Streifzüge 64/2015
von Nikolaus Dimmel
Sozialkritik ist als Parteinahme eben nicht nur Gesellschaftskritik. Ansonsten wäre Sozialkritik lediglich Kritik an Armut, destruktivem privatem Reichtum und ideologischen Falschmeldungen. Sozialkritik kann nicht bloß von Sozialstruktur, Vermögens- und Einkommensverteilung oder Denkweisen sprechen. Denn die Institutionen und Praktiken einer kapitalistischen Extraktions- und Aneignungsökonomie lassen sich nicht abgeschichtet von ihren gesellschaftlichen Entsprechungen denken. Wer also Institutionen, Praktiken und Verkehrsformen kritisiert, kann dies nicht, ohne die Produktionsverhältnisse, das ihnen zugrunde liegende Privateigentum, Lohnarbeit und Kontrakt in den Blick zu nehmen.
Sozialkritik ist notwendigerweise ebenso analytisch wie normativ und nicht-affirmativ. Sie ist analytisch, weil sie eine Theorie der Gesellschaft, ihrer Konstitution und Reproduktion voraussetzt. Und sie ist normativ, weil sie sich anschickt, das Kritisierte abzuschaffen (Revolution) oder zu modernisieren/verbessern (Reform), also nicht bloß zu bewahren (wodurch eine konservative Position beschrieben ist). Insofern ist Sozialkritik per se kein „linkes“ Diskursprojekt.
In Abgrenzung zur bloßen Nörgelei verfügt Sozialkritik über utopisches Potential. Dieses Potential erschließt sich einerseits aus der Frage, was „gerecht“ oder „angemessen“ ist, andererseits aus Vorstellungen eines guten individuellen und (!) kollektiven Lebens. Diese finden sich etwa bei Marx’ Bild, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Sie finden sich in jenen Debatten, in denen Demokratie jenseits des Repräsentativen gedacht wird, ebenso wie in den Diskursen über die Befreiung von Lohnarbeit als falscher Arbeit durch ein bedingungsloses Grundeinkommen. In derlei Ansätzen wird auch deutlich, dass der normative Anspruch der Sozialkritik regelhaft mit dem Gebrauch ideologischer Fixationen einhergeht.
Nicht erst seit Pierre Bourdieus „Gegenfeuer“ lässt sich linke Sozialkritik konzeptionell nicht mehr von sozialer Veränderungspraxis trennen. Der „Neopragmatismus“ versteht Sozialwissenschaften überhaupt als Sozialkritik, weil sich Soziologie im neoliberalen Regime unausweichlich mit der dramatischen Verschlechterung der Lebensrealität eines Großteils der Bevölkerung, mit Armut, Ausgrenzung und Polarisierung zu befassen hat. Derlei Sozialkritik ist folglich immer Kritik an der Ungerechtigkeit und damit ein reformistisches Programm zur Änderung von Verteilungsrelationen. Anders Marx, der Kritik an jenen Verhältnissen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, mit dem Ziel ausgearbeitet hat, diese Verhältnisse „umzuwerfen“. Marx’ Ausführung in den Thesen über Feuerbach, dass es darauf ankommt, die Welt zu verändern (und nicht bloß zu interpretieren), spiegelt sich ansatzweise in den sozialen Widerstandspraktiken von Occupy-Wallstreet bis hin zu Podemos. Hier verstehen sich Protest und Widerstand unmittelbar auch als Sozialkritik an herrschenden gesellschaftlichen Ordnungen. Noch ist nicht ausgemacht, wann und wie genau der kapitalistische Metabolismus und sein Fossilismus ebenso wie die Landnahme durch das Finanzkapital an ökologische und stoffliche Grenzen stoßen werden. Ob aber an diesem „Cliffhanger“ eine „prometheische Revolution“ (Elmar Altvater) ein neues (biotechnologisches) Akkumulationsregime hervorbringt, die Verhältnisse mit offenem Ausgang umgestürzt werden oder ob das an seine Verwertungsschranken gestoßene überakkumulierte Kapital eine dystopische Wende hin zur autoritären Verwertung der Körper als dem letzten Areal der Landnahme einleitet (von der infantilen Idee einer Besiedelung des Weltraums abgesehen), ist Geschichte, die kollektiv „gemacht“ wird.
In eben dieser Geschichte fungiert Sozialkritik als Gegenpol zur hegemonialen Praxis der politischen, medialen und akademischen „Blödmaschinen“ (Metz/Seeßlen). Folgerichtig geht es der Sozialkritik auch darum, den affirmativen Block dienstbarer Symbolagenten und Lohnschreiber in Think Tanks, Universitäten, Fachhochschulen oder Medien zu attackieren. Sozialkritik nimmt dabei nicht notwendigerweise akademische Form an. Der „Outcome“ von Michael Glawoggers „Workingman’s Death“ oder der Photographien Sebastiao Salgados zur Arbeitswelt der Subalternen („Workers“) ist definitiv höher als Regalmeter arbeitssoziologischer Literatur.
Doch so eindeutig kommt eine linke Sozialkritik dann doch nicht davon. Denn im kulturellen und ökonomischen Code eines hegemonialen Kapitalismus (tatsächlich kann sich kaum noch jemand eine Systemtransformation vorstellen) benötigt das Kapital die Sozialkritik, um seine „Performance“ zu optimieren und dem überakkumulierten, Verwertung heischenden (Finanz)Kapital neue Märkte zu erschließen: Entschleunigung, „cradle-to-cradle“-Nachhaltigkeitskonzepte, Jazz, Umweltbewegung, Cyberpunk, biologischer Landbau, Neorealismus oder „decent work“-Modelle: das Kapitalverhältnis hat all diese dissidenten, implizit oder explizit Sozialkritik übenden und inkorporierenden Diskurse und Bewegungen metabolisch absorbiert, verdaut und in Form von Waren wieder ausgeschieden. Ebenso, wie es kein richtiges Leben im falschen gibt, gibt es keine Sozialkritik, welche die herrschenden Verhältnisse zum Tanzen bringt, wenn diese vor den Orten der Wertschöpfung Halt macht.
In letzter Instanz zielt alle Sozialkritik auf die Entschleierung von Herrschaftsverhältnissen, die Entfesselung emanzipatorischer Potentiale sowie die Bemächtigung („Empowerment“) der Subalternen. Damit steigen – so wie sich das Extraktions- und Ausbeutungsverhältnis globalisiert – auch die Anforderungen an eine Sozialkritik, welche ihrem Gegenstand gerecht wird. Sozialkritik ist heute notwendigerweise globalisierte Kapitalismuskritik, sobald es ihr um ein gutes Leben für alle, um Bedürfnisentsprechung, um die Optimierung der Möglichkeiten aller bei Entledigung jedweder sozialen Drangsalierung, um materielle und soziale Teilhabe und um die Gleichheit der Chancen für alle geht, „ihr Ding zu machen“.