Sozialpolitik hat wie Politik überhaupt ihre besten Zeiten hinter sich. Die Spielräume werden enger und ihre Parolen fahler. Sozialpolitik fällt zur Gänze in den Rayon der Immanenz. Permanent soll repariert werden, was das System an Mensch und Stoff bedroht und schädigt. Sozialkämpfe verkommen in aussichtslosen Abwehrgefechten, die mürbe machen und sich kaum noch gegen die immer neuen Zumutungen „der Märkte“ behaupten können. Natürlich, solange bürgerliche Verhältnisse herrschen, kann man auf Sozialpolitik wie Politik nicht einfach verzichten. Es ist aber doch etwas anderes, ob man sich negativ oder positiv darauf bezieht.
Sozialpolitik denkt das Soziale in der Form von Geld und Recht, ihre Ziele sind Umverteilung und Sicherheit, kurzum die Etablierung eines Sozialstaats. Materielles Zukommen transportiert sich als Geldleistung oder Verbot respektive Gebot. Sozialpolitik meint das unermüdliche Ausbessern und Mildern der Folgen bei völliger Akzeptanz der bürgerlichen Formprinzipien. Sozialkritik hingegen macht diese Form selbst zum zentralen Gegenstand ihrer Analyse und Forderungen. Sie will nicht Feuerwehr sein, sondern Treibsatz. Ihr Trieb ist die Transformation.
Sozialpolitik will Sicherheiten innerhalb der Unsicherheiten bauen, Sozialkritik die soziale Unsicherheit überhaupt abschaffen. Um uns nicht misszuverstehen: Ein angstfreies Leben kann es nie geben. Die Furcht vor Krankheit und Schmerz, vor Unfällen und Unglücken, oder gar vor dem Sterben, kann nicht überwunden werden. Die Angst jedoch zu verhungern oder zu verelenden, die ist sehr wohl zu beseitigen, weil sozial gemacht. Sozialkritik dient dieser Intervention. Angestrebt wird ein kollektiver sozialer Halt, eine gemeinschaftliche Fürsorge, die außer Frage steht. Diese Fürsorge ist allerdings nicht an ein Äquivalent einer Vorsorge gekoppelt, sie ist frei von Paternalismus und jedweder Bevormundung. Zuwendung und Mitgefühl, Pflege und Stütze stehen uns zu. Als Menschen. Bedingungslos.
Sozialkritik fragt nicht nach Finanzierbarkeit. Wenn menschliches Wohlergehen, selbst bloßes Überleben und der Schutz unserer Umwelt als Kostenfaktoren firmieren, wenn der Ausbau oder auch nur Erhalt erreichter Standards sich erst rechnen müssen, führt sich deren Abhängigkeit von gelingender Wertverwertung ad absurdum, nicht der Wunsch nach einem besseren Leben. Nicht das unsoziale, aber oft durchaus marktadäquate Verhalten einzelner, die Verhältnisse selbst sind zu skandalisieren – der Wahnsinn unserer „Normalität“. Im Fokus steht der Realismus einer Gesellschaft, nach deren Rationalität wir noch am Nötigsten sparen sollen und ansonsten die Augen verschließen vor den großen Miseren bürgerlichen Daseins. Sozialkritik erkennt die eigene Not und die des Gegenübers. Mit Blick auf das scheinbar Utopische setzt sie auf die Möglichkeiten und den Einfallsreichtum unserer Spezies, deren Experimentierlust und Improvisationsgeschick und vor allem ihr immenses kreatives Potential. Hier gilt es zu schöpfen. Und zwar alle für alle. Es ist genug da und es ist noch mehr möglich.
Sozialkritik will die Akzeptanz des Gegebenen zerstören, sie kennt keine Selbstverständlichkeiten, geschweige denn, dass sie sie anerkennt. Nichts hat zu bleiben, allein weil es so ist. Die Zwänge marktwirtschaftlicher Konkurrenz sind ihr kollektive Zumutung, nicht individuelle Herausforderung. Als Selbstkritik fordert sie zur Distanzierung von der eigenen Charaktermaske auf und zur Beseitigung geschlechtlicher wie sonstiger Etikettierungen. Ein Sensorium für Privilegien, die unsereins genießt, gehört dazu ebenso wie das Aufzeigen von Diskriminierung, gerade auch vonseiten nicht direkt Betroffener. Strukturelle und persönliche Gewaltverhältnisse müssen aufgedeckt und eliminiert werden. Fixe Zuordnungen sozialer Rollen hat es nicht zu geben. Eine Schublade ist kein menschenwürdiges Habitat.
Sozialkritik führt weg von den einschlägigen, aber defensiven Forderungen wie „Verteidigt die…!“, „Hände weg von…!“, „Nein zu…!“, aber ebenso weg von den ewigen Komparativen des Mehr vom Gleichen: „Mehr Lohn!“, „Mehr Gerechtigkeit!“, „Mehr Urlaub“, „Mehr Konsum“ und erst recht vom gänzlich ideen- wie trostlosen Gerede von Wachstum und Beschäftigung. Es geht ihr nicht vorrangig um Mitbestimmung und Demokratisierung der Arbeitswelt. Es geht um die Überwindung des Systems der Arbeit. Sozialkritik ist daher ein Versuch, den Klassenstandpunkt zu überwinden. Nicht die Rekonstitution des Klassenbewusstseins ist gefordert, sondern ein Fühlen, ein Denken, ein Tun wider die normierten und absehbaren Schicksale. Alle sozialen Schranken sind als nichtig zu erkennen und einzureißen. Jetzt!
Sozialkritik dechiffriert die bürgerlichen Verhältnisse als Konsequenz einer blinden Dynamik. Ware und Geld verlangen Ergebenheit unter ihre eigenen Gesetze. Diesem Frondienst wollen wir uns entziehen, nicht nur klammheimlich, hin und wieder, sondern kategorisch. Mit dem guten Leben verträgt sich kein strukturelles Diktat, mit freier Assoziation, mithin der bewussten Absprache und Auseinandersetzung über die gemeinsamen Belange, ist es gänzlich unvereinbar. Freiheit kann nur jenseits fetischistischer Zwänge liegen. Nicht unterworfen zu sein, nichts und niemandem, darum geht es. Das gute Leben ist machbar.
Alles, was darunter zu machen ist, begeistert uns kaum. Der Sozialstaat war stets eine fragile Notlösung, nicht mehr. Die Zeit der Notoperationen geht jedoch zu Ende, sie sind, wie das Wort nahelegt, nur Operationen (in) der Not. Sie lösen nichts und perpetuieren alles. Sie beschränken unser Denken auf das, was im kapitalistischen Selbstzweckgetriebe gerade noch für uns abfällt. Sporadische Sozialkämpfe erscheinen fast schon als das „Rette-sich-wer-kann“ der noch verbliebenen Stärkeren. Anstatt über die reichhaltigen materiellen und ideellen Portionierungen zu reden, streiten wir noch immer über die adäquaten Proportionierungen entlang der Verwertungsschiene. Perspektive geht im abstiegsängstlichen Kleinklein verloren. Wir sollen das nicht wollen.