Welches Ich verschwindet in der Therapie?

Bericht über die Beseitigung eines Doppelgängers

Streifzüge 72/2018

von Ilse Bindseil

Sehr geehrte Therapeutin,

es sind einige Jahre vergangen, seitdem ich die Therapie bei Ihnen beendet habe, und es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen von einem Ergebnis Mitteilung zu machen, mit dem ich nicht gerechnet hatte und das sich auch erst allmählich eingestellt beziehungsweise in einer Form herauskristallisiert hat, die mich dann doch überrascht. Vielleicht ist es ja auch für Sie interessant, davon Kenntnis zu nehmen.

Erinnern Sie sich, wie Sie mich, nicht ganz zu Anfang, um mich nicht zu verschrecken, aber nach einigen Stunden gefragt haben, was ich mir persönlich von der Behandlung erhoffe? Das war sicherlich eine Standard-Eröffnung, aber für mich eine komische Frage. Denn natürlich war ich aus persönlichen Gründen gekommen, und ich konnte es mir gar nicht anders denken, als dass die Erwartung mit den Gründen identisch war. Da ich aber wegen eines körperlichen Leidens zu Ihnen geschickt worden war, das zwar Anlass genug bot, alles nur Menschenmögliche zu probieren, aber keine Anhaltspunkte für eine Erwartung, die sich an die Psychologin richten konnte, wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Außerdem war ich es ganz und gar nicht gewohnt, nach meinen Wünschen gefragt zu werden. Auch wenn es merkwürdig klingt: der direkte Appell an meine Person ist mir fremd. Ich muss mich zusammenreißen, dachte ich, ich muss etwas Konkretes formulieren. Etwas Konkretes und zugleich etwas Psychologisches. Ich konnte doch nicht die Praxis einer Psychologin betreten und fragen: Wo sind die Salben, wo ist das Skalpell?

Ich sagte dann − und es war mir bei meinem fortgeschrittenen Alter doch ein wenig peinlich −, dass ich mir wünschen würde, dass mich mein Doppelgänger nicht länger belästigte. Es handelte sich dabei um eine Art zweites Ich, das sich in meinem Umgang mit anderen bemerkbar machte und mit dem paradoxen Anspruch, meine wahre Person zu vertreten und ihre Rechte geltend zu machen, eine vernünftige Kommunikation zu hintertreiben pflegte. Nicht geradezu eine „Stimme“, aber doch ein unleugbar sich artikulierendes Interesse, das ich nur als infantil bezeichnen konnte, behinderte dieser Doppelgänger mich nicht nur in der freien Darstellung meiner selbst, sondern widerlegte auch den Eindruck, wann immer er sich einstellen wollte, ich hätte es, ohne es recht zu merken, doch geschafft und wäre so wie andere erwachsen geworden.

Da Sie an den entscheidenden Übergängen stets geschwiegen, mich lediglich aufmerksam angeblickt haben, hatte ich mich auch hier genötigt gefühlt, die Sache genauer zu erklären. Ich hatte Ihnen mitgeteilt, dass es sich in der Tat um mein Ich handelte, das sich aber in einer so drangvollen Form zum Ausdruck brachte, dass jede Verleugnung zwar schnöder Verrat, jedes Bekenntnis zu ihm aber peinlich war. Ein unsichtbarer, aber nimmermüder Wächter über meine inveterate interests, bezog es neben meiner sichtbaren Person Posten und passte auf, dass es nicht geopfert wurde. Einspruch, murmelte es, wenn es merkte, dass ich drauf und dran war, auf eine Floskel – „Wie geht’s, wie steht’s?“ – mit einer Floskel zu antworten: „Alles paletti.“ In dem Bemühen, beiden Instanzen gerecht zu werden, meinem inneren Ich und dem äußeren meines Gesprächspartners, zugleich individuell und allgemein, nicht nur beides, sondern auch beide, ich und die andern zu sein, verhedderte ich mich bereits im Ansatz meiner Antwort, ja fing sogar wie in kindlicher Vorzeit an zu stottern, wobei ich das Gefühl einer gewissen Fremdheit nicht los wurde. Es wäre zu viel gesagt, wenn ich behaupten würde, das war nicht ich, die da stotterte, aber ich, die das Stottern benutzte. Nur, zu welchem Zweck? Um einer oberflächlichen Frage den Weg in die Tiefe zu weisen? Leicht gesagt. Bei dem Versuch, dem unschuldigen Menschen, dem ich über den Weg gelaufen war, nicht nur die Aporien meiner Existenz zu erläutern, sondern mich ihm mit einer aufrichtigen und vollständigen Erklärung meiner selbst gewissermaßen zu Füßen zu legen, wandelte sich in kürzester Zeit die nette Gelegenheit, ein Wort zu wechseln, in die existentielle Sorge, wie ich aus der Situation wieder herauskommen konnte. Ich glaubte aber, das müsste so sein oder ich mich nur besser erklären. Denn es gab ja nicht zwei Wahrheiten auf einmal, eine für wichtige, andere für unwichtige Adressaten, und ich konnte die Situation doch nicht über die Person siegen lassen. Ich konnte auch nicht zusehen, wie meine höchst individuelle Befindlichkeit in einer nichtssagenden Formel unterging: „So là là“ oder „Na ja“. In geläufiger Beschönigung: „Wie immer bestens“ oder „Bei dem Wetter? Da kann’s einem doch nur gutgehen!“ Gar in gebildeter Ironie: „Das ist ein weites Feld, Luise.“ Altmodisch: „Da schweigt des Sängers Höflichkeit.“ Oder abgeklärt: „Damit fangen wir gar nicht erst an.“ Wo blieb denn ich dabei?

So umfassend habe ich Ihnen das damals nicht erklärt. Ich griff vielmehr zu einem lustigen Beispiel. Ich wollte, so äußerte ich, wenn mich der Markthändler beim Einpacken der Kartoffeln nach meinem Befinden fragte, nicht mehr diesen unbeschreiblichen Drang spüren, „die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen“. Es war mir, sagte ich Ihnen, unmöglich, mich auf die Seite der Konvention zu schlagen. Meine ganze Existenz wäre dadurch infrage gestellt worden. Ich konnte mir daher auch nicht vorstellen, wie sich die Aporie auflösen sollte. Aber ich wollte doch so gern, sagte ich, dass das übereifrige Gestotter aufhörte, an das ich mich nur mit dem Gefühl der Beschämung erinnerte.

Kurz und gut, ich drückte die Hoffnung aus, ich könnte eins sein und der Doppelgänger verschwinden. Von dem physischen Leiden, das mich zu Ihnen gebracht hatte, konnte man schlechterdings nicht hoffen, dass es verschwand. Es vom Doppelgänger, wiewohl ein Etwas ohne jede physische Realität, zu erwarten kam mir, ehrlich gesagt, nicht weniger abenteuerlich vor. Aber Sie hatten mich nun mal gefragt, und es handelte sich ja eindeutig um etwas „Psychisches“. Außerdem konnte ich mit dieser Antwort meinen guten Willen, womöglich auch eine günstige Prognose unter Beweis stellen. Wer hofft, ist nicht tot, schloss ich bei mir, und wer auf eine Frage antworten konnte, war nicht unbelehrbar. Indem ich auf Ihre Eingangsfrage – „Was erwarten Sie sich von der Therapie?“ – mit einer Antwort reagierte, die mich selbst überraschte, bot ich mich Ihnen, so kam es mir damals vor, als eine geeignete Patientin dar und wiederholte zugleich den Mechanismus, von dem ich befreit werden wollte. Denn so wie immer, hatte ich auch in dieser Lage „die Wahrheit gesagt“.

Was weder Sie noch ich beim Abschluss der Therapie wissen konnten und sich als Ergebnis erst Monate später herausstellte: Die Hoffnung hat sich erfüllt, der Doppelgänger ist weg. Auch die Behinderungen, die durch seine lautlosen Interventionen hervorgerufen wurden, haben sich verflüchtigt. In der beiläufigen Unterhaltung verheddere ich mich nicht mehr, von Stottern keine Spur. Ich verirre mich auch nicht mehr in den Weitläufigkeiten meiner Person. Mühelos schaffe ich das Unmögliche: ohne oberflächlich zu werden, bleibe ich auf der Oberfläche des Gesprächs. Wie Sie es vielleicht auf den Punkt bringen würden: ich bringe nicht mehr das Richtige am falschen Ort zur Sprache. Unmittelbarer Vorteil bei der neuen Sache: ich brauche mir nicht vorzunehmen, was ich sagen möchte. Ich kann einen Satz sorglos beginnen und sicher sein, dass ich ihn ebenso sorglos beende. Es ist ja mein Satz. Ich kann auch mal nichts sagen, nur winken, nicken, lächeln, mit den Augen lächeln und so fort. Was soll ich Ihnen sagen: vor kurzem habe ich jemandem zugezwinkert! Und dies alles, ohne dass nach meiner Erinnerung die Therapie, die wir bis in den Bruchteil jeder Sekunde genutzt haben, auf die eingangs geäußerte Hoffnung fokussiert gewesen wäre. Wir hatten ja so viel Konkreteres, auch so viel Prinzipielles zu bereden.

Nicht lange, sagte ich nach dem ersten Erstaunen zu mir, und du wirst können, was du immer am meisten bewundert hast: die Gedanken verfertigen beim Reden. Denn natürlich hatte ich wie alle Schülerinnen des Mädchengymnasiums für Kleist geschwärmt.

Ich will nun noch von einer unerwarteten Nebenwirkung meines Therapieerfolgs berichten.

Ich hatte zwar den Wunsch geäußert, dass der Doppelgänger aus meinen Unterhaltungen verschwindet, hätte aber nie damit gerechnet, dass mit ihm auch mein Ich verschwinden könnte. Ich muss mir, wenn überhaupt etwas, dann eine Art Regierungswechsel vorgestellt haben. Mein infantiles Ich würde meinem erwachsenen Ich weichen. Es würde in schönster hegelscher Dialektik durch mein erwachsenes Ich aufgehoben werden, und sei es nur in der Weise, dass ich die Partei wechselte und mein erwachsenes Ich als meinen wahren Repräsentanten akzeptierte und mit ihm eins wurde, so dass für mein infantiles Ich faktisch und logisch kein Platz blieb. Prompt würde es sich in den biographischen Untergrund, dahin wo es herkam und wo es hingehörte, zurückziehen. Wieviel Integration, wieviel Verdrängung jeweils im Spiel sein mochte: am Ende wäre ich in einem uneingeschränkten Sinn ich. So ungefähr muss ich mir das gedacht haben.

Es kam aber anders. Auch mein erwachsenes Ich verschwand, als wenn es bloß der Doppelgänger meines infantilen Ichs gewesen wäre, ohne eigene Existenz. Das Störende, das Unfreiwillige, das jede Unterhaltung beschwert hatte, war damit beseitigt, ich freilich nicht mehr beteiligt. Allenfalls noch in der äußerlichen, von Frust und Bedauern unbeeinträchtigten Weise eines zufällig Anwesenden: Da unterhalten sich zwei Vernünftige, stellt er fest. Oder schlicht und einfach: Da unterhalten sich zwei. Oder: Da stehen zwei im öffentlichen Leben und reden.

Letzteres traf am ehesten meinen Eindruck. Ich war ein Teil des öffentlichen Lebens geworden, aber mein Ich war nicht mit von der Partie, wenn auch keineswegs ausgeschlossen, und schon gar nicht enttäuscht. Bloß nicht dabei. So wie ich auf der Straße stand und mit der Nachbarin redete, hätte ich nie von mir als von „ich“ geredet. Aber ehrlich gesagt: ich vermisste mich nicht.

Kann man sagen, so ist es heute noch, das ist der Stand der Dinge, mein falsches Ich ist verschwunden, aber mein richtiges mit?

Ach, ich weiß nicht, solange es Etappen gibt, wird es nicht die letzte gewesen sein. Soviel kann ich zugeben: Offenbar habe ich keine rechte Vorstellung davon gehabt, was ein Ich ist, sonst hätte ich ja auch besser darauf aufpassen können, oder ich würde es wenigstens vermissen. Erst hinterher ist mir klar, wie fest ich mit einer höchst unzuverlässigen Größe gerechnet habe. Ich rekonstruiere daher: Erstens, durch die Beseitigung eines die Ichentwicklung hindernden infantilen Rests in meiner Persönlichkeit ist mir auch mein Ich abhanden gekommen, und der Verdacht steht im Raum, dass es von Anfang an mehr mit meinem infantilen Ich als mit meiner Vernunft zu tun hatte, oder sagen wir halbe halbe, eine Projektion nicht nur der Vernunft, sondern auch jenes höchst unvernünftigen Ich war, das wir als infantil zu bezeichnen pflegen. Zweitens, ich vermisse es nicht, und auch das deutet auf die enge Beziehung zwischen infantilem und erwachsenem Ich, denn solange jenes existierte, vermisste ich das andere, wo jenes aber weg ist, vermisse ich nichts und niemanden mehr.

Drittens bin ich mit der grammatischen Ich-Funktion, die mir geblieben ist, mehr als nur zufrieden. Nach der jahrzehntelangen Belastung durch ein drängendes inneres Ich ist sie alles andere als unangenehm. Ja, ich hänge an ihr, ich liebe und verehre sie. Sie ist meine kühle Schöne.

Ich will mich in die Erfahrungen anderer Leute nicht einmischen, verehrte Therapeutin, womöglich haben sie ein haltbareres Ich als ich, ein ursprünglich erwachsenes oder ein weniger aufdringliches infantiles Ich. Ich wollte Ihnen nur von meinen berichten.

Ich grüße Sie,
Ihre dankbare Patientin

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