Zum Gedenken an Robert Kurz
von Götz Eisenberg
Unter vorkapitalistischen Zuständen bildeten Lebenszusammenhang und Produktion eine Einheit. Werkstatt, Hof, landwirtschaftlicher Jahreszyklus, Personenkreis der Großfamilie, zu der Verwandtschaft und Gesinde gehörten, stellten einen integrierten Zusammenhang dar. Libidinöse Beziehungen und Arbeitsbeziehungen waren wie zu einem Zopf verflochten. Solange man überwiegend für den eigenen Bedarf produzierte und Gebrauchswerte herstellte, herrschte ein aufgabenbezogener Arbeitsrhythmus und eine entsprechende zyklische Zeitstruktur. Kontakt- und Geselligkeitsbedürfnisse, Kranken- und Altenpflege, Kinderaufzucht mischten sich in die Arbeitsvollzüge ein und unterbrachen sie, der Arbeitstag verkürzte oder verlängerte sich je nach zu erledigender Aufgabe und Jahreszeit. Zahllose Feste und Feiertage lockerten das Arbeitsjahr auf und sorgten für periodische Enthemmungen und Entregelungen der Sinne. Es herrschte ein Wechsel von höchster Arbeitsintensität und Müßiggang. Ein und derselbe Mensch ging im Laufe eines Tages ganz verschiedenen Tätigkeiten nach, deren Insgesamt er trotz aller punktueller Mühsal und Plage nicht als „Arbeit“ empfand. Es war einfach seine Lebensweise. Das bäuerliche Leben hatte trotz aller materiellen Armut, Not und Abhängigkeit von weltlichen und kirchlichen Herren seine eigenen Werte und seine Würde. Trotzdem lebten die Menschen natürlich nicht in einem goldenen Zeitalter, sondern, wie der italienische Filmemacher und Schriftsteller Pasolini schrieb, in einem „bitteren Zeitalter des Brotes.“ Solange die menschlichen Tätigkeiten noch nicht der ökonomischen Rationalität und ihrem rechnerischen Kalkül unterlagen, waren sie noch keine „Arbeit“, sondern fielen mit Zeit, Bewegung und Rhythmus des Lebens selbst zusammen. Es herrschte das, was der englische Historiker Edward P. Thompson als „moralische Ökonomie“ bezeichnet hat. Diese kannte die Kategorie des „Genug“ und besaß präzise Vorstellungen davon, was ein gerechter und angemessener Preis für lebenswichtige Dinge war. Mehr zu produzieren, als man zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse benötigte, erschien sinnlos und galt darüber hinaus als unmoralisch. Die Produktion und der gelegentliche Tausch waren eingebunden in tradierte Formen von Sittlichkeit und religiös geprägten Vorstellungen vom richtigen Leben. Unter solchen Bedingungen hätten sich eine kapitalistische Gesellschaft und das, was man betriebswirtschaftliche Rationalität oder ökonomische Vernunft nennt, nicht entfalten können. Oder mit den Worten von Michel Foucault: „Denn das Leben und die Zeit des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Lust, Unstetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Energie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren.“ Diesen Vorgang kann man als größtes verhaltensmodifikatorisches Experiment aller Zeiten und weltgeschichtlichen Dressurakt betrachten, die dann gelungen sind, wenn die Peitsche des Aufsehers nicht mehr nötig ist und die Menschen ihr kapitalverwertendes Unglück als eigene Erfüllung erleben.
Der „soziale Urknall“ (Klaus Dörner) der industriellen Revolution hat um das Jahr 1800 herum die Einheit der agrarischen und handwerklichen Hausgemeinschaft auseinandergesprengt. „Sozialer Urknall“ ist natürlich eine Metapher, die die explosive Kraft des Vorgangs zum Ausdruck bringen soll. In Wirklichkeit war die industrielle Revolution ein Prozess, der sich über Jahrzehnte hinzog und bis heute nicht zum Abschluss gekommen ist. Die Einheit der Hauswirtschaft wurde im Wesentlichen in drei Teile zerrissen: das Wirtschafts- und Produktionssystem, das Sozialsystem und die Kleinfamilie. Diese Explosion und die von ihr ausgelösten, bis in die Gegenwart spürbaren Nachbeben nennen wir Moderne. Sie löste die Ökonomie aus den Zusammenhängen, in die sie zuvor eingebettet war, heraus. Die Fabrik- oder Manufaktur-Arbeit war von allen Beimischungen befreite, reine Arbeitszeit und wurde in der Folgezeit in Kombination mit der Maschinerie zur Quelle einer stetig wachsenden Produktivität. Diesen Vorgang hat der englische Soziologe Anthony Giddens als disembedding, Entbettung, bezeichnet, der ungarisch-österreichische Historiker Karl Polanyi sprach von einer „herausgelösten Ökonomie“. In einem kleinen luziden Text, den er „Der Sieg der Ökonomie über das Leben“ betitelt hat, bezieht sich Robert Kurz auf Polanyi und beschreibt den Vorgang des Herauslösens wie folgt: Erst als aus den Zusammenhängen des Lebens „herausgelöste“ konnte sich die Ökonomie von den ihr auferlegten Begrenzungen befreien und zu einer anonyme Märkte beliefernden Warenproduktion werden, deren Ziel nicht länger die Bedürfnisbefriedigung ist, sondern die Vermehrung des zum Kapital mutierten Geldes. Soweit es zuvor Warenproduktion gab, blieb das Geld auf die Rolle eines Mediums beschränkt: Es stand in der Mitte zwischen zwei qualitativ verschiedenen Waren als bloßes Tauschmittel. Die moderne Ökonomie dagegen basiert auf der Verwandlung des Geldes aus einem Medium in einen Selbstzweck. Das Verhältnis von Ware und Geld hat sich verkehrt: Die Ware steht in der Mitte zwischen zwei Erscheinungsformen der gleichen abstrakten Form „Geld“. Diese Operation macht natürlich nur Sinn, wenn am Ende eine größere Summe Geld als am Anfang steht. Das Geld als flüchtige Erscheinungsform des Wertes hat sich in Kapital verwandelt, das sich selbst vermehrt. Zweck der Produktion ist die Anhäufung von Gewinn in Form des Geldes. Erst durch diese neue ökonomische Logik konnte eine Marktwirtschaft entstehen, in der am Profit orientierte Unternehmen miteinander konkurrieren und alle Menschen davon abhängig werden, dass sie Geld verdienen. Das Geld verselbständigt sich zum Selbstzweck und Fetisch der Moderne. Der Druck der Konkurrenz sorgt dafür, dass jedes einzelne Unternehmen gezwungen ist, bei allen Entscheidungen der Rationalität des Geldes zu gehorchen. Das nennt man Marktwirtschaft. Deren Grundregel bekam der junge Walter Kempowski von seinem Vater in folgender Kurzfassung vermittelt: „Angebot und Nachfrage regele die Wirtschaft, der Schwache werde zerquetscht. Klare Sache und damit hopp!“
Der sinnliche Inhalt der Produktion wird einer abstrakten rein quantitativen ökonomischen Rechnung unterworfen. „Das Geld“, heißt es bei Robert Kurz, „arbeitet wie ein gesellschaftlicher Roboter, der nicht zwischen giftig und ungiftig, schön und hässlich, moralisch und amoralisch unterscheiden kann.“ Marktwirtschaft macht hässlich, die Schönheit der Welt schwindet. Rund 200 Jahre Kapitalismus haben ausgereicht, den Planeten in eine einzige stinkende Müllkippe zu verwandeln und sturmreif zu schießen. Das nennt Kurz den „Todestrieb des Kapitals“.
Nun haben wir nicht seit 200 Jahren „den Kapitalismus“ als fertig entwickeltes gesellschaftliches System, sondern, wie Robert Kurz es ausdrückt, „die Durchsetzungsgeschichte dieser Produktionsweise, die erst heute … zum totalen Weltverhältnis geworden ist.“ Das Kapital, zunächst nur ein Segment der Gesellschaft, fraß sich von Produktionszweig zu Produktionszweig voran. Im Zuge der dritten, auf der Mikroelektronik basierenden, industriellen Revolution erreicht die Steigerung der Produktivität durch das Zugleich von Automatisierung, Rationalisierung und Globalisierung eine neue Qualität: Es wird mehr Arbeitskraft überflüssig gemacht, als durch die Erweiterung der Märkte reabsorbiert werden kann. Die Massenarbeitslosigkeit wird zum strukturellen Weltzustand, und die Arbeitslosen sind keine Reservearmee der Arbeit mehr, sondern ein nicht mehr integrierbares Abfallprodukt der in die Abstraktion geschossenen Verwertung des Werts. Der Realkapitalismus ist inzwischen zu einem Anhängsel der von der Finanzindustrie aufgeblasenen Spekulationsblasen geworden. Die Vermehrung des Geldes hat sich von der lebendigen Arbeit weitgehend emanzipiert und funktioniert, ohne den Umweg über die Produktion von realen Gegenständen oder Dienstleistungen zu gehen. Das Geld selbst wird zur einzigen Ware, die die Finanzindustrie mittels immer waghalsiger und immer weniger beherrschbarer Operationen auf dem Finanzmarkt erzeugt.
Rund zweihundert Jahre, nachdem sich die Produktion aus vorbürgerlichen Lebenszusammenhängen herausgelöst und als abstrakte, kapitalverwertende Arbeit verselbständigt hat, durchdringt die Logik des entbetteten Geldes alle Lebensbereiche, und es kommt zu einer pervertierten Wiedervereinigung von Arbeit und Leben. Das vom „sozialen Urknall“ zerrissene und fragmentierte Leben wird wieder ein Ganzes, aber eben ein vollständig kapitalistisch integriertes und von den Imperativen des entfesselten Geldes beherrschtes. Als Francis Fukuyama angesichts des einstürzenden Ostblocks die marktwirtschaftlich verfasste liberale Demokratie zum Sieger der Geschichte ausgerufen und die Geschichte für beendet erklärt hatte, kommentierte Robert Kurz ironisch, die Menschheit sei tatsächlich ins „Nirwana des Geldes“ eingetreten. Die Logik von Ware und Geld triumphiert in allen Bereichen, dringt in alle Poren der Gesellschaft bis in die alltägliche Lebensführung und intimen Binnenwelten der Menschen vor. Diese sind und begreifen sich als lebende Waren, Geldsubjekte. Sie sprechen von sich selbst und ihrer Lebensführung in ökonomischen Termini und streben nach ihrer permanenten warenförmigen Selbstoptimierung. Das Gesicht ist zum Logo ihrer persönlichen Marke geworden, das in den sogenannten sozialen Netzwerken zu Werbezwecken ausgestellt wird.
Die neueste Sumpfblüte der Waren- und Geldgesellschaft: Partnersuche per App. Marktführer bei diesen Dating-Apps ist Tinder, allein in Deutschland nutzen sie zwei Millionen Menschen. Das Programm kann kostenlos runtergeladen werden, die Anmeldung funktioniert nur mit einem Facebook-Profil. Aus diesem zieht sich Tinder die Daten: fünf Profilbilder, Freundesliste, Gefällt-mir-Angaben, Alter, Geschlecht. Via GPS sucht das Programm nach passenden Kandidaten in der Umgebung. … So simpel das System, so simpel die Spielregeln. Nach links wischen heißt „Nein Danke, verschwinde, weg mit dir ins digitale Nirwana.“ Nach rechts wischen bedeutet „Ja, kann was werden, ab in den Warenkorb.“ Das Praktische daran: Ist man nicht erwünscht, gibt es auch keine Benachrichtigung. Wenn sich zwei Nutzer aber gegenseitig nach rechts wischen, ergibt das ein sogenanntes Match – und nur dann kann man miteinander chatten. Diese Form der Beziehungsanbahnung schafft die Furcht vor Zurückweisung ab, sagt der Tinder-Erfinder Sean Rad. Dating-Apps bieten eine Art von Versicherung gegen Ablehnung. Bei Amazon einkaufen, bei Tinder einen Partner suchen. So läuft das heute. Warum sollte eine Gesellschaft, die alles und jedes in eine Ware verwandelt, vor der Intimsphäre halt machen? Die Mentalität des Tausches und der Austauschbarkeit findet die ihr gemäße Technik. Und Big Brother ist natürlich bei diesen Treffen immer mit von der Partie, aber die Leute haben ja, wie sie beteuern, „nichts zu verbergen“. Leute, die nichts zu verbergen haben, tun mir leid. Das Bemerkenswerteste an der schönen, neuen digitalen Welt ist, dass sie es fertig bringt, dass man in der Hölle lebt und diese Hölle gleichzeitig für den Himmel hält. Die Leute erleben ihre Totalerfassung und –kontrolle als intimste ihrer Leidenschaften. Sie stehen Schlange, um ihren Kopf freiwillig unter die Guillotine zu legen, wie es in Dave Eggers‘ Roman Der Circle heißt.
Eine Gesellschaft, deren einzige Imperative die der Bereicherung, des Konsumierens und Spaßhabens sind, darf sich nicht wundern, wenn die Waren- und Geldsubjekte moralisch verwildern und verwahrlosen und die Rücksichtslosigkeit grassiert. Schon der Aufklärer Helvétius wusste, dass sich aus einer bloß instrumentellen Vernunft kein Argument gegen Raub und Totschlag herleiten lässt. Erlaubt ist, was Nutzen bringt, alles andere ist Metaphysik. Einer vollständig durchkapitalisierten und ökonomisierten Welt wohnt eine Tendenz zu Barbarei und Gewalt inne. Haben wir angesichts der weltumspannenden Gräuel der letzten Monate und Jahre Grund, dieser Prognose von Robert Kurz zu widersprechen? Als ich Anfang des neuen Jahrtausends den Züricher Ethnologen und Psychoanalytiker Paul Parin zu einem Seminar mit Lothar Baier und Robert Kurz nach Italien einlud, schrieb er zurück, er habe die von Robert Kurz in seinem Buch Der Kollaps der Modernisierung vorgetragenen Thesen zunächst für etwas übertrieben und apokalyptisch gehalten, nun aber – nach dem Platzen der Dotcom-Blase und der Serie von Kriegen im ehemaligen Jugoslawien – bleibe ihm nur zu sagen: „Ich fürchte, er hat Recht.“
Statt dass eine zur Vernunft gekommene Menschheit die gigantischen materiellen und intellektuellen Kräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt haben, zur Einrichtung einer freien Gesellschaft einsetzt, wird sie mehr und mehr zum Anhängsel einer losgelassenen Ökonomie. Längst könnte sich die Gesellschaft aufgrund der gestiegenen Produktivität von ihren ökonomischen Zwängen befreien; längst müssten Geist und Körper keine bloßen Werkzeuge im Dienst unlustvoller Verrichtungen mehr sein; längst müsste auf dem Leben nicht mehr die Strafe 8-stündiger täglicher Arbeit oder aufgezwungener Nichtarbeit stehen.
Robert Kurz wurde nicht müde, uns an die Notwendigkeit und Möglichkeit zu erinnern, die wild gewordene Ökonomie zurückzupfeifen und an eine gesellschaftliche Leine zu legen. Der Kapitalismus erweist sich als die Kraft der permanenten technisch-industriellen Revolution. Sein „Werwolfshunger nach Mehrarbeit“ (Marx) treibt ihn zum rastlosen Überschreiten aller Begrenzungen und zwingt ihn zu ständigen Innovationen. In seinem rastlosen Bestreben, seine eigene Logik, die eine Geld- und Kapitallogik ist, auf alle Lebensbereiche auszudehnen, schreckt er auch vor der Zerstörung jener Teile der vorkapitalistischen Vergangenheit nicht zurück, die für seine eigene Entwicklung notwendig waren und sind. Die kapitalistische Gesellschaft der Gegenwart ist dabei, einige der Äste abzusägen, auf denen sie selber sitzt: Sie zerstört nicht nur die natürlichen Lebensgrundlagen, sondern auch die Formen, in denen „Kultur“ – nach der Auflösung des „ursprünglichen Gemeinwesens der agrarischen Hausgemeinschaft“ – sich die menschliche „Natur“ angeeignet hat. Ein gewisses Mindestmaß an familiärer Sozialisation – also an Stabilität und Verlässlichkeit von persönlichen Bindungen und leidlich geglückten Beziehungserfahrungen – scheint unerlässlich zu sein, damit der Mensch seine „psychische Geburt“ (M. Mahler) vollenden und sich zum Menschen entwickeln kann.
All jenen, die für die gegenwärtige Krise die „Gier“ verantwortlich machen, entweder die „Gier“ gewisser Manager oder die „Gier von uns allen“, muss man entgegen halten: Das, was diese Leute in ihrer realitätsgerechten Empörung „Gier“ nennen, ist eine dem Kapital innewohnende Tendenz zur schranken- und maßlosen Plusmacherei, die über weite Strecken der kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte hinter allerhand vorbürgerlichen Residuen oder ihr staatlicherseits aufgezwungenen Begrenzungen verborgen geblieben ist. In dem Maße, wie die Marktwirtschaft sich zur Marktgesellschaft entwickelt und alle Barrieren wegfallen, tritt das kapitalistische Profitprinzip nackt und ungeschminkt in Erscheinung. Die Leute, die der „Gier“ die Schuld zuweisen, halten die gegenwärtige Krise für das Produkt schlechter Charaktereigenschaften einiger Schufte, die sich Manager nennen, und gehen davon aus, wir könnten durch ein paar Korrekturen und „Implementierung“ von ein bisschen Wirtschaftsethik zu den alten Tugenden des „ehrlichen Kaufmanns“ und „seriösen Bankiers“ zurückkehren. Es kursiert innerhalb der Linken seit einiger Zeit die These, man müsse zum „Realkapitalismus“ zurückkehren und könne und müsse seine spekulativen „Fehlentwicklungen“ korrigieren. Man erklärt die Abkehr vom keynesianischen Modell der Regulierung des Kapitalismus zum Sündenfall, den es nun in einer Rückwendung zum sozialstaatlichen Krisenmanagement rückgängig zu machen gelte. Dies hat Robert Kurz stets für eine verhängnisvolle Illusion gehalten. Die Kritik muss viel tiefer ansetzen und die basale Abstraktion, die Wertform der Produkte, in Frage stellen, aus der sich die weitere expansive Entwicklung mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ergibt. Wie eine Frau nicht ein bisschen schwanger sein kann, kann auch eine Gesellschaft nicht ein bisschen kapitalistisch sein. Hat eine Gesellschaft erst mal den Kapitalismus im Hause, wird sie von ihm über kurz oder lang zerfressen und aufgezehrt. Man kann den schlimmsten Auswirkungen des Kapitalprinzips politisch phasenweise etwas entgegensetzen, wenn es in einer Gesellschaft eine starke Arbeiterbewegung oder nennenswerte sonstige Oppositionsbewegungen gibt. „Der Kapitalismus“, hat der österreichische Sozialist Günter Nenning einmal gesagt, „ist nur nett, wenn er muss, und gegenwärtig muss er nicht.“ Zu Zeiten des Kalten Krieges war der Kapitalismus weniger reich als jetzt, und dennoch finanzierte er, wenn auch nie begeistert und gelegentlich maulend, den vollen Sozialstaat. Mangels kommunistischer oder auch nur sozialdemokratischer Herausforderungen oder sonstiger ernsthafter Alternativen sieht er sich jetzt zu solchen Nettigkeiten nicht mehr genötigt, legt seine Beißhemmungen ab und erklärt den Sozialstaat zum unbezahlbaren und dem Marktgeschehen abträglichen Luxus. Das Kapitalprinzip frisst sich durch alle Schichten der Gesellschaft hindurch und dringt noch in die intimen Binnenwelten der Individuen ein. Die Erscheinungsweise des Kapitals wird seinem Begriff adäquat: Es ist sich selbst verwertender Wert, Geld heckendes Geld, das zum Zwecke seiner Vermehrung kaum noch den Umweg über die Produktion realer Dinge geht. Das Finanzkapital ist der automatische Fetisch, die vor sich hin nullende Null, die Marx als logischen Endpunkt der Verselbständigung des Wertes begriffen hat.
Wir benötigen eine Ökonomie, die nicht länger nach Geldkategorien und den Äquivalenzkriterien des Warentauschs verfährt, sondern ihre Praxis an naturalen Größen und sinnlichen Bedürfnis- und ökologischen Verträglichkeitskriterien ausrichtet. Es wird immer dringlicher, den intellektuellen Mut aufzubringen, uns eine Welt jenseits von Ware und Geld vorstellen zu können und uns praktisch für ihre Verwirklichung einzusetzen.
Alles andere schien Robert Kurz utopisch.
Am 18. Juli 2012 starb der Publizist und radikale Kapitalismuskritiker Robert Kurz an den Folgen einer Operation. Er lebte und arbeitete in Nürnberg. Er war Mitherausgeber der Zeitschrift Krisis und Mitglied der gleichnamigen Gruppe, bis diese an internen Auseinandersetzungen zerbrach. Er mischte sich immer wieder streitbar in linke Debatten ein und schrieb unter anderem die Bücher Der Kollaps der Modernisierung, Schwarzbuch Kapitalismus und – posthum erschienen – Geld ohne Wert.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf den Nachdenkseiten.