von Franz Schandl
Die Oktoberrevolution hatte auch in Österreich ein breites Echo gefunden. Die Sozialdemokratie forderte ein Friedensabkommen mit dem revolutionären Russland, konnte aber den Diktatfrieden von Brest-Litowsk nicht verhindern. Massenaktionen lehnte sie hingegen dezidiert ab. Trotzdem kam es schon im Jänner 1918 zu ersten Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen. Die Streiks waren ohne Initiative der Partei spontan entstanden und weiteten sich auch schnell aus. „Die Gefahr, dass die bolschewistischen Wellen zu uns hereinschlagen, ist groß“, schrieb Ignaz Seipel, der mächtigste Mann der Christlichsozialen in der Ersten Republik.
Es gärte. Es keimte. Es brodelte. Aber es kochte nie so richtig. Der Eintritt der Massen in die Geschichte blieb ein Intermezzo mit einigen Höhepunkten, denen zahlreiche Tiefschläge folgten. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) war weder Trägerin noch Unterstützerin dieser elementaren Erhebungen. Im Gegenteil, man versuchte diese so schnell als möglich zu kalmieren als auch zu instrumentalisieren. Nur wir können euch die Arbeiter und Soldaten vom Leib halten, ließ die Sozialdemokratie den konservativen und reaktionären Kräften ausrichten. Das stimmte auch. Während des Krieges war die Sozialdemokratie nie auf Konfrontation zur Regierung gegangen. „Jegliche Aktion der Arbeiterschaft wurde nicht auf die Chance untersucht, wie sie zur Durchsetzung grundlegender Forderungen, in letzter Konsequenz der Machteroberung genutzt, sondern wie sie so schnell als möglich beigelegt werden konnte“, schreibt der Historiker Peter Kulemann. Karl Renner, der spätere Staatskanzler, versuchte bis zum Schluss sogar das Vielvölkerreich zu retten.
Die Austromarxisten der SDAP waren trotz ihrer klassenkämpferischen Rhetorik Legalisten, kühne Schritte waren ihre Sache nie. Wiewohl links von der SPD angesiedelt, erwies sich die österreichische Sozialdemokratie in keiner Phase ihrer Existenz als revolutionäre Kraft. In allen Auseinandersetzungen blieb man stets im vorgegeben Rahmen. So etwas wie die USPD fehlte in Österreich gänzlich. Abgeordnete wie Karl Liebknecht oder Otto Rühle sucht man vergebens. Es fand sich niemand, der sich an die Spitze der entstehenden und gar nicht so kraftlosen Rätebewegung stellen häte können. Der linke Radikalismus beherrschte die Bewegung mental, aber organisatorisch blieb er schwach und taktisch handelte er oft inferior. Daran änderte auch die Gründung der Kommunistischen Partei nichts.
Spätestens im Herbst 1918 befand sich die k.u.k. Doppelmonarchie in Zerrüttung und Zerfall. Der Staat stand vor dem Bankrott. Die Soldaten wollten nicht mehr, die Durchhalteparolen verhallten, wer konnte, desertierte und lief nach Hause. Die Ideologie erwies sich als durch und durch morsch. Die Völker der Donaumonarchie verabschiedeten sich in die Unabhängigkeit von Wien. Dem Reich schlug die letzte Stunde. Und das wollten auch die allermeisten, nicht nur die Arbeiter- und Soldatenräte, sondern in diesen Tagen auch die politischen Lager: Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Großdeutsche. Das war Konsens, so kurz er auch dauern sollte.
Am 12. November erklärte das Rumpfparlament, die Provisorische Nationalversammlung, Deutschösterreich zur demokratischen Republik, bestimmte aber in Artikel 2 der Erklärung gleich deren Auflösung: „Österreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“, heißt es dort ganz apodiktisch und unmissverständlich. Auch da herrschte Konsens. Man hielt das kleine Österreich nicht für überlebensfähig. Wäre es nach dem Willen der Wiener Politik gegangen, dann wäre Österreich in Deutschland aufgegangen. Otto Bauer, der führende Kopf der Sozialdemokratie und kurzzeitig Außenminister der jungen Republik, ging etwa davon aus, dass „wir uns (…) dem großen roten Deutschland eingliedern“.
Deutsch gesinnt waren nicht nur die Großdeutschen (eine der Vorläuferparteien der heutigen FPÖ). Die Mehrheitsbevölkerung quer durch alle Schichten verstand sich ebenfalls als deutsch. Der Name Österreich stand ja primär für das ehemalige Herrscherhaus der Habsburger. Letztlich war es der Friedensvertrag von St. Germain 1919, der Österreich als Kleinstaat diktierte. Das Abkommen verbot auch den Anschluss an Deutschland, der Name der Republik musste daher im Oktober 1919 schlicht auf Österreich geändert werden. Die neue Republik war auf ein Achtel des alten Staatsgebiets reduziert. Ein Imperium war gefallen.
„Der Rest ist Österreich“, soll der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau gesagt haben. So zumindest die Legende, für die es keine Belege gibt, die aber hierzulande gerne kolportiert wird. Wahrgenommen wurde es jedenfalls so, als Fremdbestimmung. In der linken Lesart von Otto Bauer besiegelte in St. Germain der „Ententeimperialismus die Vorherrschaft der Arbeiterklasse in Deutschösterreich.“ Übriggeblieben war letztlich ein Staat, den niemand so erwartet und auch niemand so gewollt hatte. Man stolperte rein. Das verdrängt man heute lieber, es hat ja auch nichts Erhebendes.
So wurde die Republik von jenen erkämpft, die viel mehr als diese wollten und fiel spätestens 1920 jenen in den Schoß, die ihr gar nicht zugetan gewesen sind. Das Bürgertum war antirepublikanisch und antiparlamentarisch, dito die Bauernschaft. Die heute abgefeierte Demokratie war nicht das Ziel, sondern bloß das Ergebnis. Die österreichische Revolution, gab es sie überhaupt? Kulemann, der ein umfangreiches Buch mit dem Titel „Am Beispiel des Austromarxismus“ vorgelegt hat, spricht von einer „vorrevolutionären Situation“, die sich aufgrund der abwiegelnden Haltung der Sozialdemokraten nie richtig entfalten konnte. Die Lücke zwischen Budapest und München zu schließen, auch hier ein Rätesystem zu errichten, das sahen die maßgeblichen linken Kräfte in Wien nie als ihre Aufgabe an.
Indes nutzte man die Lage, um entscheidende Reformen durchzusetzen: die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen, eine moderne Sozialgesetzgebung, die Abschaffung der Todesstrafe, die Aufhebung des Adels, die entschädigungslose Enteignung des Hauses Habsburg-Lothringen. Das strenge Habsburgergesetz hat sich die Dynastie selbst zugezogen. Einerseits verzichtete Karl I. zwar auf die Amtsgeschäfte, andererseits dankte er jedoch nicht wirklich ab. Das Herrscherhaus spielte auf Zeit, verkalkulierte sich aber. Eine Zäsur war 1918 zweifellos. Hammer und Sichel im Bundeswappen verdeutlichen dies.
Unter den Teppich gekehrt wird freilich folgendes: Hundert Jahre Österreich, das meint ein Fest für einen Staat, den seiner Gründer gar nicht wollten. In den offiziellen historischen Inszenierungen sind Gedenken und Erkenntnis allerdings selten eins. Die rituelle Beschwörung der Vergangenheit hat diverse Erinnerungslücken. Interessant ist, wie sich Erzählungen ablösen, welche wann und warum dominieren. Als legitimierte Geschichte gilt immer der aktuelle Narrativ. Der wechselt. „Ab dem 12. November 1918 wurde mit der Ersten Republik auch die Nation Österreich geboren“, sagte Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) beim Staatsakt vom 12. November. Das ist zwar dezidiert unrichtig, könnte aber dennoch Rohmaterial für einen neuen Mythos liefern. Die vorherrschende Sichtweise ist immer auch eine Frage der Sichtung und ihrer Häufung. Rückwirkend betrachtet wird es so gewesen sein müssen wie wir glauben, dass es gewesen ist. Gegenwart folgt der Vergangenheit, aber Geschichte folgt der Gegenwart.
Indes setzte sich das Bekenntnis erst Mitte des Jahrhunderts allmählich durch. Und es waren ausgerechnet die Kommunisten, die von einer österreichischen Nation sprachen und diese versuchten auch theoretisch zu fundieren. Das begann in den Neunzehnhunderdreißigerjahren. Aber die mag man nicht, und so genau muss man es weder wissen noch nehmen. Vielmehr geht es um Mythos, Symbol, Zeremonie.