Das Wichtigste beim Österreichischen Staatsvertrag sind seine Mythen. Die freilich verblassen
von Franz Schandl
Nach 1945 war Österreich ein halbautonomes, von vier Besatzungsmächten kontrolliertes und aufgeteiltes Land, das sich nichts sehnlicher wünschte als die Besatzung loszuwerden. Die Verhandlungen darüber schleppten sich viele Jahre hin und zeitigten keine greifbaren Ergebnisse. Zum Schluss ging es allerdings sehr rasch. Ende März 1955 lud der sowjetische Außenminister Molotow zu Verhandlungen nach Moskau. Vor die Alternative „Status quo oder Neutralität“ (Kreisky) gestellt, entschieden sich die österreichischen Verhandler Julius Raab (Bundeskanzler, ÖVP), Adolf Schärf (Vizekanzler, SPÖ), Leopold Figl (Außenminister, ÖVP), und Bruno Kreisky (Staatssekretär, SPÖ) für die Neutralität.
Mit der „immerwährenden Neutralität“ nach Schweizer Vorbild versuchten die Sowjets auch einen Riegel gegen jedweden Anschlussgedanken einzubauen. Das zu akzeptieren fiel der österreichischen Politik nicht schwer, war doch die Lust wieder deutsch zu werden in der Zweiten Republik sowieso um vieles geringer als in der Ersten. Die österreichischen Politiker wollten die Teilung des Landes auf jeden Fall verhindern. Zur Erfolgsgeschichte ist die Neutralität aber erst späteren Datums geworden. 1955 war sie weniger einem nationalen Konsens geschuldet als einem internationalen Kompromiss. Dass sie zum Symbol einer staatstragenden Identität aufsteigen sollte, war vor 60 Jahren nicht intendiert. Österreich hat sich also trotz vielen anders lautenden Gerüchten und Mythen nie offensiv für die Neutralität ausgesprochen, sie aber als Preis für den Staatsvertrag akzeptiert. Bis zum Schluss der Moskauer Gespräche im April wollte Kreisky den Begriff “Neutralität“ durch den der “Allianzfreiheit“ im Vertragstext ersetzt wissen.
Insgesamt hat man auch nicht schlecht verhandelt, wenngleich die Russen nicht (wie ein omnipräsentes Staatsmärchen erzählt) unter den Tisch gesoffen wurden. So konnte ein rascher Abzug der fremden Truppen vereinbart werden, die österreichischen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten in der Sowjetunion sollten freigelassen werden und auch ökonomisch kam die Republik mit einem blauen Auge davon. Die zu erlangende Souveränität bei Wahrung der staatlichen Einheit war der österreichischen Diplomatie jedenfalls wichtiger als eine militärische Anbindung an den Westen, die zur Zweiteilung des Landes nach deutschem Muster geführt hätte.
Als letzten (durchaus zweifelhaften) Erfolg verbuchte Leopold Figl die Streichung einer Klausel der Moskauer Deklaration von 1943, in der Österreichs Verantwortung am Nationalsozialismus und am Zweiten Weltkrieg erläutert wurde, aus der Präambel des Staatsvertrags. Damit wurde freilich Österreichs Mitschuld eliminiert und die Alpenrepublik konnte – und zwar mit ausdrücklicher Tolerierung der Alliierten – vom Status des Täters zu dem des Opfers, wechseln. So gerierte man sich auch. Diese These war immer anfechtbar und ist inzwischen nicht mehr aufrechterhaltbar. Staatlicherseits spricht man heutzutage von „Mitverantwortlichkeit“, eine Formel, die typisch österreichisch besagt, dass man schon etwas damit zu tun hatte, aber wiederum auch nicht so recht. Es ist einer dieser schlampigen Schlenker.
In seinen Erinnerungen nannte Kreisky Nikita Chruschtschow als den „großen Mann im Hintergrund, der in den Verhandlungen selbst nicht in Erscheinung getreten ist “, der mit der Lösung der österreichischen Frage ein Zeichen der Entspannung setzen wollte und auch bereit gewesen ist, jene nicht mehr mit der deutschen zu junktimieren. Molotow, der die Verhandlungen führte, war ursprünglich gegen einen Rückzug aus Österreich gewesen. Am 15. Mai 1955 wurde der Staatsvertrag im Wiener Schloss Belvedere unterzeichnet und am 7. Juni vom österreichischen Nationalrat, und das mit den Stimmen aller vier Parlamentsparteien, genehmigt.
Wenig Begeisterung gab es in Westdeutschland. Konrad Adenauer schimpfte über „die ganze österreichische Schweinerei“. Laut dem Wiener Historiker Gerald Stourzh war der deutsche Kanzler vor allem aus zwei Gründen schwer verärgert: „einerseits wegen der österreichisch-alliierten Einigung in der Frage des Deutschen Eigentums, und andererseits wegen Österreichs neuen Neutralitätsstatus und der Angst vor der Bildung eines Neutralitätsgürtel in Europa.“ Der deutsche Gesandte und spätere Botschafter in Wien, das ehemalige NSDAP-Mitglied Carl-Hermann Mueller-Graf sprach gar von „einer Clique von einigen scharfen Sozialisten und antideutschen Ultra-Konservativen, welche zur Zeit bemüht ist, den Anlass dazu auszunützen, um den erwünschten historischen Trennstrich so scharf als möglich zu ziehen.“ Adenauer war ein vehementer Gegner des österreichischen Staatsvertrags, da er fürchtete, das neutrale Österreich könnte Vorbild für eine gesamtdeutsche Lösung werden. Der deutsche Kanzler stand hier auch in Widerspruch zu den Westalliierten, die sich mit der Neutralität abgefunden haben, obwohl sie unmittelbar die Position der NATO schwächte, da der Westen Österreichs fortan nicht mehr militärisch für sie nutzbar gewesen ist.
Für einige Monate blieb das deutsch-österreichische Verhältnis auch schwer getrübt. Die Statements in bundesdeutschen Zeitungen waren größtenteils reserviert bis ablehnend. Der Rheinische Merkur fürchtete die „kalte Boslschewisierung des Kontinents“: „Molotow spielt dieses Spiel mit gezinkten strategischen Karten. Er rechnet darauf, dass im Zeichen der atomaren Waffen die Wiener Lösung allerorts als gesamteuropäisch verwendbares Modell einleuchten werde.“ Auch die Neue Zürcher warnte: „Man sieht sich der Gefahr bewusst, dass eine Neutralität Österreichs im Konflikt zwischen dem Osten und dem Westen die kommunistische Infiltration begünstigt und überhaupt zu einer merkwürdigen Verschiebung der geistigen Fronten in diesem Land führen kann.“
Gerade das war aber nicht der Fall. Julius Raab betonte, dass mit der „immerwährenden Neutralität“ des Staatsvertrags „keine Verpflichtung zur ideologischen Neutralität begründet“ sei. Auch Kreisky trennte strikt in „Neutrale und Neutralisten“. Neutralität war nicht Neutralismus, der Antikommunismus blieb unangefochten Staatsräson, ja er verschärfte nach diesem erfolgreichen Abschluss sogar den Ton und bestimmte die politische und mediale Haltung für die nächsten Jahrzehnte. Die KPÖ als dezidierte Verfechterin der Neutralität, wurde Opfer dieser Entwicklung und flog 1959 endgültig aus dem Nationalrat. Österreich stand so politisch nicht zwischen den Blöcken, sondern nur militärisch außerhalb von ihnen.
Die immens bedeutende Chiffre 1955 unterstellt, dass der entscheidende Durchbruch für das neue Österreich der Staatsvertrag von 1955 gewesen ist und nicht die Niederlage des Dritten Reichs 1945. Wer in den Sechziger und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Schulbank drückte, der sollte über 1945 nichts und über 1955 alles erfahren. Das „alles“ hatte natürlich seinen spezifischen Charakter, war geprägt von Erzählungen und Auslassungen, die jedoch allesamt darauf hinausliefen, Österreich als kleines und armes Opfer finsterer Zeiten und dunkler Mächte zu sehen, wobei die dunkelste Macht stets die Sowjetmacht gewesen ist. Diese negative Referenz verdeutlicht auch der 26. Oktober als Staatsfeiertag. An dessen Vortag haben im Jahr 1955 die letzten Truppenkontingente der Roten Armee das Land verlassen.
Langsam aber deutlich ändert sich jedoch die historische Sichtung. Der aktuelle Umbau des Staatsmythos ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sich die Befreiung von 1955 Richtung 1945 verschiebt. Es gilt den Narrativ zu adaptieren, Geschichte wird neu arrangiert. Irgendwann einmal wird sich als Erinnerung durchgesetzt haben, dass nie etwas anders vertreten wurde. In jedem Jubiläum feiert sich die Gegenwart durch einen Verweis auf die ihr genehme Sicht der Vergangenheit. Was gestern noch stimmig gewesen ist, muss heute aber nicht mehr stimmen. Die alten Mythen haben ausgedient, vor allem deswegen, weil sie in der neuen internationalen Konstellation weder nötig noch brauchbar, ja ab und zu sogar ausgesprochen schädlich sind. Der Fixstern 1955 ist jedenfalls im Verlöschen.