Freundliche Gewalt

Dem ausgebildeten eingewobenen Subjekt der kapitalistischen Weltordnung erscheinen die mit der abstrakten Arbeit einhergehenden Grässlichkeiten Krieg, Land Grabbing, Mobbing, Beschleunigung etc. als Folge unzureichender Vermarktung der sozialen Beziehungen sowie ihrer Trägereinheiten. Ungeheuerliche Mengen psychischer und physischer, latenter und manifester, chronischer und akuter Gewalt werden meist nicht wahrgenommen, selten ernst genommen, aber niemals ursächlich mit dem Kapitalismus in Verbindung gebracht.

Zähmung einer Delusion

Falschen Begründungen für Gewalt ist Tür und Tor geöffnet: Sie entstünde im schlecht erzogenen, seine Gefühle nicht beherrschenden Individuum. Voller Sorge vermeint ein von einer solchen Annahme geprägter Erwachsener Gewalt unterbinden zu können, wenn er die Äußerung aggressiver Gefühle bei Kindern verbietet. Voller Eifer werden die vermeintlichen Ursprünge von Krieg und Terror bekämpft, indem Kindern untersagt wird ihren Zorn, ihre Wut, ihren Frust oder ihren Hass zu zeigen. Voller Verblendung unterdrücken so aufgeklärte Erwachsene wesentliche Reaktionen ihrer Kinder auf die Zumutungen ihrer Einpassung. Durch Tabuisierung von Aggression wird mit Gewalt eine gewaltförmige Herrschaftsweise reproduziert. Kinder, die in einer bunten, glitzernden, von Spielzeug angefüllten Welt aggressiv auf die für sie unerträgliche Forderung der Subjektivierung reagieren und den kleinen Spielwaggon gegen die Wand schleudern, sind für Erwachsene kaum zu ertragen. (Vgl. Creydt, Streifzüge 60, S. 39)
Konform zum überlagernden dichotomen Bewertungsschema teilt das Subjekt seine Gefühle ein, wobei die guten (Fröhlichkeit) in die Scheinwelt des Distributionshimmels gehören und die schlechten (Neid, Zorn, Hass, Frust, Wut) im rückständigen Rest lokalisiert werden. Die als negativ abgewerteten Gefühle grantiger Kinder hätten in China, Brasilien oder Indien ihren berechtigten Ort, dort gibt’s ja Armut, Gewalt und kein Spielzeug, da darf das Kind schon mal wütend sein. Unfähig die Berechtigung des Zorns über die erzieherischen Zumutungen von Eltern und Institutionen erkennen zu können, schaffen es Erwachsene nicht, mit dem Kind während einer aggressiven Situation in empathische Beziehung zu treten. Stattdessen wird mit einem apodiktisch vorgebrachten „Wir dulden hier keine Gewalt!“ das zornige Kind zum Verstummen gezwungen.
Durch diese vom erwachsenen Standpunkt aus nicht diskutable Verneinung seiner Wut wird das Kind als gesamte Einheit abgewertet, denn es kann zwischen sich und seinem aggressiven Verhalten    nicht unterscheiden: Die Botschaft in den Ohren des Kindes ist: „Du bist nicht in Ordnung!“ Dies ist eine gewaltsame Verletzung der Integrität des Kindes, weil sein Anliegen und sein Signal zur Kommunikation über seinen Frust nicht ernst genommen werden, weil seine persönlichen Grenzen übertreten werden und weil es mit der Drohung der Verbannung aus der Gemeinschaft konfrontiert ist. (Vgl. Juul, S. 46)
Wenigen Erwachsenen ist diese Tragweite ihres Aggressionstabus bewusst, weil sie meinen in zivilisatorischer Manier mit Moral gegen die vermeintlich gewaltsame Natur des Menschen vorgehen zu müssen. So wird die brutale Niederschlagung des kindlichen Aufstandes – der doch nichts anderes als einen Versuch des Kindes darstellt, mit den Erwachsenen ins Gespräch über die eigenen Bedürfnisse zu kommen – zum hochmoralischen Auftrag und Programm. Demzufolge lenken sie wütenden Protest in geordnete rationale Bahnen. Doch in Wirklichkeit kanalisieren sie nicht die wilden Auswüchse einer zu beherrschenden Natur, sondern sie versenken eine Individualität gesamthaft im Kanal. Dem Kind wird klar, was dem Agenten des Systems nicht mehr ins Bewusstseins kommt – man könnte es so formulieren: „Du bist nur dann Teil unserer Gemeinschaft, wenn du deinen Frust in dir vergräbst, und dich mit diesem schönen Spielzeug da ablenkst. Wir geben dir ja so schöne Anreize. Nun sei ein folgsames Dividuum und nimm deine Rolle an: spalte ein wertabstraktes kalkulierendes Verhalten von deinem Bedürfnis, aktuellen Neigungen und Neugierden nachzugehen, ab und beherrsche dich damit. Wir haben dich lieb, unter der Bedingung, dass wir dir die Rüstung für das Wert-Imperium in dein Ich implantieren.“ „Die Kindererziehung verwickelt die Eltern in einen Widerspruch: Aus Liebe zu ihren Kindern stellen Eltern diese auf eine Welt ein, die in ihrer kapitalistischen Verfasstheit vielen menschlichen Belangen entgegensteht. Es gehe für die Kinder darum, ihre Chancen zu wahren oder zu verbessern. Das Bewusstsein des Gegensatzes ist durch die Liebe verstellt und die Liebe ist durch den Gegensatz doppelbödig.“ (Creydt, Streifzüge 59, S. 33)

Reizende Drohungen

Sollte das mit dem reizvollen Spielzeug als Köder (Belohnen und Strafen gehört zur bürgerlichen Subjektkonstitution) nicht klappen, weil Kinder auf der Wirklichkeit ihrer Gefühle, Bedürfnisse und Wahrnehmungen beharren, kann die bürgerliche Erziehung sehr viel listenreicher das Kind manipulieren. Mit nicht auffallendem Mobbing mobilisieren Erwachsene ihren tief verborgenen Ärger, um ihn zur Beherrschung zu verwenden. (Vgl. Juul S. 61). „Insgesamt können Eltern das Kind ‚glauben machen, seine emotionalen Bedürfnisse würden befriedigt, während sie eindeutig unbefriedigt bleiben; indem man solche Bedürfnisse als unvernünftig, hemmungslos oder egoistisch hinstellt, weil die Eltern nicht in der Lage oder nicht bereit sind, sie zu erfüllen; oder indem man dem Andern einzureden versucht, dass er sich nur einbildet, Bedürfnisse zu haben, sie ‚in Wirklichkeit‘ aber nicht hat, usw.‘ (Laing 1970, S. 286, s. auch S. 284). Das Empfinden des Kindes oder Jugendlichen lässt sich als Undank verstehen: ‚Wie kannst du bloß unglücklich sein. Haben wir dir nicht alles gegeben, was du willst? Wie kannst du nur so undankbar sein, dass du sagst, du bist unglücklich, nach allem, was wir für dich getan haben, nach all den Opfern, die für dich gebracht worden sind?‘ (ebd., S. 278)“ (Creydt, Streifzüge 59, S. 35) Durch untergejubelte Schuldgefühle soll das Kind seine Bedürfnisse selbst als falsch abwerten und zu sich auf Distanz gehen.
Ultima ratio kompatibel zur herrschenden Ordnung ist aber immer noch die Androhung von Gewalt: „‚Und wenn du nicht dann…!‘ Dieser Satz wird sehr häufig von Erwachsenen verwendet, wenn sie versuchen, unerwünschtes Verhalten von Kindern zu unterbinden. (…) [Eltern hängen am Erziehungskonzept des Industriezeitalters fest,] dem zu Folge es kein wichtigeres Ziel gibt, als Kinder angepasst und konform zu machen. (…) Die Terminologie hat sich zwar der politischen Korrektheit angepasst, die dem Phänomen innewohnende Logik ist aber dieselbe geblieben: Wenn du meine Regeln nicht beachtest, werde ich entweder deine Integrität verletzen oder dir die Zugehörigkeit verweigern. Das ist Aggression in Reinform! Und weil Kinder kooperieren, indem sie das Verhalten der Eltern nachahmen, führt dies sehr bald (oder zehn bis zwanzig Jahre später) zu destruktiver Aggression oder selbstdestruktivem Verhalten.“ (Juul, S. 51f)
Das wohlerzogene Subjekt bildet die Grundlage für die reibungslose Unterwerfung unter die Imperative der Arbeit. Nur brave, liebe Individuen, denen in der Kinderstube der Bezug zu sich selbst gründlich abgewöhnt wurde, werden in der Arbeit nicht furchtbar wütend und zornig werden. Viel lieber ertragen sie allen Frust, Ärger, Wut und Zorn und machen eine freundliche Miene zur grausigen Wirklichkeit. „Was können Kinder von defensiven, anämischen Erwachsenen lernen? Empathie? Liebe? Leidenschaft? Mitgefühl?“ (Juul, S. 34)

Lächelnde Destruktion

„Die Gewalt der Freundlichkeit und Korrektheit“ (Juul, S. 35) ist wesentlicher Bestandteil der Außenwirkung der Charaktermaske der Erwachsenen, mit der sie zu einer differenzlosen Identität verschmolzen sind. Es kann ihnen nicht mehr auffallen, dass sie den Kindern als Nicht-Ich gegenübertreten. „Die neuromantische Kultur hat es geschafft, Erwachsenen die Bürde aufzuerlegen, immer lieb, freundlich, verständnisvoll, sanft und zärtlich zu sein – eine menschenunmögliche Aufgabe.“ (Juul, S. 33) Eltern sind permanent lächelnde Verkäufer der Charaktermaske. Erziehung, so will es der zivilisatorische Auftrag, ist ein Verkaufsgespräch. Die Kinder bemerken das und erfahren das als Kränkung. „Ist deine Anwesenheit durch dein Programm vergiftet, wird das jedes sensible Kind spüren und sich als Objekt deiner Manipulation betrachten.“ (Juul, S. 151)
Diese „Gewalt der Freundlichkeit“ ist „jene Art getarnter Aggression und verbaler Gewalt, die die Älteren und Eloquenteren auf Kosten der Jüngeren und weniger Eloquenten leichten Herzens und offen austragen – ohne jedes Risiko, denn die wahre Natur dieser Form von Aggression offenbart sich nur über die Erfahrung der Schwächeren. Und da die Auskünfte der Schwächeren gewohnheitsmäßig nicht ernst genommen, geschweige denn gehört werden, setzt sich die Gewalt der Freundlichkeit und Korrektheit kontinuierlich fort. Doch gerade sie verletzt die Integrität der Kinder am stärksten.“ (Juul, S. 35f) Erwachsene sind die PR-Agentur des Kapitals, das in Freundlichkeit verpackt, aber letztlich mit Gewalt die Kinder zur Annahme der Rolle des reizbaren Homo oeconomicus in der Beziehungstragödie „Kapitalismus“ zwingt.
Kinder sind außergewöhnlich scharfe Beobachter und Eltern sind die sie am heißesten interessierenden Objekte. Mit deren Gefühlen kennen sich Kinder oft besser aus als die Eltern selbst. Sie merken also, dass die Freundlichkeit nur oberflächliche Show für den Verkauf einer schlechten Beziehung und Maske ist, und beginnen an dieser Nötigung zu leiden. Darauf geben sie eine wertvolle Antwort ihrem Alter entsprechend: „Auf solche Umstände werden Kinder entweder mit aggressivem und/oder hyperaktivem Verhalten reagieren oder mit Resignation. Kinder kämpfen für die Aufmerksamkeit und Unterstützung, die sie brauchen, oder sie geben auf und werden zu ‚gut funktionierenden‘ Individuen.“ (Juul, S. 18) Aggression ist ein Feedback auf die Art der Beziehung, das es zu entschlüsseln gilt – das gelingt nur im Gespräch mit den aggressiven Kindern. Juul gibt gute Hinweise, wie ein solcher Dialog für beide Beteiligten fruchtbringend geführt werden kann, und macht deutlich, dass Aggression, die immer wieder unterdrückt wird, sich später in Form von destruktiver und selbstdestruktiver Gewalt äußert.
Die destruktive Gruppe fällt auf und wird zu den Experten für deviantes Verhalten (Therapeuten, Ärzte) abgeschoben – ein lukratives Geschäft und zugleich eine gewaltsame Ausgrenzung aus der Gemeinschaft –, die selbstdestruktive Gruppe praktiziert bereits im frühen Alter Anpassung an die sozialen Verhältnisse. Die Aggression richtet sich nicht gegen die Welt und ihre Verfasstheit, sondern gegen das eigene Selbst und dessen Bedürfnisse, Wünsche und Begehren. Für die meisten ist das ganz unhinterfragt normaler Zustand und die gewünschte Folge von „Erziehung“.

Poesie der Regungen

Was wäre das Gute, wenn wir lernen Aggression zuzulassen, damit sie nicht durch Tabuisierung in selbstdestruktive Bahnen oder offene Gewalttätigkeit gelenkt wird? „Eine wesentliche Funktion von Aggression ist, dass wir unsere persönlichen Grenzen mit ihr so ziehen können, dass andere sie respektieren.“ (Juul, S. 30f) Wir wären wohl weniger wie Lemminge, sondern Menschen, die stark genug sind, um Konflikte auszutragen, und wir hätten gelernt diese auszuhalten und mit Gesprächen sinnvoll zu lösen. Es gilt sich gemeinschaftlich als schöpfende und schöpferische Individualitäten auszuprobieren und in die Welt hinein zu verwirklichen. „Die gesamte emotionale Musik und Poesie, die wir in uns tragen, muss zum Klingen gebracht werden – einschließlich Gereiztheit, Frustration, Wut, Zorn und Hass.“ (Juul, S. 38)

Literatur

Jesper Juul: Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist, Fischer, Frankfurt am Main. 2013.
Meinhard Creydt: Stufen der Subjektivierung, Streifzüge 60.
Meinhard Creydt: Die sehr private Erziehung des Kindes, Streifzüge 59.

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