von Tomasz Konicz
Winter is coming – und in der Ukraine wird er ungeachtet aller konkreten Witterungsbedingungen sehr hart ausfallen. Zwar ließ der scheidende EU-Kommissionspräsident Barrosso Ende Oktober anlässlich der vorläufigen Einigung zwischen der Ukraine und Russland über künftige Gaslieferungen verlauten, dass nun „niemand in Europa mehr frieren“ müsse, doch die Realität zwischen Lviv und Lugansk wird sich kaum dieser Beschwörungsformel fügen.
Wohl hat Kiew auch rund eine Million Tonnen Steinkohle aus Südafrika, größtenteils auf Kredit, erworben, die dem geschundenen Land über die kalte Jahreszeit helfen sollen. Aber angesichts der dennoch zu erwartenden Engpässe bei der Energieversorgung hat die Regierung in Kiew die vorgeschriebenen Raumtemperaturen in den Plattenbauten der Ukraine auf 16 Grad Celsius absenken lassen. Diese Energiekrise resultiert nicht nur aus der Unwilligkeit des aufständischen Donezker Kohlereviers, den Rest des auf Westkurs gebrachten Landes mit Kohle zu versorgen, sondern bei den monatelangen schweren Kämpfen ist in den abtrünnigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk auch ein Teil der Förderkapazitäten und der industriellen Infrastruktur zerstört worden, mittels derer das zerrissene Bürgerkriegsland mit dem für die Heizperiode unabdingbaren Energieträger Steinkohle hätte versorgt werden können: Die Mehrzahl der Kohlebergwerke im Donezkbecken hat ihren Betrieb aufgrund der Verwüstungen einstellen müssen, während das Schienennetz durch zahlreiche Sprengungen und Sabotageakte stark beschädigt ist. Da polnische Steinkohle aus dem schlesischen Industrierevier sich zur Verfeuerung in den ukrainischen Kraftwerken nicht eignet, musste Kiew den Energieträger aus der südlichen Hemisphäre importieren – bei einem Transportweg von 10.000 Kilometern.
Die ukrainische Oligarchie und ihre militärische Transformation
Dieser Winter dürfte somit der ohnehin im freien Fall befindlichen ukrainischen Volkswirtschaft den Todesstoß versetzen sowie den bereits eingeleiteten Desintegrationsprozess des ukrainischen Staates weiter befördern. Der Anschein einer Stabilisierung des politischen Systems, der im Gefolge der Parlamentswahlen aufkam, dürfte im Verlauf der kommenden Monate einer erneuten inneren wie äußeren Eskalation weichen. Die Oligarchen des Landes haben es noch einmal vermocht, mit Unterstützung des Westens ihre Parteien und Seilschaften in das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, zu hieven. Die in der Bevölkerung weit verbreitete Hoffnung auf eine Besserung der verzweifelten sozioökonomischen Lage der Ukraine, die sich durch die Westintegration des osteuropäischen Landes einstellen soll, ermöglichte erst den Durchmarsch der prowestlichen oligarchischen Kräfte, wie des Blocks Petro Poroschenko und der Volksfront Arseni Jazenjuks, in der viele aus der Timoschenko-Partei Vaterland übergelaufene Politunternehmer nun ein neues Betätigungsfeld fanden. Sobald die Hoffnung auf eine wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine enttäuscht werden wird, dürften die rechtsextremen Parteien und Gruppierungen, die bereits das politische Klima des Landes vergiftet haben, ihre Chance bekommen und zu ergreifen trachten.
Die ukrainische Oligarchie konnte ihre politischen Machtpositionen im Endeffekt in einer neuen Konfiguration zumindest zeitweilig behaupten. Diese entzieht sich aber einem simplen Ost-West-Schema, denn es waren auch ostukrainische Oligarchen, die sich auf die Seite der prowestlichen Kräfte schlugen. Prominentestes Beispiel hierfür ist Rinat Achmetow, mit einem geschätzten Privatvermögen von 12 Milliarden US-Dollar reichster Mann der Ukraine und Eigentümer des Metinvest-Konzerns. Rund 300.000 Lohnabhängige arbeiten in Achmetows Industriekonglomerat. Noch Mitte 2014 versuchte Achmetow vergeblich, „seine“ Arbeiterschaft für den Kampf gegen die ostukrainischen Separatisten bei Kundgebungen und Aufmärschen zu mobilisieren. Nun muss der einstige „König des Donbass“ im Exil in Kiew residieren.
Neben Achmetow und dem zum Präsidenten gewählten „Schokoladenkönig“ Petro Poroschenko, der praktischerweise auch einen Medienkonzern mitsamt TV- und Radiosendern sein Eigen nennt, spielt der Oligarch Igor Kolomoisky (geschätztes Privatvermögen: zwischen drei und 6,5 Milliarden US-Dollar) eine zentrale Rolle bei dem Kampf Kiews gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen in der Ostukraine. Kolomoisky, der seinen Wohnsitz in der Schweiz hat, wurde schon im März 2014 vom ukrainischen Übergangspräsidenten Olexandr Turtschynow zum Gouverneur des ostukrainischen Oblast Dnipropetrowsk ernannt, um sogleich mit dem Aufbau des „Bataillon Dnipr“ – seiner privat finanzierten Miliz – die militärische Absicherung dieser Industrieregion zu forcieren. „Gehälter zwischen 1.000 Dollar für Soldaten bis zu 5.000 Dollar für einen Kommandeur machen den Dienst attraktiv“, erklärte ein Verwaltungsangestellter gegenüber ukrainischen Medien.
Somit durchläuft das oligarchische System der Ukraine krisen- und kriegsbedingt eine „militärische“ Transformation. Generell gelten die ukrainischen Oligarchen als die wichtigsten Förderer des grassierenden Milizwesens und der daraus resultierenden Militarisierung der Innenpolitik in der Ukraine. Es reicht nicht mehr, sich Parteien und Politiker zu kaufen. Jeder Oligarch, der auch künftig einen Machtfaktor bilden will, legt sich nun eine Söldnertruppe zu: Achmetow finanziert laut Tagesspiegel genauso eine Miliz wie die umtriebige Julia Timoschenko, deren bewaffneter Formation sich Mitte 2014 an die 8.000 Mann angeschlossen haben sollen. Die prowestliche „Revolution“ des Euro-Maidan, die angeblich mit der Korruption und Oligarchenherrschaft brechen wollte, hat somit im Endeffekt bloß zu deren Brutalisierung und Militarisierung geführt, in deren Gefolge die ukrainische Staatlichkeit in Auflösung überzugehen droht. Die Ukraine könnte sich – spätestens mit dem nächsten Krisenschub – zu einem „Failed State“ entwickeln, in dem verschiedene Oligarchengruppen und -truppen ihre Machtkämpfe austragen.
Dabei stellte schon die Herausbildung des instabilen oligarchischen Systems in der Ukraine die Folge eines Zusammenbruchs dar: der Implosion der Sowjetunion und des real existierenden Sozialismus osteuropäischer Prägung. Die Mehrheit der Oligarchen entstammte der staatssozialistischen Nomenklatura, der Schicht von Funktionsträgern im Staats-, Partei- und Wirtschaftsapparat, die im Zuge der desaströsen Systemtransformation in brutalen und mitunter recht blutigen Machtkämpfen eine wilde Privatisierung des Staatsvermögens ausfocht. Die Symbolfigur dieser chaotischen Transformationsperiode stellt der erste ukrainische Präsident Leonid Kutchma dar, während dessen Präsidentschaft (1994 bis 2005) das gegenwärtig in der Krise verwildernde oligarchische System der Ukraine seine Ausformung erhielt.
Charakteristisch ist hierbei die Unfähigkeit des ukrainischen Staates, seiner Funktion als „ideeller Gesamtkapitalist“ – der auch mal Kapitalfraktionen in ihre Schranken weisen könnte, wenn ihr Treiben die Stabilität des Gesamtsystems gefährdet – nachzukommen. Niemals haben die staatlichen Strukturen in der Ukraine jene Eigenständigkeit erlangen können, die den Staat tatsächlich als Machtfaktor agieren lassen könnte. Stattdessen verkam der Staat zur „Beute“ von oligarchischen Seilschaften und Klans. Diejenigen Oligarchen, die den Staatsapparat kontrollierten, setzten ihn zur Durchsetzung ihrer Interessen ein, etwa um missliebige Konkurrenten auszuschalten.
Die Machtmittel des Staates wurden somit routinemäßig für „außerstaatliche“, vom Interesse der jeweils den Staatsapparat okkupierenden Oligarchenfraktion diktierte Zwecke instrumentalisiert. Die meisten Posten und Pöstchen im Staatssektor, die infolge der schlechten Wirtschaftslage zu den seltenen krisenfesten Einnahmequellen zählen, wurden so zwischen Seilschaften und Rackets verteilt, die diese „Beute“ möglichst gut verwerten wollten.
Die Ukraine zählte folglich schon vor dem aktuellen Krisenausbruch laut Transparency International zu den korruptesten Staaten der Welt, – auf gleicher Höhe mit Failed States wie der Zentralafrikanischen Republik und Syrien. Dieser Umstand erklärt auch, wieso die formellen Strukturen des ukrainischen Sicherheitsapparats vielerorts so schnell kollabierten, um der Milizbildung Platz zu schaffen: Viele Polizisten und Offiziere waren darauf konzentriert, in den von ihnen „eroberten“ Pöstchen möglichst effektiv Geld zu scheffeln – der Krisenausbruch, die Notwendigkeit einer militärischen Auseinandersetzung mit Milizen, hat diese „Staatsdiener“ schlicht überfordert.
Der wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der Ukraine
Die „Verwilderung“ des ukrainischen Staates setzte somit schon weit vor der aktuellen, wirtschaftlich bedingten Krise der ukrainischen Staatlichkeit ein. Die Ukraine verfügte seit der Systemtransformation niemals über ein hinreichendes ökonomisches Fundament, das nur durch Steuereinnahmen aus ausreichend breit dimensionierter Kapitalverwertung in der Warenproduktion zu gewinnen wäre. Die kurze Wirtschaftsgeschichte der unabhängigen Ukraine besteht hingegen in einer – von Stagnationsphasen und schuldenfinanzierter Blasenbildung unterbrochenen – Aneinanderreihung von Katastrophen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzten ein gewaltiger Wirtschaftseinbruch und eine massive Pauperisierungswelle ein, die sogar die sozioökonomischen Erschütterungen in Russland übertraf.
Eine Folge dieses Kollapses der staatssozialistischen Modernisierungsstrategie ist auch die wirtschaftliche Ost-West-Spaltung der Ukraine. Die westlichen und „proeuropäischen“ Regionen des Landes stellen dessen innere Peripherie dar, die sich vom Zusammenbruch der Sowjetunion niemals auch nur annähernd erholt hat. Der Westen ist durch Deindustrialisierung, Verelendung, infrastrukturellen Zerfall und hohe Arbeitslosigkeit geprägt. Ohne Übertreibung kann hier von einer Region wirtschaftlich „verbrannter Erde“, von einem ökonomischen Zusammenbruchsgebiet gesprochen werden. Als ein Beispiel dieser ökonomischen Spaltung kann das BIP pro Kopf in der Region Dnipropetrowsk und Lwiw dienen: In Dnipropetrowsk liegt es laut dem Blog Querschüsse bei 4.748 Dollar, in Lwiw bei 2.312 Dollar. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass auch die ostukrainische Restindustrie nur noch von ihrem „sowjetischen Erbe“ zehrt und nach rund zwei Dekaden Oligarchenherrschaft hoffnungslos veraltet und marode ist.
Nahezu die gesamten 90er Jahre über befand sich die Ukraine in einer Rezession mit zuweilen zweistelligen Kontraktionsraten (1992 bis 1996). Erst ab dem Beginn des 21. Jahrhunderts setzte ein Wirtschaftswachstum ein, das durch die globalen Schuldenblasen, den Immobilienboom in den USA und Westeuropa und die daraus resultierenden Defizitkonjunkturen sowie eine auch in der Ukraine selbst aufgeblähte Schuldenblase befeuert wurde. In dieser kurzen Periode, in der vor allem westeuropäische Finanzinstitute landesweit eine lockere Kreditvergabepraxis pflegten, konnte die Illusion einer funktionierenden ukrainischen Volkswirtschaft gedeihen. Überdies hat der kreditbefeuerte globale Wirtschaftsboom kurz vor seinem Kollaps der ostukrainischen Schwerindustrie trotz ihrer archaischen Struktur gute Absatzmöglichkeiten – etwa für Stahl – verschafft. Mit dem Krisenausbruch 2008 brach auch die ukrainische Schulden- und Defizitkonjunktur zusammen.
Die Ukraine musste auf Kredite des IWF im Umfang von 16,4 Milliarden US-Dollar zurückgreifen, um den Bankrott abzuwenden. Das Programm wurde nach einem Jahr wieder eingefroren, weil sich Kiew – damals noch unter der Regierung von Julia Timoschenko – weigerte, die Bedingungen des IWF zu erfüllen. Es folgte ein tiefe Rezession mit anschließender Stagnation der Wirtschaftstätigkeit.
Mit dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise der ukrainischen Staatlichkeit kündigte sich dann abermals ein gewaltiger Einbruch an. Das beständig zunehmende Leistungsbilanzdefizit belief sich allein 2013 auf mehr als acht Prozent des BIP, bei einem Haushaltsdefizit von rund 6,5 Prozent des BIP. Das enorme Handelsdefizit, das im dritten Quartal 2013 mit einem Minus von 7,3 Milliarden Dollar einen neuen historischen Höchstwert erreichte, ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen auf die notwendigen Energieimporte aus Russland, zum anderen auf das Fehlen einer breiten, international konkurrenzfähigen Warenproduktion, mit der die für eine ausgeglichene Leistungsbilanz notwendigen Devisen erwirtschaftet werden könnten. Letztendlich war der Ukraine aufgrund fehlender devisenbringender Energielagerstätten und wegen archaischer Industriestrukturen die ökonomische Grundlage staatlicher Souveränität abhanden gekommen. Das enorme Doppeldefizit konnte folglich nur noch durch ausländische Finanzierung aufrechterhalten werden. Hierin ähnelt das Land den südeuropäischen Krisenstaaten, die ebenfalls in der eskalierenden globalen Krisenkonkurrenz nicht mehr mithalten konnten und ähnlich ausgeprägte Leistungsbilanzdefizite aufwiesen.
Die ostukrainische Oligarchie unter Janukowitsch hatte jahrelang zwischen Ost und West laviert und musste sich nun angesichts der eskalierenden Wirtschafts- und Schuldenkrise für die Einbindung in das westliche oder das russische Bündnissystem entscheiden, um im Gegenzug für die partielle Aufgabe staatlicher Souveränität durch Kredite, ermäßigte Energiepreise, Marktzugang, usw. vor dem Staatsbankrott bewahrt zu werden. Erst diese systemische Krise der ukrainischen Volkswirtschaft und die Zerrüttung des ukrainischen Staates hat die „erfolgreiche“ Intervention des Westens in diesen osteuropäischen „Pufferstaat“ zwischen Ost und West möglich gemacht.
Diese Krise spiegelt dabei nur die des spätkapitalistischen Weltsystems wieder, das aufgrund permanenter Produktivitätsfortschritte an eine innere Schranke (Robert Kurz) seiner Entwicklungsfähigkeit stößt und eine ökonomisch „überflüssige“ Menschheit produziert. Die Deindustrialisierung der Ukraine, ihr permanent anwachsender Kreditbedarf, das Dahinsiechen der nicht konkurrenzfähigen ostukrainischen Restindustrie illustrieren diese eskalierenden kapitalistischen Widersprüche genauso, wie die nun das Land unsicher machenden Nazibanden, die – sollte die Ukraine nicht mehr ökonomisch stabilisiert werden können – eine ähnliche anomische Terrorherrschaft errichten dürften, wie sie etwa salafistische Milizen in Failed States wie Syrien, Libyen oder Irak praktizieren. Bezeichnend ist allein schon die Tatsache, dass in den aufständischen Regionen im Osten des Landes die Gefechte trotz eines formellen Waffenstillstandes weitergehen. Dies deutet doch offensichtlich darauf hin, dass auch auf der ukrainischen Seite die bewaffneten Formationen sich kaum noch unter der Kontrolle des Staates befinden. Die Milizbildung in der Ukraine spiegelt nicht nur die Barbarisierungstendenzen zur Etablierung offener Bandenherrschaft, sie wird auch durch die gleichen ökonomischen Krisenkräfte gefördert: Ökonomisch „überflüssige“ junge Männer schließen sich in den von Oligarchen finanzierten Kampfverbänden zusammen, wie es ihre Altersgenossen in weiten Teilen des arabischen Raums, des subsaharischen Afrikas oder Mittelamerikas ebenfalls tun, um so eine wahre Plünderungswirtschaft zu betreiben, die sich in Ansätzen auch in der Ukraine bereits abzeichnet.
Während sich Oligarchen langsam in Warlords wandeln, befindet sich der ukrainische Staat aufgrund der allgegenwärtigen Korruption in Auflösung. Je prekärer die wirtschaftliche Basis ist, auf der ein Staatsgebilde fußt, desto stärker nehmen die nepotistischen, willkürlichen und kleptokratischen Tendenzen innerhalb der Staatsmaschinerie zu. Mitunter bilden die Einnahmen aus Schmiergeldern oder willkürlichen „Gebühren“ und Schutzgeldern den Großteil der Einnahmen von Staatsbediensteten. Auch diese Instabilität des in endlosen Oligarchenkämpfen zerrütteten Staates gehört zu den Voraussetzungen, die die äußere Intervention in der Ukraine erst möglich machten.
Das „postoligarchische“ System Russlands
An der sich gegenwärtig entfaltenden ukrainischen Tragödie werden auch die beiden wichtigsten Unterschiede zwischen diesem nun kollabierenden Oligarchenregime und dem autoritären „postoligarchischen“ System Russlands erkennbar. Im Verlauf heftiger Auseinandersetzungen in der Frühzeit der Regentschaft Putins wurde vom Staatsapparat die Macht der russischen Oligarchie gebrochen, die zuvor in dem wilden Privatisierungsprozess – genauso wie in der Ukraine – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion weite Teile der Wirtschaft unter ihre Kontrolle bringen konnte. Das Symbol für diesen Sieg des Staates über eine räuberische Oligarchenkaste, die wie auch in der Ukraine größtenteils aus der ehemaligen sowjetischen Nomenklatura hervorging, stellt der jüngst von Putin begnadigte ehemalige Milliardär Michail Chodorkowski dar. Seit der Abrechnung Putins mit dem ehemaligen Yukos-Inhaber, der den Kremlchef offen herausforderte, hat es kein Oligarch mehr gewagt, ernsthaft in Opposition zum Kreml zu treten.
Der russische Staat kann getrost als der zentrale Machtfaktor des Landes bezeichnet werden. Zudem ging der Kreml daran, die Staatskontrolle über die strategischen Sektoren der russischen Wirtschaft – und hier insbesondere den Rohstoffsektor – zu übernehmen. In Russland fand somit im Rahmen der maßgeblich von Putin geformten machtpolitischen Strategie des „Energieimperiums“ – die eine möglichst lückenlose Kontrolle der gesamten Energieproduktion und -distribution, vom sibirischen Gasfeld bis zur europäischen Tankstelle, durch den Kreml anstrebt – eine Renationalisierung weiter Teile des russischen Energiesektors statt. Die sozioökonomische Stabilisierung der Russischen Föderation unter Putin resultiert aus der Ausrichtung des Landes auf Rohstoffexporte, deren Einnahmen nun nicht mehr von einer räuberischen Oligarchenkaste aus dem Land geschafft werden. Der Rohstoffsektor stellt neben der Rüstungsindustrie den einzigen Wirtschaftszweig Russlands dar, der international konkurrenzfähig ist, während die restliche, unter riesigen Investitionsdefiziten leidende Warenproduktion sich nie von dem Zusammenbruch des Staatssozialismus erholt hat.
Ein Großteil der russischen Warenproduktion weist somit ähnlich archaische Strukturen und einen ähnlich gigantischen Modernisierungsbedarf auf wie die Oligarchenkonglomerate in der Ostukraine, doch verfügt der Kreml mit den unter Staatskontrolle befindlichen enormen Ressourcen und Energieträgern über Exportgüter, die zur Stabilisierung der russischen Volkswirtschaft beitragen und so noch wirtschaftliche und politische Souveränität ermöglichen. Alle Versuche der „Modernisierung“ der völlig veralteten Industriebasis sind bislang hingegen gescheitert. Als ein „Erfolgsmodell“ kann also Russland mitnichten angesehen werden. Die starke Stellung des autoritären Staates kreiert nur die Illusion einer tief greifenden systemischen Kontrolle der Gesellschaft.
Auch Russland gilt als einer der korruptesten Staaten der Welt, wobei hier der Staat nicht zum Objekt der Machtkämpfe wurde, sondern zu deren Subjekt: Der Sieg Putins über die räuberische Transformationsoligarchie schuf eine aus den Machtministerien und dem Sicherheitsapparat hervorgegangene Staatsoligarchie, deren Reichtum und Macht gerade aus der Kontrolle von Staatsbetrieben erwachsen. Geschäftlicher Erfolg hängt somit – auch in der Privatwirtschaft – wie einstmals zur Zarenzeit von guten Kontakten zum Kreml und einer sicheren Stellung innerhalb der Seilschaften ab. Der Staat ist hier nicht nur das politische, sondern auch das wirtschaftliche Machtzentrum. Die Wirtschaft ist jedoch von der Konjunkturentwicklung im Zentrum des Weltsystems, die maßgeblich die Rohstoffpreise beeinflusst, in höchstem Ausmaß abhängig. Diese Abhängigkeit kommt auch in dem gegenwärtigen geopolitischen Kräftemessen um die Ukraine zum Ausdruck: Die Drohungen des Westens mit weiteren Sanktionen dürften den Kreml von einer entschiedenen, offenen Unterstützung der prorussischen Kräfte im Osten der Ukraine abgehalten haben.
Der „Kampf um die Ukraine“ bleibt brandgefährlich
Es bleibt jedoch generell fraglich, ob es gelingen wird, die derzeitigen Frontverläufe in der Ukraine in die Stasis eines „eingefrorenen Konflikts“ zu überführen, wie er in etlichen postsowjetischen Regionen – Transnistrien, Nagorny Karabach, Südossetien – zu finden ist. Die „hinter dem Rücken“ (Marx) der politischen Akteure sich verschärfende, „objektive“ Krisendynamik treibt nämlich die Subjekte sowohl innerhalb der Ukraine als auch auf der geopolitischen Ebene in eine erneute Zuspitzung dieses Konflikts. Die eskalierenden Widersprüche, die sich in Form von quasi objektiven Sachzwängen manifestieren, verschärfen diese Tendenzen enorm. Die innerukrainischen Kräfte etwa – wie die zahlreichen Nazimilizen und rechtsextremen Gruppierungen – könnten bei einer eskalierenden Wirtschaftskrise die Flucht in einen erneuten Waffengang gegen den Osten antreten. Ähnlich verhält es sich mit Russland und der EU. In beiden Wirtschaftsräumen und Machtblöcken hat die in Gang gesetzte Sanktionsspirale bereits zu einer Verschärfung der ohnehin angespannten ökonomischen Lage geführt, sodass eine irrationale Flucht in einen unabwägbaren Großkonflikt nicht mehr ausgeschlossen werden kann.
Die krisenbedingt zunehmende Neigung der morschen Staatsapparate der neoimperialistischen Großmächte, mittels äußerer Expansion die wachsenden inneren Widersprüche zu überbrücken, bildete letztendlich auch den wichtigsten Faktor bei der Eskalation des Ost-West-Konflikts um die Ukraine. Es ist absolut klar, dass es sich hier nicht um einen klassischen, von expandierender Verwertung befeuerten Eroberungszug handelt, bei dem die geopolitischen Akteure um die Kontrolle etwa der maroden ostukrainischen Industrie ringen. Es handelt sich hier vielmehr um eine „negative“ Krisenkonkurrenz, bei der die jeweiligen Machtblöcke ihren Abstieg auf Kosten der jeweiligen Konkurrenten zu verhindern trachten.
Russland wollte mit der Einbringung der Ukraine in die vom Kreml forcierte Eurasische Union, die als Konkurrenzprojekt zur EU konzipiert war, seinen Status als eine global agierende Weltmacht halten. Bei der EU galt es folglich, das Aufkommen eines solchen Konkurrenten zu verhindern, der die europäischen Peripherieländer – für die „Europa“ aufgrund des deutschen Krisendiktats zusehends einem preußischen Kasernenhof gleicht – womöglich auf dumme Gedanken gebracht hätte. Die energiepolitische Kooperation Ungarns und Bulgariens mit dem Kreml (Stichwort: South Stream) in den vergangenen Jahren hat in Brüssel alle Warnlichter aufleuchten lassen. Die im Abstieg befindliche und hoch verschuldete Hegemonialmacht USA wiederum muss unbedingt den US-Dollar als Weltwährung retten, weswegen sie die Etablierung eines einheitlichen eurasischen Wirtschaftsraumes – bis vor Kurzem gab es auch innerhalb der deutschen Funktionseliten eine hierfür plädierende Strömung – um jeden Preis verhindern will. Die Eskalation in der Ukraine bildete somit den Keil, der eine diesbezügliche Annäherung zumindest mittelfristig unmöglich machen wird.