eine Drohung mit der endgültigen, weil nach drei Bezugssperren ein dauerhafter Ausschluss aus dem Leistungsbezug verhängt werden kann. Dass andere Sozialeinrichtungen dies auffangen könnten, tut der Sonderstellung der Sanktionen des AMS keinen Abbruch:
Zum einen wird auch der Zugang zu anderen Transferleistungen verschärft. So ist AMS-Sanktionierten seit Februar 2018 in Wien auch die Mindestsicherung verwehrt.
Zum anderen sprechen die Strafen des Rechtssystems – außer wo die Todesstrafe noch existiert – in der Regel niemandem das materielle Existenzrecht ab. Geldstrafen sind von Gesetzes wegen so festzusetzen, dass die für ein bescheidenes Leben nötigen Mittel erhalten bleiben, bei Haftstrafen muss niemand hungern oder dergleichen.
Es ist daher zulässig, von Menschenopfern im Zusammenhang mit den Sühneritualen des AMS zu sprechen, die in höchster arbeitsreligiöser Not auf die physische menschliche Existenz als größtmögliches Opfergut zielen. Der Zwiespalt der Gesellschaft zwischen quasireligiösem Arbeitswahn und ideologischen Versatzstücken der Moderne könnte nicht besser als durch die Tatsache verdeutlicht werden, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht seit drei Jahren darüber grübelt, ob von einer auf das Existenzminimum ausgelegten Leistung wie Hartz IV strafweise noch etwas abgezogen werden darf.
Zuerst schießen, dann ermitteln
„Die immer wieder anzutreffende Verwaltungspraxis, die Leistung auf Verdacht hin einzustellen und auf eine Reaktion des Leistungswerbers zu warten, stellt eine eklatante Verletzung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Artikel 18 Bundes-Verfassungsgesetzes dar.“ (Pfeil, 122/8) Was der Inquisition die hochnotpeinliche Befragung war, ist dem AMS die vorläufige Bezugseinstellung, die es erlaubt, während des laufenden Verfahrens existentiellen Druck auf den Beschuldigten auszuüben, auch wenn der Zweck ein etwas anderer ist. Die Folter sollte die Opfer zum Reden bringen, die vorläufige Bezugseinstellung eher zum Schweigen, genauer gesagt zum Verzicht auf Rechtsmittel und die Wahrnehmung von Parteienrechten. War das unter Folter erzwungene Geständnis für die Inquisition notwendige Voraussetzung für die Verdammung, ist der stillschweigende Verzicht auf Gegenwehr unter materiellem Druck häufig eine solche für den Erfolg von AMS-Sanktionen.
Bis zur Aufhebung des § 56, Abs. 3 des AlVG durch den Verfassungsgerichtshof (G74/2014 ua) stellte es eine Anomalie dar, dass Rechtsmitteln gegen Sanktionsbescheide des AMS keine aufschiebende Wirkung zukam, es sei denn, das AMS gewährte eine solche auf Antrag. In der Regel ist dies umgekehrt, und seither dürfte es dem AMS noch in keinem Fall gelungen sein, den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung juristisch zu begründen. Es bleibt abzuwarten, ob auch dieses Urteil legistisch ausgehebelt werden wird. Das Aushungern des Arbeitslosen während eines Rechtsmittelverfahrens von mindestens einem halben Jahr war die große Streckbank im Arsenal des AMS.
Aber auch unter der gültigen Rechtslage läuft vor Einbringung eines Rechtsmittels die Zeit gegen die Arbeitslosen. Seit der AlVG-Novelle von 2004 kann das AMS Bezugssperren zunächst formlos per Mitteilung und ohne Bescheid verhängen, was eine empfindliche Hürde für deren rechtliche Bekämpfung aufbaut. Ein Bescheid muss so bei laufender Sanktion erst angefordert werden (innerhalb von vier Wochen), und die Behörde hat dann noch weitere vier Wochen Zeit für die Ausstellung. Lässt sich der Betroffene mit der Bescheidanforderung etwas Zeit (etwa für Rechtsberatung), kommt das AMS schnell einmal auf eine Aushungerungsperiode von zwei Monaten, was zumindest den Ausfall einer Mietzahlung, eventuell drohende Obdachlosigkeit und den Verlust des Krankenversicherungsschutzes nach sechs Wochen bedeutet. Mit dieser kleinen Streckbank muss das AMS derzeit vorliebnehmen, um aus der Kombination von Rechtslage und der sozialen Abhängigkeit seiner Opfer einen widerspruchsfreien, also rechtsfreien Raum zu schaffen.
Abgesehen von diesen Hauptfolterinstrumenten, leben die Opferrituale des AMS auch ansonsten vom Vermeiden, Umgehen und Aushöhlen rechtsstaatlicher Verfahren (siehe Kasten „Formlose Existenzvernichtung!“, „Benchmark Inquisition“), und sind somit als Notstandsregime erkennbar, auch wenn sie formaljuristisch nicht so kategorisiert werden.
Ritualcharakter
Obwohl in manchen Religionen auch individuelle Selbstopferungen möglich sind, werden diese meist unter strikte gemeinschaftliche Kontrolle gestellt, gilt Selbstmord als Sünde und ist das Wesen von Menschenopfern kollektiv, wobei einige Mitglieder der Gesellschaft geopfert werden, um den Fortbestand und das Wohlergehen der Gesamtheit durch Sühne zu ermöglichen. Die Rettung des arbeitsreligiösen Seelenheils des Einzelnen durch Umkehr ist nicht vorrangiges Ziel des AMS. Von der individuellen Buße wird die Welt nicht sündenfrei, wie jeder Beichtvater weiß. Zwar soll sich der Einzelne in den Ritualen des AMS als „arbeitswillig“ erweisen und sehen die Sanktionsrituale sogar Absolution, „Nachsichtsgründe“ genannt, für Sünder vor; vorrangig in Form von Beschäftigungsaufnahme, die für den größten Teil der Opfer nicht zu haben ist. Aber ginge es um individuelle Sühne, würde das AMS Bußkurse mit Selbstgeißelungstraining anbieten und nicht sanktionieren.
Der Anspruch der Inquisition wie des AMS ist auf das Opferspektakel gerichtet, weil sie den öffentlichen Zusammenbruch ihrer Lehren verhindern müssen. Einzelne reuige Sünder sind nur Statisten, die vom AMS bestenfalls zur moralischen Erbauung als Musterbeispiele der Arbeitswilligkeit wie kleine dressierte Äffchen in den Medien vorgeführt werden: Da strahlt der 55-jährige Akademiker, weil er nun lohnsubventioniert – ansonsten hätte er den Job nicht – für einige Zeit eine Kasse bei Billa bedienen darf; ein anderer versichert, dass es ihn nicht stört, mit seiner Gehbehinderung gemeinnützig über den Bauhof irgendeiner Gemeinde zu humpeln, usw. Hauptsache Arbeit ist die Botschaft.
Tatsächlich geht es um den Opfernachschub mit mehr oder weniger zufälligen Individuen aus dem Kreis der Ketzer, um die Rettung der kollektiven Heilserwartung durch das Sühneopfer und um die symbolische Reinigung der Gesellschaft von der Sünde der Arbeitsunwilligkeit durch exemplarische Opferung. Eine Vernichtung aller angeblich Arbeitsunwilligen würde nur beweisen, dass niemand die Lehre der Arbeitsreligion freiwillig glaubt, und diese verlöre damit ihre Glaubwürdigkeit als Erlöserreligion. So ist weder die Inquisition noch das AMS prinzipiell an einer Steigerung der Opfer ins Unendliche interessiert, noch daran, alle Sünder auszurotten, die ja „umkehren“ sollen. Was die Opferspirale nach oben in Bewegung setzt, ist vielmehr die notwendige Erfolglosigkeit der AMS-Sühneopfer, so wie das Wüten der Inquisition ins Unermessliche anstieg, als die einheitliche religiöse Ordnung des Abendlandes nicht mehr zu retten war.
„Mehr Licht“ statt mehr Opfer
Betrachtete man die Arbeitslosigkeit wirklich als individuell verschuldet, müsste eine erfolgreiche Wiederherstellung der Arbeitswilligkeit per Sanktionsregime direkte reale Wirkung zeitigen. Dass dem nicht so ist, wissen selbst die arbeitsreligiösen Inquisitoren aus ihren eigenen Daten und Untersuchungen (etwa des WIFO) und begeben sich mit der Weiterführung ihres Kreuzzugs gegen den Unglauben auf metaphysisches Parkett: Der – real konsequenzlose – Glaubenseifer und die demonstrierte Opferbereitschaft sollen das Verschwinden der Arbeit irgendwie stoppen oder rückgängig machen, unterstellt man zumindest implizit und hat damit jedes säkulare und zweckrationale Mäntelchen zugunsten des Glaubens an eine metaphysische Macht abgestreift. Da die Arbeitsreligion aber nicht offen als Glauben auftreten kann, bringt dies deren Priester unter noch mehr Zugzwang, die kompensatorische Sündenbockgenerierung immer weiter voranzutreiben, um den Glauben an die Arbeitsgesellschaft mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten.
Jedoch lässt sich weder die Arbeitslosigkeit durch das Sühneopfer auf wundersame Weise wegmachen, noch verschwinden die Zweifel an der Arbeitsreligion tatsächlich. Die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen verstummt – der Kommentare von AMS-Vorständen zum Trotz – nicht mehr. Wiewohl viele gerne an die Arbeitsunwilligkeit der Arbeitslosen glauben, wendet sich die Aggressionsabfuhr gegen Sündenböcke nicht positiv in eine Saat für die Heilsbotschaft von zukünftiger Vollbeschäftigung und Arbeitsplatzvermehrung. Auch die, die gerne auf Sündenböcke herabblicken, wissen, dass ihr Arbeitsplatz jederzeit wegrationalisiert werden kann. Bei einer Million von Arbeitslosigkeit Betroffenen im Jahr haben viele selbst mit ihr oder einem davon Getroffenen Bekanntschaft gemacht. Angesichts der Realitäten kämpft das AMS gegen Windmühlen, wenn es einen Glauben aufrechterhalten will, der in so diametralem Widerspruch zur Wirklichkeit steht. Der Sündenbockkult ist eben nur Ersatzdroge. Ein System, das um sein Überleben kämpft und gleichzeitig seine den Realitäten gegenüber blinden Dogmen nicht aufgeben kann, will es sein Ende nicht besiegeln, bleibt zum Weitermachen verdammt, in der Hoffnung, mit immer mehr Opium die Realitäten zeitweilig verdrängen zu können.
Der Bezug auf den Blutrausch der aztekischen Opferpriester am Ende des Teils II dieses Artikels hat daher seine Triftigkeit. Denn solange die Arbeitsgesellschaft ihr nahendes Ende nicht zur Kenntnis nimmt, sind der Menschenopfer nie genug. Wenn die geschilderten individuellen Rituale nicht ausreichen, werden ganze Gruppen zur Schlachtbank geführt, wie es die jetzige Regierung gerade vorbereitet; denn ums individuelle Seelenheil ist es dabei nie gegangen, sondern um den Opfernachschub für den vergeblichen Versuch, die kulturelle Hegemonie der Arbeitsreligion in einer Zeit zu petrifizieren, in der ihr die Stunde schlägt. Von der Erkenntnis, dass kein Sühneopfer daran etwas ändern kann, hatte sich die Arbeitsgesellschaft abgeschnitten, als sie sich auf die Reise machte, die Arbeitslosigkeit an den Arbeitslosen zu bekämpfen. In diese intellektuelle Finsternis bringen nur die Scheiterhaufen ein wenig Helligkeit und Wärme. Machen wir Licht, damit diese Gesellschaft nicht so unwürdig zugrunde geht, wie sie gelebt hat, und auch noch ihre letzten Wege mit dem massenweisen Arbeitsleid und Arbeitslosenleid der Opfer ihres sinnlosen Fetisches gepflastert sind!
Literatur
Aktive Arbeitslose Österreichs (AAÖ): Ergebnisse der Umfrage „Würde statt Stress“ (Wien, Februar 2010).
Arbeiterkammer OÖ (AK OÖ), Arbeitslosenbefragung 2007, zitiert nach Karin Rausch: Auf dem Weg zur Arbeitslosen- und Sozialanwaltschaft, Präsentation Momentum14-Kongress (17.10.2014).
Breitenfelder, Ursula und Kaupa, Isabella: „Offen gesagt – Endbericht des Dialogforums zum Wiener Arbeitsmarkt 2017“, veranstaltet von AK Wien/AMS Wien/WAFF (Wien, Jänner 2018).
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt/M. 1977).
Kafka, Franz: Brief an den Vater (Erstveröffentlichung in „Die neue Rundschau“, 63. Jg., Zweites Heft 1952).
Lohoff, Ernst: Gewaltordnung und Vernichtungslogik, in: Krisis 27 (Bad Honnef 2003).
Pfeil, Walter: Arbeitslosenversicherungsrecht (Wien 2005).
Steiber, Nadia, Mühlböck, Monika, Kittel, Bernhard: Jung und auf der Suche nach Arbeit in Wien, Endbericht Modul 1 (Wien, April 2015).
WIFO – Eppel, Rainer, Horvath, Thomas, Mahringer, Helmut: Eine Typologie Arbeitsloser nach Dauer und Häufigkeit ihrer Arbeitslosigkeit 2010‒2013 (Wien, Dezember 2014).