von Roger Behrens
Die Moderne will auf Dauer eingestellt sein, proklamiert die Ewigkeit, die keinen Anfang und kein Ende kennt, verteidigt die Beständigkeit ihrer Werte. Widerlegt wird das, wie in jeder Zeit, von der Vergänglichkeit; das Dauernde, ja Überdauernde realisiert die Moderne nicht als „Ewiges Immer“ (das kabbalistische „En Sof“), sondern, im Gegenteil, als Langeweile (und überdies hat mit der Moderne die Langeweile ja eine vehemente Bedeutungsabwertung erfahren): Was bleibt, erscheint nur allzu oft als negativ, lässt einen nicht mehr los. Man versauert, erstarrt körperlich, wörtlich: Die Melancholie ist die schwarze Galle. Die moderne Psychopathologie beschreibt dies – das Leiden an der Zeit, die einen gefangen nimmt – als Depression; schon früh im 20. Jahrhundert geriet das auch zum Schreckbild kapitalistischer Ökonomie: Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre war die Zeit der Great Depression.
Kontrafaktisch zur verwertungslogischen Realität behauptet der kapitalistische Kulturbetrieb seit jeher, solchen depressiven Zeiten entkommen zu können. Die Komprimierungsverfahren, die Langeweile in Kurzweil verdichten, werden seit Ende der 1990er Jahre, schließlich vor allem seit den sogenannten Nullern sozialtheoretisch aufgebrezelt als Beschleunigung oder Akzeleration bezeichnet: Die Kultur ist auf den Superlativ eingestellt, alles soll immer größer, bunter, schneller sein, die Gegenwart überschlägt sich, die Zukunft findet längst schon statt – das ist das Versprechen; und ohnehin ist kaum noch zu erkennen, was die Zukunft an echtem, wirklichem Novum bieten könnte. „Hier ist die Rose, hier tanze“ – Hegels antiutopischer Verzicht auf jeden revolutionären Vorstoß, ist in billiger und blöder Weise eingelöst worden: „Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit … Geht seine Theorie in der Tat drüber hinaus, baut es sich eine Welt, wie sie sein soll, so existiert sie wohl, aber nur in seinem Meinen – einem weichen Elemente, dem sich alles Beliebige einbilden lässt.“ – „Alles Beliebige“ ist nun allerdings das allgemeinste Kulturprogramm, insbesondere seit der Postmoderne, die alles Beliebige noch zur All-Beliebigkeit übersteigerte: ein Sog, der in die Zukunft treibt – in der sich dann doch nur wieder und wieder die Gegenwart spiegelt (bzw. wiederholt). Beobachtet wird seit einigen Jahren, dass man sich im kulturellen Sprung nach vorne allenthalben in die Vergangenheit stürzt: Es gäbe im „Kapitalistischen Realismus“ keine Alternativen mehr, schreibt Mark Fisher; und allemal sei die Vergangenheit und das Vergangene irgendwie besser, d.i. spannender, gehaltvoller, auch kurzweiliger. Eine regelrechte „Retromania“ sei ausgebrochen, diagnostitziert Simon Reynolds dazu: Der Pop könne nicht von seiner Vergangenheit lassen, so die These des Autors.
An der Retromania-These interessant ist darüberhinaus: dass der Pop überhaupt eine Vergangenheit hat. U.a. als „short-term solution“ und „easily forgotten“ hatte der Künstler Richard Hamilton die Pop Art definiert; seine berühmte Collage „Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?“ fungierte als Poster für die Ausstellung „This is tomorrow“, die 1956 in London zu sehen war und als initial für die Pop Art gilt; die Künstlerinnen und Künstler, die hier einem europäischen Nachkriegspublikum U.S.-amerikanische Massenkultur als das zukünftige bessere Leben präsentierten, orientierten sich etwa an den futuristischen techno-Entwürfen Buckminster Fullers. Das Idealbild einer Zukunft wurde präsentiert, in der sich das Alltagsleben ohne weiteres durch Konsum und Technik attraktiv und angenehm wird ausstaffieren lassen; die Gestaltung der Zukunft sollte zu einer Aufgabe des Designs werden, und designed wurde der Lifestyle.
Mit dem Pop verkehrte und verkeilte sich der Zukunftsbezug kapitalistischer Kultur merkwürdig: Unter dem Vorzeichen von Pop wurde Kultur zum „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ (so der Titel eines Films von Alexander Kluge, 1985) – die popkulturelle Gegenwart antizipierte das Zukünftige in unzähligen Rock ’n’ Roll-Varianten einer Wiederkehr des ewig Gleichen; die Zukunft wurde zur neusten Mode, die Vergangenheit zum Unmodernen, Altmodischen.
In der Popvariante schoss die Moderne stets über sich hinaus; allein mit Mitteln des Pop konnte sie nicht halten, was sie allein mit Mitteln des Pop versprach: das bessere Leben. Als Geschichte sedimentierte sich so eine Vergangenheit des Pop – eben das, was die Generationen, die in den 50ern, 60ern, 70ern ff. ihre Jugend hatten, als gelungene („gute“, „schöne“, „wilde“) Zeit erfahren hatten (oder meinten, erfahren zu haben, und „ihre Jugend“ eben derart stilisierten); dabei blieb gerade in der Direktive der Jugend der Pop stets auf die Zukunft gerichtet: „Jede Jugendbewegung stellt sich als Darlehen auf die Zukunft dar und versucht, es vorzeitig einzulösen, aber wenn es keine Zukunft gibt, sind alle Darlehen gestrichen.“ (Greil Marcus, „Lipstick Traces“, Hbg. 1996, S. 17) Dass es keine Zukunft gibt, dämmerte gerade den jungen Leuten: im Schatten der verlorenen Revolten von Achtundsechzig wie auch im drohenden Vorschein des Neoliberalismus Thatchers und Reagans. In der Bundesrepublik, in der dann die Ära Kohl begann, mit Bitburg, Historikerstreit etc., wurden dann die sogenannten Sponti-Sprüche beliebt: „Die Welt geht kaputt! – Gehst Du mit?“ und dergleichen. In den 1980ern waren das bereits die Ausläufer des Punk, zumindest in der Variante von den Sex Pistols oder The Clash.
„No Future!“ skandierten die Sex Pistols – als Schlussrefrain von „God save the Queen“ 1977. BBC und andere Radiostationen weigerten sich, den Song zu spielen. Heute rangiert der Hit auf Platz 175 in der Liste der „500 Greatest Songs of All Time“. Auf dem Album „Combat Rock“, das The Clash 1982 veröffentlichten, ist hingegen zu lesen: „The Future is unwritten“, die Zukunft ist ungeschrieben. – Eine radikale Konsequenz aus dem „No Future!“: Mit der bisherigen Geschichte wird es keine Zukunft geben; sie muss erst noch geschrieben werden.