Ausstieg aus der Apokalypse

Streifzüge 61/2014
von Fabian Scheidler

Einer der markantesten Züge dessen, was wir die „westliche Zivilisation“ nennen, ist ihre Apokalyptik. Ein Blick in die nächste Videothek genügt, um festzustellen, dass das Kino von der Idee der Weltzerstörung geradezu besessen ist. Apokalypsen endeten jedoch ursprünglich nicht mit dem Weltuntergang, sondern mit der Schaffung einer Neuen Welt, eines Himmlischen Jerusalems. Die Utopien der frühen Neuzeit – Thomas Morus’ Utopia, der Sonnenstaat von Campanella, das Nova Atlantis von Bacon – waren ebenso apokalyptisch inspiriert wie die Bewegungen der Reformation und der Täufer. Im 20. Jahrhundert trugen die futuristischen Stadtentwürfe eines Le Corbusier oder das Projekt der Erschaffung eines Neuen Menschen in der frühen Sowjetunion – auch wenn ihre Schöpfer jeden religiösen Zusammenhang weit von sich gewiesen hätten – Züge eines apokalyptischen Programms, das mehr als 2000 Jahre alt ist. Die rechtwinkligen Straßenmuster moderner Finanzdistrikte und ihre Glasfassaden, in denen sich der Himmel spiegelt, erinnern nicht zufällig an die Beschreibung des Neuen Jerusalems in der Offenbarung des Johannes. Die Apokalyptik erweist sich in der Geschichte als ausgesprochen hartnäckig und in erstaunlicher Weise systemübergreifend. Sie ist im Christentum ebenso zuhause wie im atheistischen Fortschrittskult. Sie findet sich in den Hoffnungen auf einen Neubeginn der Menschheit im Kommunismus und in der Vision vom Triumph des Kapitalismus als „Ende der Geschichte“, wie er Francis Fukuyama vorschwebte.

 

Abgezirkelt und ausgerichtet: Die Vision des Neuen Jerusalem (16. Jh.) und Le Corbusiers Neues Paris.

Doch nicht nur das Imaginäre ist apokalyptisch besetzt. Keine andere Zivilisation der Geschichte hat es bisher geschafft, mehrere reale Weltuntergangsoptionen zu produzieren, vom Atomkrieg bis zum globalen Umweltgau. Diese realen Szenarien sind auf eigenartige Weise an die imaginären gekoppelt: Es scheint fast so, als würde die jahrtausendelange Suche nach dem Neuen Jerusalem genau die Zerstörungspotentiale hervorbringen, die heute unsere Zukunft bedrohen. Denn die Kehrseite der Schönen Neuen Welt, die uns die entfesselte Produktion und Konsumption beschert, ist ein geplünderter, ausgebrannter Planet; die Kehrseite der Beherrschung der Atomkräfte – an die sich seit den 50er Jahren die kühnsten Utopien knüpften – ist die Möglichkeit eines allesvernichtenden Krieges. Was aber sind die Ursprünge der für unsere Zivilisation so eigentümlichen Suche nach einer ganz anderen, neuen Welt, die die alte, korrumpierte ersetzt? Und wie ist es möglich, dass radikal entgegengesetzte Gesellschaftsentwürfe gleichermaßen von der Apokalyptik inspiriert wurden?

Apokalypsen als Antwort auf das Trauma der Macht

Apokalypsen sind Visionen einer totalen Verzweiflung. Sie entstehen in den Verwüstungsspuren der Imperien, wo die Welt so tief korrumpiert erscheint, dass Rettung nur noch in der totalen Vernichtung und Neuschöpfung des Kosmos vorstellbar ist. Das apokalyptische Denken hat die Verwüstung immer schon hinter sich. Nicht zufällig entsteht die früheste apokalyptische Literatur an einem Ort und in einer Zeit, die von massiver ökonomischer und physischer Gewalt geprägt waren: Palästina in der Epoche, die auf die Eroberungskriege Alexanders des Großen folgte.
Die griechische Militärmaschinerie hatte ein System in den Nahen Osten gebracht, das David Graeber in seinem Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre als ein Dreieck von Geldwirtschaft, Krieg und Sklaverei beschrieben hat: Die Erfindung des Münzgeldes erlaubte es erstmals in der Geschichte, ein dauerhaftes Söldnerheer zu unterhalten; das Silber dafür wurde von Sklaven – die meisten davon Kriegsgefangene – in gewaltigen Bergwerken gefördert. Damit die Söldner für das Silber, mit dem sie bezahlt wurden, auch etwas kaufen konnten, musste die Gesellschaft einer radikalen Kommerzialisierung unterworfen werden. Das wichtigste Mittel dazu waren die Steuern: Bauern und Handwerker wurden durch die Umstellung des Steuerwesens von Naturalien auf Münzgeld gezwungen, für den Markt zu produzieren statt für die Selbstversorgung. Viele gerieten dadurch in einen Verschuldungskreislauf, der Landbesitz konzentrierte sich zunehmend in den Händen von Großgrundbesitzern. Der Widerstand gegen dieses System konnte wiederum mit den neu geschaffenen Söldnerheeren unterdrückt werden. Die Ausweitung von Markt- und Staatsmacht gingen Hand in Hand. Die Kehrseite dieser extremen Machterweiterung auf Seiten der Eliten waren ebenso extreme Ohnmachtserfahrungen auf Seiten der Bevölkerung, besonders an den Rändern des Empires – und genau dort entstand die apokalyptische Literatur.
Eine der ersten uns überlieferten Apokalypsen findet sich im biblischen Buch Daniel, entstanden um das Jahr 164 v. u. Z. unter der Herrschaft des Antiochos Epiphanes, der mit den Mitteln des neuen ökonomisch-militärischen Systems über den Nahen Osten herrschte. Das siebte Kapitel des Buches erzählt von einer Abfolge von vier Imperien, die durch verschiedene Tiere symbolisiert werden. Das vierte Tier war „anders als alle anderen, ganz furchtbar anzusehen, mit Zähnen aus Eisen und mit Klauen aus Bronze, das alles fraß und zermalmte und, was übrig blieb, mit den Füßen zertrat“. Dieses letzte Tier – Antiochos – wird schließlich von einem Strafgericht, dessen Vorsitz eine göttliche Gestalt führt, dem Feuer übergeben und vernichtet.
Anders als in späteren Offenbarungen wird hier noch nicht das gesamte Universum der Vernichtung anheim gegeben, sondern nur der Übeltäter selbst. Doch auch schon bei Daniel wird in der Imagination die Erfahrung von Ohnmacht und Erniedrigung durch das Aufgebot gewaltiger himmlischer Heerscharen kompensiert. Die Allmacht des sie anführenden Gottes spiegelt die Macht irdischer Herrscher und überbietet sie. Und genau an diesem Punkt kippt die Apokalyptik von der Hoffnung auf Rettung und Wiedergutmachung in eine Spiegelung der traumatisierenden Erfahrung: Was man selbst erfuhr, wird nun am anderen vollstreckt, und zwar mit noch massiverer Gewalt. Die Apokalyptik bricht nicht mit dem Prinzip der Macht, sondern multipliziert es. Am Ende steht keine Befreiung, sondern ein neues Reich, das Reich des „Höchsten, dem alle Mächte dienen und gehorchen“. Mit dem Wort gehorchen endet die Vision. Doch fügt der Autor noch hinzu: „Mich, Daniel, erschreckten meine Gedanken sehr, und ich erbleichte.“

Die Vernichtung von Himmel und Erde

Ein solches Erschrecken und Erbleichen fehlt dagegen in dem mit Abstand einflussreichsten apokalyptischen Text: der Offenbarung des Johannes, geschrieben etwa um das Jahr 90 n. Chr. Der Autor ist mit der Logik der Vernichtung vollkommen im Einvernehmen. Zur Disposition stehen nicht nur ein paar Tyrannen und ihre Handlanger, sondern der gesamte Kosmos soll ausgelöscht und neu geschaffen werden.
Diese Radikalisierung der apokalyptischen Vision antwortete auf eine Radikalisierung der Herrschaft: Das Römische Imperium hatte das System aus Geldwirtschaft und Krieg perfektioniert und erzeugte damit, vor allem an den Rändern seines Herrschaftsgebietes, kollektive traumatische Ohnmachtserfahrungen. Exemplarisch dafür steht der vierjährige Vernichtungskrieg Roms gegen die Erhebung jüdischer Rebellen in Palästina, der im Jahr 70 mit der Zerstörung Jerusalems und des jüdischen Tempels endete. Die Zahl der Toten soll eine Million überstiegen haben, Tausende wurden gekreuzigt. Die alptraumhaften Ereignisse waren im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen tief verankert. Die Bösartigkeit der Welt schien so überwältigend und die Ohnmacht so total, dass als Ausweg nur eine Vernichtung der gesamten Erde und eine vollständige Neuschöpfung durch himmlisches Eingreifen möglich erschien: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem von Gott her aus dem Himmel herabkommen.“

Das Himmlische Jerusalem und der Schwefelsee

Das Neue Jerusalem ist kein Ort für alle Menschen. Es ist keine Utopie einer friedlichen, gerechten und versöhnten Welt, wie man sie in den Evangelien in der Rede vom „Himmelreich“ oder bei den Propheten des Alten Testaments findet. Es ist ein Ort der radikalen Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Verworfene. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die in das Buch des Lebens eingetragen sind: Für sie wird die Himmlische Stadt, das Neue Jerusalem erschaffen, „bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat“. Auf der anderen Seite stehen die Aussortierten, Unbrauchbaren, Verworfenen: Wer nicht im Buch des Lebens verzeichnet ist, wird für alle Ewigkeit in einen See aus brennendem Schwefel geworfen.
Diese Vision ist bis heute – durch alle Säkularisierungen hindurch – prägend für die westliche Zivilisation geblieben. Mit der Entstehung einer kapitalistischen Weltwirtschaft seit dem 16. Jahrhundert erfuhr sie zugleich eine Renaissance und eine Umdeutung, vor allem durch die Lehren der Calvinisten und Puritaner, die in den kapitalistischen Zentren der Niederlande, Großbritanniens und später der USA sehr einflussreich wurden.
Nach den Lehren des Johannes Calvin aus Genf waren die Menschen von Gott noch vor der Erschaffung der Welt in Auserwählte und ewig Verdammte geschieden. An diesem vorbestimmten Schicksal könne kein Mensch etwas ändern, weder durch gute Taten noch durch Glauben. Allerdings könne er auch nie mit Sicherheit wissen, zu welcher Gruppe er gehört. Daher sei er auf Zeichen angewiesen – und das deutlichste Zeichen dafür, zu den Auserwählten zu gehören, ist laut Calvin unermüdlicher Arbeitseifer und wirtschaftlicher Erfolg.
In der calvinistischen Ideologie verbindet sich die apokalyptische Tradition mit dem kapitalistischen Projekt. Die Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Verdammte, wie sie die Johannes-Offenbarung verkündet, wird auf das Wirtschaftsgeschehen projiziert, göttliche Ordnung und Marktlogik werden eins. Den Armen gehört nicht das Himmelreich, sie erscheinen vielmehr als von Gott Verworfene, die unrettbar der Hölle bestimmt sind, während die Reichen in die Rolle der Auserwählten schlüpfen. Keine irdische Macht ist für diese Segregation verantwortlich, sondern Gottes unhinterfragbarer Ratschluss vor Anbeginn der Zeit. Dass sich diese Lehre in den Zentren des wirtschaftlichen Umbruchs so rasant ausbreitete, lag zweifellos daran, dass sie einen wichtigen Zweck erfüllte: Sie legitimierte die soziale Spaltung und entzog sie der Debatte.
Die Puritaner trugen diese Lehre in die nordamerikanischen Kolonien. Erfüllt von der Vorstellung, das Ende der Zeiten sei nahe, war Amerika für sie der Ort, wo das Neue Jerusalem entstehen würde: die „City upon a Hill“. Und wie das Neue Jerusalem so sollte auch Neu-England kein Ort für alle Menschen sein. Die dort lebenden Pequot etwa wurden innerhalb von wenigen Jahren fast vollständig ausgelöscht.
Die Siedler verbanden ihre apokalyptische Mission mit wirtschaftlichen Ambitionen. Die Kolonisierung wurde von Aktiengesellschaften – nach dem Muster der holländischen und englischen Ostindien-Kompanien – vorangetrieben, denen die englische Krone die Verfügungsgewalt über bestimmte Territorien verliehen hatte. Die ärmeren Kolonialisten verkauften sich an diese Kompanien für sieben Jahre als Leibeigene. Ihr Auftrag war es, in der Neuen Welt Profite für die Shareholder in London zu erwirtschaften, egal mit welchen Mitteln.
Die Verbindung von Eschatologie und ökonomischer Expansion verlieh dem Projekt eine utopische Aura, die über die harte Realität in den frühen Kolonien hinwegstrahlte. Die Himmlische Stadt würde nicht vom Himmel kommen, sondern sie konnte nun hergestellt werden. Die Kolonisierung Amerikas war der erste Schritt. Um die Neue Welt zu bauen, musste die alte, vorgefundene Welt zerstört werden. An ihre Stelle sollte eine Schöpfung aus der Hand des neuen Meisters der Erde treten: des weißen Mannes, der selbst Werkzeug eines weißen, männlichen, autoritären Gottes war.

Green Zones und die Unsichtbare Hand des Marktes

Die von Calvinisten und Puritanern in die Logik des Kapitalismus übersetzte Vorstellung einer radikalen Spaltung der Menschheit in Auserwählte und Verdammte ist heute von geradezu unheimlicher Aktualität. Himmlisches Jerusalem und Schwefelsee liegen in den modernen Global Cities häufig nah beieinander. Während die Auserwählten in gläsernen Türmen Zahlen, Buchstaben und Bilder über ihre Bildschirme laufen sehen, versinken wenige Straßenecken weiter die vom globalen Markt Verworfenen in Fäkalien- und Müllbergen, die von den Himmlischen produziert werden. Was Slumbewohner und Aufsteiger voneinander scheidet, sind Ziffern, die in der zeitgenössischen Variante des Lebensbuches verzeichnet sind: dem Konto. Wer nicht in das Buch der Bank eingetragen ist, für den ist im 21. Jahrhundert nur der Schwefelsee vorgesehen.

 Die Hand am Puls des Gelds… …oder am qualmenden Schwefel

Auf dem Thron sitzt kein Gott mehr, sondern die Unsichtbare Hand des Marktes, die Gewinner- und Verliererlose verteilt. Sie spaltet den Raum in zwei radikal getrennte Sphären. Deren Bruchstellen sind an den Stacheldrahtzäunen, die Europa und die USA zu Festungen machen, ebenso zu sehen wie an den Mauern, die Israel und Palästina trennen. Auf der ganzen Welt entstehen Netzwerke von Gated Communities, von Green Zones, verbunden durch Hochsicherheitskorridore. Die Highways, auf denen die Erwählten in klimatisierten SUVs mit getönten Scheiben fahren, durchschneiden das Land der Verlierer, denen nur der Staub und der aus dem Fenster geworfene Müll bleibt. Das Himmlische Jerusalem unserer Zeit wird von Polizeirobotern und Drohnen gegen diejenigen, die dem Schwefelsee zu entkommen versuchen, geschützt.
Wie in der Offenbarung verläuft die Spaltung der Welt heute entlang einer Linie der Abstraktion: Die irdische, konkrete, naturgegebene Welt wird verworfen, sie mutiert zum Feuersee; vom Himmel dagegen kommt eine vollständig abstrakte, rechtwinklige Stadt, die „aus reinem Gold, wie aus reinem Glas ist“ und mit einem goldenen Maßstab vermessen wird. Auf unheimliche Weise ist die Phantasie des Johannes heute in den Downtowns von São Paulo, Singapur, Dubai, Houston usw. Wirklichkeit geworden. An die Stelle Gottes sind die Ingenieure und Baumeister der modernen Welt getreten, die an einer zweiten, künstlichen Schöpfung arbeiten. In dieser Welt soll „der Tod nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.“ Doch der Preis für dieses hybride Projekt ist die Zerstörung der ersten Schöpfung. Es ist eine bittere Pointe der Geschichte, dass die Vision totaler Macht über die Schöpfung ursprünglich einem Impuls der Revolte gegen die Macht entsprang.

Die andere Apokalyptik

Die dualistische, autoritäre Apokalyptik war jedoch nicht die einzige Spielart des radikalen Traums von einer Neuen Welt. Gegen den sich im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit erneut formierenden Geld-Krieg-Komplex, erhoben sich vom 13. bis 16. Jahrhundert massive soziale Bewegungen, die von der Vision einer egalitären Gesellschaft inspiriert waren. Ähnlich wie in der Antike ging mit dem Aufstieg von Geldwirtschaft und Militarisierung eine zunehmende Kommerzialisierung und soziale Polarisierung einher. Die kapitalistische Weltwirtschaft war im Entstehen begriffen – und mit ihr eine neue Welle der Apokalyptik. Je massiver sich die neuen ökonomischen und militärischen Mächte formierten, je größer die Ohnmacht der Bevölkerung war, desto lauter wurden die apokalyptischen Töne in den sozialen Bewegungen.
Die Reihe von solchen apokalyptisch inspirierten egalitären Bewegungen reicht von den Armutsbewegungen des 13. Jahrhunderts über die böhmischen Hussiten des 15. Jahrhunderts bis zu den deutschen Bauernkriegen und der Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts. Thomas Müntzer, der die Bauernbewegung in der Reformation – gegen Martin Luther – unterstützte, sah in den Auseinandersetzungen einen endzeitlichen Kampf, der in der Schlacht bei Frankenhausen (1525) gipfeln würde. Doch die mit Heugabeln und Dreschflegeln bewaffneten Bauern warteten dort vergeblich auf den Beistand des Heiligen Geistes: Mehr als 5000 von ihnen wurden in einem regelrechten Massaker von einer erdrückend überlegenen Armee niedergemacht, die selbst nicht einmal ein Dutzend Soldaten verlor.
Nicht einmal zehn Jahre später riefen in Münster die sogenannten Täufer eine Gütergemeinschaft nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde aus und verbrannten die Schuldenregister des Stadtarchivs. Während sich um die Stadt bereits die kaiserlich-bischöflichen Truppen zusammenzogen, schwangen sich apokalyptische Propheten als Führer der Bewegung auf und verkündigten das bevorstehende Erscheinen Christi. Der Heiland aber erschien nicht, stattdessen wurde die Stadt im Jahr 1535 von den übermächtigen Truppen erobert. Die Führer der Bewegung wurden öffentlich gefoltert und hingerichtet, ihre Leichen am Kirchturm aufgehängt und zur Schau gestellt, damit „sie allen unruhigen Geistern zur Warnung und zum Schrecken dienten, dass sie nicht etwas Ähnliches in Zukunft versuchten oder wagten“.
Die apokalyptische Wendung der Bauernrevolte und das Ende des Münsteraner Täuferreichs zeigen die Tragik der egalitären Bewegungen, die angesichts ihrer Ohnmacht gegenüber dem erstarkten Geld-Militär-Komplex in apokalyptische Phantasmen entglitten – ähnlich wie bereits die antiken Apokalyptiker angesichts der Übermacht römischer Legionen.
In der Französischen Revolution tauchten einige Züge der egalitären Apokalyptik wieder auf; der Beginn einer neuen Zeitrechnung in Form des Revolutionskalenders steht symbolisch für diese Tradition. Auch einige Strömungen der sozialistischen und kommunistischen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert trugen, bewusst oder unbewusst, die Erbschaft der egalitären Apokalyptik aus der frühen Neuzeit weiter. Die Vorstellung von einem vorgezeichneten historischen Prozess, der in einen ewigen Endzustand – den Kommunismus – mündet, ist z.B. eindeutig apokalyptischen Ursprungs.
Doch die sozialen Bewegungen der letzten Jahrzehnte haben aus der Geschichte gelernt. Der berühmt gewordene zapatistische Slogan „Fragend gehen wir voran“ etwa gibt die Vorstellung eines vorgezeichneten geschichtlichen Pfads, der in einen ebenso vorgezeichneten Endzustand mündet, auf. Der Glaube an eine revolutionäre Elite, die ein esoterisches Wissen über den Lauf der Geschichte besitzt, ist in den neueren sozialen Bewegungen ebenso verschwunden wie die Vorstellung, dass es einen Dies irae, einen endzeitlichen „Tag des Zorns“ geben wird, an dem alles umgeworfen wird und eine neue Epoche beginnt. Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass ein Ausstieg aus der tödlichen Logik der Kapitalakkumulation nur als Prozess und nicht als Ereignis vorstellbar ist – und zwar als ein Prozess mit vollkommen offenem Ausgang.
Der Ausstieg aus dem apokalyptischen Denken bedeutet dabei keineswegs das Ende aller Utopien. Wie der Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein es formuliert hat, hängt in der derzeitigen instabilen Phase des Weltsystems die Zukunft von einer beinahe unendlichen Anzahl von Entscheidungen einer beinahe unendlichen Anzahl von Menschen ab. Ob daraus tatsächlich etwas Neues hervorgeht, wie dieses Neue aussehen wird, ob es besser oder – was durchaus möglich ist – schlechter als die Gegenwart sein wird, all das ist weder vorhersehbar noch planbar. Die gute Nachricht ist: Es kommt auf uns alle an. Wir müssen nicht auf ein Zeichen von oben warten, um uns auf den Weg zu machen.


 

Der Artikel basiert auf einem Kapitel des voraussichtlich im Frühjahr 2015 erscheinenden Buches „Zivilisationswende“.

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