Homestory von Severin Heilmann
Katastrophen interessieren mich nicht. Ihre unentwegten Spülgänge durch die mediale Kanalisation haben irgendwann meinen Sinn für das Großartige und Schreckliche daran zugeschlämmt. Dieses Allerlei an täglichem Unglück, wie es uns flutet und wie wir es gleich wieder runterlassen müssen, hat mich nie ergriffen. Wahrscheinlich hat das auch mit der eigenartigen Unverhältnismäßigkeit der Form zu ihrem Inhalt zu tun: Im Radio verliest der Sprecher die unvorstellbarsten Widerwärtigkeiten im selben sachlichen Tonfall, in welchem er uns gleich darauf mit den Wetteraussichten bekanntmacht. Er moderiert mir allweil das Unfassbare zu einer lauen, unbedenklichen Brühe portionierten Elends herunter. Das ist doch völlig reizlos! Nie steht irgendetwas ernstlich in Gefahr, nie ist die Lage aussichtslos. „Fürchte dich nicht, wir kriegen das schon wieder hin“ – das ist die unverhohlene Frohbotschaft, die unterschwellig mitströmt, und froh wird tatsächlich, dessen unbeirrbarer Glaube an die gewaltigen Reparaturkünste irgendwelcher Expertenstäbe immer noch nicht angekränkelt ist.
Vor zwei, drei Jahren hat sich aber dann doch unerwartet diese sehr eigene Ergriffenheit eingestellt, die einem nur selten und meist in ungeschminkt totalitären Umständen begegnet, vielleicht in meiner Kindheit zuletzt oder in einem Traum. Diesmal im Kino: Ich schaue Lars von Triers Melancholia. Hier wird gar nichts wieder gut. Das steht gleich zu Beginn fest und erleichtert ungemein: Zur Tristan-Ouvertüre geht in endlos langen slow-motion-Sequenzen und in atemberaubender Schönheit die Welt gleich vorweg unter, dergestalt, dass sie vom Titel gebenden Exoplaneten Melancholia einverleibt wird; zärtlich und liebevoll – ein kosmischer Kuss, Vereinigung, Untergang – nie zuvor ging mir diese Musik unter die Haut. Sie ist mehr als suggestive Untermalung, denn überhaupt gibt sich der Plot selbst als Tristan-Adaption zu erkennen, was aber eine eigene und wenn möglich: die eigene Erkundung der reichhaltigen und eigenwilligen symbolischen Ausstattung des Films keineswegs ersetzen mag.
Was mich jedoch eigentlich so erschüttert hat, war die Präzision der Entlarvung der alten formidablen Lüge, der Lüge schlechthin: dass alles gut wird und vor allem: dass es immer einen Weg dorthin gibt. So verkommen etwa die Machtgeplänkel der Hochzeitsgesellschaft vor dem Hintergrund der totalen Auslöschung immer mehr zur Farce, zum Jahrmarkt der Eitelkeiten; Claire, die rationale und realistische Schwester der Protagonistin Justine, verzweifelt an der letztendlichen Nichtigkeit ihrer, unserer lächerlichen Mittel-Zweck-Kalkulationen; jegliche Anstrengung, die im Hinblick auf eine Lösung unternommen wird, muss notwendig irregehen. Hingegen scheint Justine, die anfänglich in rätselhafte Depression versunkene Braut, immer gelassener, gelöster, präsenter und wacher zu werden, je näher Melancholia der Erde kommt.
Was sich im Film so plastisch darstellt, steht jedem von uns noch ganz unspektakulär bevor – alles zerfällt irgendwann. Die Frage die mich nicht mehr loslässt: Wie kann ich mit dieser Gewissheit umgehen? Wie kann ich, das Ende vor Augen, tief ins Leben einwurzeln (wollen)? Leben, als wär dieser Tag mein letzter – oder einer von unendlich vielen? Die erleichternde Ratlosigkeit, mit der man am Ende (des Films) entlassen wird, gibt vielleicht einen Hinweis auf eine uneinbringlich bleibende Antwort: Der Augenblick ist alles, was wir haben, darin ist nichts, das einer Verbesserung bedürfte. Jedenfalls lebt es sich bedeutend leichter, hat man erst einmal die Apokalypse hinter sich. Selbst Adorno konnte im Tristan noch Tröstliches entdecken: „Indem es die Angst des hilflosen Menschen ausspricht, könnte es den Hilflosen, wie immer schwach und verstellt, Hilfe bedeuten, und aufs neue versprechen, was der uralte Einspruch der Musik versprach: Ohne Angst leben.“