von Franz Schandl
Die Siebziger- und Achtzigerjahre des alten Jahrhunderts erscheinen uns heute schon wie eine ferne Zeit. Ihre Konventionen haben mit dem Zeitalter der Mikroelektronik fast nichts mehr gemeinsam. Das ganze Kommunikationsystem wurde revolutioniert und die Verhaltensmuster ebenso. Und zwar innerhalb einer einzigen Generation. Jugendliche von 1980 hatten weder ein Handy noch einen Computer, für Jugendliche dreißig Jahre später ist ein Leben ohne PC und Mobiltelefon gar nicht mehr denkbar. Und das ist nur ein, wenn auch sehr markantes Beispiel.
Verheirateter Aufwand
Wir leben in einer Welt, deren Tempo praktisch befolgt, nicht jedoch geistig nachvollzogen wird. Bewegung ist ihr allmächtiger Modus, Dynamik ihr heiliger Rhythmus, Beschleunigung ihr ehernes Prinzip. Wer das nicht akzeptiert, wirkt weltfremd, wie aus einer anderen Zeit. Die Reflexion hinkt weit zurück, die auf den Reflex Trainierten haben keine Zeit sich ihr zu widmen. Die Wie-Frage erledigt stets das Was und Warum. Könner sollen wir sein, nicht Kenner. Alles korrespondiert mit einem Prozess ständiger Entmächtigung und Selbstentmächtigung. Das gilt auch und vor allem für Arbeitsprozesse und Arbeitsprodukte, insbesondere für jene der Industrie. Wir können uns gar nicht vorstellen, was wir herstellen, meinte sinngemäß Günther Anders.
Die eingesparte Zeit funktioniert nicht als ledige Subtraktion, sondern als verheirateter Aufwand. Früher wurde wenig gewaschen und gebadet, da dies sehr aufwendig gewesen ist. Nun lässt sich ein einzelner Waschvorgang oder ein Bad einfacher bewerkstelligen, was aber auch zur Folge hat, dass viel öfter gewaschen und gebadet wird als einst. Zeitgewinn und Zeitverlust gehen so Hand in Hand und man müsste sowohl im Einzelnen als auch in der Gesamtheit sehr genau prüfen, was dies für das disponible wie das indisponible Quantum des Zeithaushalts bedeutet. Dauer und Kosten etwa, die wir heute für den Müll (Entsorgung, Trennung, Auspacken) aufwenden, sind um ein Vielfaches gestiegen. Man könnte hier unzählige Beispiele anführen.
Motorisierung, Automatisierung, Elektrifizierung prägten diese Jahre in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Ein Haushalt um etwa 1965 und einer von heute sind nur sehr bedingt vergleichbar. Ein zeitversetztes Personal hätte immense Schwierigkeiten sich in der jeweils anderen Zeitzone etwa in einer Küche zurechtzufinden geschweige denn sich adäquat zu betätigen. Unfälle und Missgeschicke stünden wohl auf der Tagesordnung.
Arbeitstempo, Freizeittempo, Fresstempo, sie alle sind im Steigen begriffen. Unsere Zeitbudgets haben sich wohl nie so gewandelt wie in den letzten fünfzig Jahren. Inwiefern derlei adäquat gemessen werden kann, ist jedoch fraglich, laufen doch inzwischen nicht wenige Beschäftigungen parallel, sind somit nicht eindeutig abgrenzbar, resp. sind auch die einzelnen Tätigkeiten nicht nur einer Sparte zuzuordnen.
Das Aggregat der gesamtgesellschaftlichen globalen Maschine gibt ein Tempo vor, das ihre Zwangsmitglieder kaum nachvollziehen geschweige denn aushalten können. Aber da sie wissen, dass die Schnellen die Langsamen fressen, wollen sie unbedingt unter den Schnellen sein. Das System ist ins Rasen geraten. Kollisionen häufen sich und der Opfer werden immer mehr. Aber das macht nichts, denn schon stehen neue, vor allem jüngere, bereit.
Mobilisierung und Asychronität
Sich tummeln ist angesagt. Menschen leiden freilich nicht nur an der ihnen aufgedrängten Schnelligkeit, sondern auch an der Asynchronität der verschiedenen Zeitebenen, auf denen sie sich tummeln. Jene werden in diesen gleichzeitig gestreckt und gepresst, gedehnt und gedrückt, was ein Gefühl der Zerrissenheit hinterlässt. Diese Verquickung von Komprimieren und Entkomprimieren ist kaum auszuhalten. Es ist zum Rotieren. Vor allem als permanenter Stress oder noch schlimmer als akutes Burnout, einem Syndrom, das nahezu epidemisch um sich greift, äußern sich diese Zumutungen.
Auf das Problem unterschiedlicher Geschwindigkeiten hat bereits Ernst Fischer 1964 hingewiesen: „Die technische Eroberung der Außenwelt vollzieht sich weit schneller als die soziale und hinter der sozialen weit zurück bleibt die gefühlsmäßige, die Einbringung des Erfahrenen, Eroberten, Geretteten, in ein gewandeltes erweitertes Ich.“ D.h. wir hinken immer nach, wir richten uns nach der Gestaltung und nicht die Gestaltung richtet sich nach uns. Wir sind deshalb nicht Herren unserer Geschicke, sondern Knechte derselben. Je mehr Möglichkeiten es gibt, desto mehr Zwänge ergreifen uns, desto mehr Pflichten haben wir.
Wir leben in Zeiten kollektiver Überforderung. Das betrifft sowohl die taylorisierte Arbeit als auch die Nichtarbeitszeit wie Reproduktion, Freizeit, Krankheit, Schlafpensum, Sexualität. Alles steht unter dem Druck der Verkürzung durch überbordende Ansprüche und Notwendigkeiten. Wir sind umstellt von Terminen und haben unser Tempo zu steigern. Am neuesten Stand zu sein, heißt auf dem Laufenden zu bleiben.Gewöhnung kann nicht stattfinden. Nicht nur die sich rationalisierende Arbeit ist Hast, auch der Alltag ist kürzer werdenden Intervallen unterworfen.
Man ist mobil, weil man mobilisiert wird. Stets hat man unterwegs zu sein, kaum wo verweilend, eilt man schon weiter, denn stets existieren wir in immer kürzeren Fristen. Wir rennen von Termin zu Termin, wir leben in Zeiten einer verstellten Zeit. Je mehr uns zur Verfügung steht, desto mehr haben wir zur Verfügung zu stehen. Unser Leben wird durchrationalisiert wie ein Programm. Das beginnt bereits bei den Kindern im Vorschulalter. Das Resultat sind formatierte Wesen, die Schulen, Fabriken, Büros, Plätze, Kaufhäuser, Straßen bevölkern.
Der Publizist Lothar Baier schreibt in seinem Band „Keine Zeit!“: „Die Beschleunigung, ursprünglich als Hilfe bei der Anstrengung gedacht, die Geschichte selbst in die Hand zu nehmen, ist der Aufklärung entglitten und hat sich am Ende mit Technik und Ökonomie zu einer nicht mehr steuerbaren Gewalt verbunden.“ Gleich einer organischen Beschaffenheit determiniert sie ihre gesellschaftlichen Folgen; selbstbestimmte und richtungsweisende Eingriffe sind weitgehend unmöglich.
Die kommerzielle Existenzweise, der Zwang zur Verwertung diktiert den Ablauf und dimensioniert die Läufer. Menschliche Kommunikation verwirklicht sich zusehends als Totschläger der Zeit. Keine freie Minute soll mehr sicher sein. Mobilität ist zum kategorischen Imperativ des bürgerlichen Daseins geworden. Die Welt, die muss einen nicht nur haben, sie will einen ganz und gar besetzen, jederzeit an-, auf- und abrufbar – wie ein Computerprogramm. Wir haben hochzufahren und uns zu melden. Das Anschlussgebot ist dem Subjekt Norm. Das Handy als mobilisierende Mobilie ist genau unter dem funktionalen Gesichtspunkt eines ewigen Bereitschaftsdienstes zu betrachten: Nicht erreichbar zu sein, ist eine Versündigung wieder die aktuelle Möglichkeit. Möglichkeiten auszulassen, meint Chancen verpassen. Was niemand wollen darf…