von Andreas Exner und Isabelle Schützenberger
Urbanes Gärtnern gewinnt seit einigen Jahren zunehmend auch in Wien an Bedeutung. Die Gärten sind dabei nicht auf die physischen Gartenorte zu reduzieren, sondern mindestens ebenso als diskursives Phänomen von Bedeutung. Eine Reihe von Zuschreibungen fällt ins Auge, wonach die Gärten sozialen Zusammenhalt fördern sollen oder Ansatzpunkte für eine Transformation des urbanen Raums darstellen. Nicht selten erscheinen sie wie ein Wundermittel für die Probleme der kapitalistischen Stadt, so schillernd sind die Hoffnungen, die in Büchern und Medienberichten damit verbunden werden. Wiederholt wird auch die Rolle von urbanen Gärten für Ernährungssouveränität betont. Sie sollen eine „demokratische“ und „krisenfeste“ Nahrungsmittelversorgung fördern.
Ist dies nicht ein reichlich hoch gegriffener Anspruch für ein Phänomen, das in der Regel nur wenige tausend Quadratmeter einnimmt? Können ein wenig Ruhe und ein paar Tomaten wirklich den Kapitalismus und sein Ernährungssystem aus den Angeln heben? Warum sollen gerade die neuen urbanen Gärten vollbringen, was schon den altbekannten Schrebergärten nicht gelungen ist? Und warum verbindet sich gerade mit den neuen Gärten dieses Ziel – während man im Schrebergarten in der Regel, von manchen Anfängen der Kleingartenbewegung einmal abgesehen, bekanntlich mit ein paar Blumen und ein wenig Gemüse ganz zufrieden ist?
Diesem bemerkenswerten Anspruch also, wonach die neuen urbanen Gärten einen Beitrag zur Ernährungssouveränität leisten, wollen wir in einer zweiteiligen Artikelfolge nachgehen und dafür Wien unter die Lupe nehmen. Dazu skizzieren wir zuerst die Perspektive von Ernährungssouveränität, beschreiben dann urbanes Gärtnern, bewerten es im Lichte dieser Perspektive und präsentieren schließlich einige Überlegungen zu dessen Weiterentwicklung. Wir wollen damit zu einer Antwort auf die Frage beitragen, was Ernährungssouveränität als eine Perspektive von in der Stadt lebenden Menschen bedeuten könnte, die das Urbane als politisches Territorium und physischen Raum mit seinen materiellen, symbolischen und konzeptionellen Aspekten (siehe Lefebvre 1991) ins Zentrum rückt.
Was ist Ernährungssouveränität?
Der Begriff der Ernährungssouveränität taucht zum ersten Mal beim World Food Summit 1996 auf. Im Schatten von Strukturanpassungsprogrammen an der kapitalistischen Peripherie und einer weltweiten wirtschaftlichen Liberalisierung seit den 1980er Jahren waren zu diesem Zeitpunkt neue Formen bäuerlichen Widerstands gegen das sich etablierende Freihandelsregime entstanden. Eine wichtige soziale Basis dafür waren autonomistische Bewegungen, die unter anderem der Rückbau staatlicher Subventionen mobilisierte (Martínez-Torres et Rosset 2010). Dieser Widerstand kristallierte 1993 in der Gründung von La Via Campesina, einer weltweiten Dachorganisation von Kleinbäuerinnen und -bauern, die den Begriff der Ernährungssouveränität entwickelte und prägte, der inzwischen weitere Kreise gezogen hat (Akram-Lodi 2013).
Die damit verbundene Zielrichtung war ursprünglich auf den Staat hin orientiert. Demnach wird damit „das Recht der Völker, Nationen und Staatengemeinschaften, ihre Ernährungs- und Agrarpolitik selbst zu bestimmen“, bezeichnet. Dieses Verständnis wurde beim Nyéléni-Forum 2007 erweitert (Choplin et al. 2011: 98). Nun rückten auch stärker antikapitalistische Momente in den Vordergrund. So heißt es in der Erklärung des Forums sogar, Ernährungssouveränität setze „egalitäre, freie Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Völkern, ethnischen Gruppen und sozialen Klassen voraus“ (a.a.O.: 104).
Ein solcher mit Ernährungssouveränität formulierter Anspruch kann nur durch eine breite gesellschaftliche Umwälzung eingelöst werden, die erst die notwendigen Grundlagen dafür schaffen würde. Gleichwohl lassen sich transformatorische Ansätze der Ernährungssouveränität von weniger radikalen unterscheiden, die sich auf den Übergang im Rahmen kapitalistischer Bedingungen konzentrieren, neben reformistischen Interpretationen zum Beispiel in der FAO (Akram-Lodi 2013).
Die vom Nyéléni-Forum 2007 formulierten sechs Prinzipien der Ernährungssouveränität reichen vom
* „Vorrang für die Ernährung der Bevölkerung“, der
* „Wertschätzung der LebensmittelherstellerInnen“ und der
* „Etablierung von lokalen Produktionssystemen“ bis zur
* „Stärkung der lokalen Kontrolle“, zum
* „Aufbau von Wissen und Fertigkeiten“ und zur
* „Arbeit mit der Natur“ (Choplin et al. 2011: 105ff).
Sie handeln im Kern von der Infragestellung der kapitalistischen Landwirtschaft, der Mechanismen sozial unkontrollierter Lebensmittelmärkte und einer autoritären Struktur von Agrar- und Lebensmittelpolitik. Freilich ist ihr Inhalt selbst nicht eindeutig festgelegt. Beispielsweise wird der „Vorrang für die Ernährung der Bevölkerung“ zum einen als eine Kritik an der „Behauptung der Lebensmittelindustrie“ verstanden, „dass Lebensmittel eine Ware wie jede andere sind“ (wobei zumeist unklar bleibt, inwiefern Lebensmittel nun genau keine Ware wie jede andere sein sollen); zum anderen aber auch als eine grundlegende Infragestellung der Warenform als solcher.
Die Antwort, was unter Ernährungssouveränität genau zu verstehen ist, fällt folglich verschieden aus, unter anderem je nachdem, auf welcher Ebene sie gesucht wird. Werden etwa programmatische Erklärungen zum Anhaltspunkt genommen, so könnte man sich an einer politischen Konsensformulierung wie von La Via Campesina in Gestalt der oben genannten sechs Prinzipien orientieren. Zwar bezieht man sich auf diese Weise auf die Programmatik einer weltweit agierenden, wirkmächtigen Organisation, allerdings wird man der Debatte um Ernährungssouveränität damit allein noch nicht gerecht. Denn sie involviert erstens inzwischen mehr AkteurInnen als nur die unmittelbar Produzierenden und kann zweitens bloß zum Teil in allgemeingültigen, expliziten Leitsätzen eingefangen werden.
Ein mehr strategisch-politischer, dynamischer Zugang bestünde darin, das weitere AkteurInnennetz, das den Diskurs der Ernährungssouveränität entwickelt, und deren jeweilige konkrete Auseinandersetzungen in den Blick zu nehmen. Dabei zeigt sich, dass Ernährungssouveränität je nach Region recht unterschiedlich aufgefasst werden kann (für Russland Spoor et al. 2013, für die USA Clendenning et Dressler 2013). Und auch innerhalb einer Region bleibt das Verständnis heterogen. AkteurInnen von Bewegungen, die sich auf Landwirtschaft, Gartenbau und Lebensmittel konzentrieren, können sich in verschiedener Weise auf Ernährungssouveränität beziehen, wie am Beispiel der USA beschrieben worden ist (Clendenning et Dressler 2013). Dessen ungeachtet kann inhaltlich betrachtet eine ganze Reihe von Initiativen als Teil von Ernährungssouveränität begriffen werden, wenn darunter das Ziel eines alternativen Nahrungsmittelwesens verstanden wird (a.a.O.: 26). Ernährungssouveränität erscheint folglich zum einen als Instrument in sozialen Auseinandersetzungen, zum anderen jedoch als ein abstrakt-theoretisches Konzept, das die verbindenden Elemente verschiedener Initiativen sozusagen von außen betrachtet sichtbar macht.
Weder der formalistische noch der strategische Zugang aber bekommen das überschießende, inspirierende Moment der Ernährungssouveränität zu fassen, die keine utopische Perspektive darstellt, sich aber auch nicht in realen, konkreten Strategien erschöpft. Es artikuliert sich darin zuvorderst ein Unbehagen, das sich mal auf den Agrarsektor im engeren Sinn fokussiert, dann wiederum Lebensmittel und Landwirtschaft eher als strategisch herausgehobene Orte des Widerstands gegen die kapitalistische Produktionsweise insgesamt versteht. So gesehen ist Ernährungssouveränität „eine andere Art darüber nachzudenken, wie das weltweite Nahrungsmittelsystem organisiert werden könnte“ (Akram-Lodi 2013: 4) – eine Funktion, die dem ansonsten nahestehenden Begriff der Ernährungssicherheit fehlt. Die „andere Art des Nachdenkens“ über Ernährungsfragen geht vor allem davon aus, dass Nahrung ein Menschenrecht darstellt, sowohl auf Seiten der Bäuerinnen und Bauern als auch auf jener der Konsumierenden, und dass ihre Produktion und Verteilung von den Beteiligten selbst bestimmt erfolgen sollte. Man kann Ernährungssouveränität in dem Sinn als einen bestimmten Modus politischer Debatte auffassen.
Diese produktive Mehrdeutigkeit der Ernährungssouveränität zeigt sich schon im Begriff selbst, der mehr als Zentrum einer Reihe nicht unbedingt logisch konsistenter Assoziationen aufzufassen ist, der also Debatten entlang unterschiedlicher Vorstellungen von Demokratie, Selbstbestimmung und gutem Leben ermöglicht und als solcher nicht strikt theoretisch ausgelegt oder operationalisiert werden kann. Darin lassen sich traditionelle Orientierungen an nationalstaatlicher Souveränität, konkret in der Forderung einer nationalen, protektionistischen Agrarpolitik gegen die Vorgaben der WTO, genauso anschließen wie Ansätze, die mehr die Selbstermächtigung der unmittelbar Produzierenden durch ihre Fähigkeit zur Selbstversorgung in den Vordergrund stellen, die ja paradoxerweise den größten Teil der weltweit Hungernden ausmachen. Drittens kann sich Souveränität direkt auf die Verfügung über Ressourcen, allen voran Land, beziehen.
Von da aus besteht ein enger Konnex zu den weltweit zunehmenden Auseinandersetzungen um Land, aber auch eine Verbindung zu den Wortneuschöpfungen der Energie-, Land- und Saatgutsouveränität, die ähnliche Praxen der kollektiven Selbstermächtigung bezeichnen sollen (Acosta 2012, Franco et Borras 2012, Kloppenburg 2010).
Kehren wir zurück zu der Feststellung, dass sich Ernährungssouveränität – ungeachtet solcher Differenzierungen und teilweiser Widersprüche – gegen die kapitalistische Landwirtschaft, sozial unkontrollierte Lebensmittelmärkte und autoritäre Agrar- und Lebensmittelpolitiken richtet. So aufgefasst ist es durchaus plausibel, Ernährungssouveränität als Teil von Bewegungen zur Überwindung von sozialen Ungleichheiten und der damit verbundenen kapitalistischen Produktionsweise insgesamt zu verstehen. Denn Veränderungen des Kapitalismus bilden den Kontext von Veränderungen des Agrarsystems, und letztere schaffen die Bedingungen für erstere. Zwischen beiden besteht folglich ein enger Zusammenhang (Akram-Lodi 2013), der sich in der Mehrfachkrise von Klima, Energie, öffentlichen Dienstleistungen, politischer Legitimität und Ernährung zeigt (GBW 2011, Attac Österreich 2011). So betrachtet ist die Ernährungs- nicht von der Kapitalismusfrage zu trennen.
Umgekehrt könnte man Ernährungssouveränität sogar als einen strategischen Fokus für antikapitalistische Bewegungen im Allgemeinen verstehen, wenn man Nahrungsmittel als einen Knotenpunkt verschiedener Herrschaftsverhältnisse dieser Gesellschaftsform begreift, der einerseits das Alltagsleben einer Gesellschaft bestimmt, andererseits noch mit einer „moralischen Ökonomie“ verbunden ist, woraus sich die weithin geteilte Skandalisierung von Hunger, industrieller Landwirtschaft und Qualitätsmängeln bei Lebensmitteln speist: „(…) Nahrung ist eine Modalität, in der Kapitalismus gelebt und in der alltäglichen Praxis greifbar gemacht wird“ (Figueroa 2013: 3; vgl. Akram-Lodi 2013: 20, McMichael 2008).
Die drei Spaltungen des Kapitalismus
Versteht man Ernährungssouveränität in einem weiter gefassten Sinn, so handelt es sich dabei um eine Perspektive der Transformation der kapitalistisch geprägten Gesellschaftsform. Eine solche Transformation müsste drei zentrale Ebenen jeglicher Gesellschaft erfassen: das stoffliche Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das Verhältnis der Menschen untereinander, und das kognitive und psychische Verhältnis der Menschen zur Natur. Alle drei Ebenen werden im Rahmen der kapitalistisch geprägten Gesellschaftsform von einer für sie charakteristischen Spaltung durchzogen. Während für die Reproduktion einer Gesellschaft die Pole dieser drei Verhältnisse aufeinander abgestimmt sein müssen, um Krisen und sozial bedingtes Leiden zu vermeiden, was ein hohes Maß der Integration und politischen Gestaltung erfordert, erscheinen sie im Kapitalismus als voneinander relativ unabhängig, getrennt, nur indirekt vermittelt. So erfolgt beispielsweise der gesellschaftliche Stoffwechsel nur vermittelt über Geld, Hunger reicht nicht aus um zu Nahrung zu kommen.
Diese Ebenen hat McClintock (2010) differenziert, um die potenzielle Rolle von urbanen Gärten für emanzipative Veränderungen zu analysieren. Wir wollen im Folgenden darauf Bezug nehmen, um die Frage systematischer diskutieren zu können, inwieweit urbane Gärten einen Beitrag zu Ernährungssouveränität leisten.
Die erste Ebene betrifft das ökologische Verhältnis, also das Verhältnis der Gesellschaft zur Natur. Dieses Verhältnis ist von einer Spaltung im ökologischen Stoffwechsel gekennzeichnet, die in der unzureichenden Rezyklierung von Nährstoffen zum Ausdruck kommt. Es wird mehr entnommen, als dem Boden rückgeführt wird.
Zweitens handelt es sich um eine Spaltung zwischen den Produzierenden und den Produktionsmitteln, die das soziale Basisverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise konstituiert, die Lohnarbeit. Menschen müssen sich als Ware Arbeitskraft verdingen, sich den Eigentümern der Produktionsmittel verkaufen, um zu ihren Konsummitteln zu gelangen. An ihrem historischen Anfang steht die Enteignung der Bäuerinnen und Bauern vom Land, die Entstehung des Proletariats.
Drittens reproduziert die kapitalistisch geprägte Gesellschaft eine Spaltung im kognitiven und psychischen Bezug zwischen dem Individuum und seiner Umwelt, was sich etwa als fehlende Beziehung zur Natur äußert. Menschen erleben sich als von der Natur radikal getrennt (McClintock 2010).
Alle drei Spaltungen stehen in engem historischem Zusammenhang mit der Trennung zwischen Stadt und Land im Sinn einer essenzialisierenden, scheinbar natürlich-zwangsläufigen Dichotomisierung. Tatsächlich führte erst die Enteignung der ländlichen Bevölkerung zum Anschwellen der Städte, was seinerseits die Voraussetzungen für die fortwährende Intensivierung von Herrschafts- und Produktionstechniken schuf. Dies leistete weiteren Enteignungen Vorschub, zum Beispiel durch die Mechanisierung, die auf einer Fossilisierung der Landwirtschaft beruhte. Zugleich erlaubte die daraus resultierende Intensivierung der Landwirtschaft eine Vergrößerung des relativen Mehrwerts und damit eine immer weiter expandierende Akkumulation des Kapitals, die Landwirtschaft und Lebensmittelsystem in der Folge ebenso immer weiter umgestaltet, wie es die Städte expandieren lässt.
Natur und Gesellschaft
Das urbane Wachstum treibt die ökologische Spaltung stetig voran. Die Städte fungieren als Nährstoffsenken, die dem Land die Bestandteile der natürlichen Bodenfruchtbarkeit entziehen. Dies kann nach Maßgabe der durch die Stadt freigesetzten, durchaus ambivalenten, weil ökologisch und sozial teilweise bedenklichen Produktivkräfte in gewissem Maße kompensiert werden, vor allem durch die Anwendung erdölbasierten, synthetischen Düngers. Das Beispiel des Phosphors zeigt allerdings, dass dies nicht alle Probleme der ökologischen Spaltung im kapitalistischen Rahmen löst, denn gerade die Phosphorverfügbarkeit droht zu einer ernstlichen Limitierung der Produktionspotenziale der Landwirtschaft bereits im ersten Viertel dieses Jahrhunderts zu werden (Zittel 2013a). Dazu kommt, dass im Zuge des Peak Oil und Gas, der Erschöpfung der billigen und beliebig steigerbaren Erdöl- und Erdgasförderung, voraussichtlich auch die fossile Basis der Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft erodieren wird (Zittel 2013b, Exner 2013a ).
Produzierende und Produktionsmittel
Die zweite Art der Spaltung, die Mc Clintock beschreibt – jene zwischen Produzierenden und Produktionsmitteln – ist kein historisch abgeschlossener Prozess einer nur „ursprünglichen“ Akkumulation, sondern muss immer wieder neu hergestellt werden. Dies verläuft unter Widerständen, es formieren sich Protestbewegungen und es kommt immer wieder auch zu Versuchen, genossenschaftliche Formen der Produktion, die auf selbstbestimmten Strukturen beruhen, zu organisieren. Auch führt die Kapitalisierung der Produktion paradoxerweise selbst nicht nur zu einem Anwachsen von Konkurrenz, sondern zugleich zu einer immer stärkeren Integration von wirtschaftlichen Sektoren und einer zunehmend kooperativen Orientierung der lebendigen Arbeit (worauf Begriffe wie jener der „emotionalen Intelligenz“, der „affektiven Arbeit“ oder der „Teamkompetenz“ und des „sozialen Netzwerks“ verweisen).
Derartige soziale Bewegungen und Unruhen beginnen insbesondere die Stadt als sozialen Raum eines immer wieder erneuerten Widerstands gegen das Kapital zu gebrauchen und zu entwickeln, wie die Beispiele der sozialen Umwälzungen im Gefolge der Ereignisse von 1968 ebenso wie der heute rasch zunehmenden riots weltweit zeigen, die beide in der Stadt zentriert sind. Soziale Bewegungen und Initiativen beginnen zudem, die Stadt als mögliche Verkörperung einer neuen Art der Vergesellschaftung zu begreifen, als eine Art kollektiven Gutes, das sich den Trennungen des Privateigentums teilweise entzieht. Die Stadt als solche ist aus dieser Perspektive ein Gemeinschaftsprodukt und eine allgemeine Reproduktions- und Produktionsgrundlage. Individuelle Beiträge zur Produktion des Gutes „Stadt“ können nicht oder nur willkürlich festgemacht werden – was alle produzieren, sollte auch allen gehören, so lautet folglich eine Überlegung im Rahmen von Debatten um ein „Recht auf Stadt“ oder die Bedeutung von Commons.
Natur und die Psyche des Individuums
Die kognitive und psychische Spaltung zwischen Individuum und Umwelt, die sich in der städtischen Lebensweise konzentriert, als dritte Art der Spaltung, führt zu wiederkehrenden ökologisch orientierten sozialen Bewegungen, die vor allem aus urbanen Milieus heraus erwachsen. Sie versuchen eine neue Art von Naturverhältnis zu entwickeln und zu etablieren. Dabei spielen die Mittel der Pädagogik und des Lernens in der Praxis eines veränderten Naturumgangs eine große Rolle.
Vor diesem Hintergrund wollen wir nun fragen, was Ernährungssouveränität im urbanen Raum bedeuten kann, und welche Praxen auf Entwicklungen in Richtung einer solche Perspektive deuten. Solche Überlegungen werden in letzter Zeit in Österreich unter den Vorzeichen der Ernährungssouveränität vermehrt diskutiert. Das gilt für das wachsende Interesse an Foodcoops ebenso wie für Debatten um urbanes Gärtnern. Daran anschließend wollen wir nun der Frage im Folgenden weiter nachgehen, was Ernährungssouveränität bedeutet, wenn sie nicht allein auf den Staat als Gesetzgeber bezogen gedacht wird, wenn eins nicht die Trennung zwischen Produzierenden und Konsumierenden durch den Lebensmittelmarkt voraussetzt (sondern diese hinterfragt), und wenn sie nicht auf das klassenpolitische Anliegen einer bestimmten Produzierendengruppe (die Kleinbäuerinnen und -bauern) verengt wird.
Weltweit gesehen setzt Ernährungssouveränität eher andere Schwerpunkte. Dies nicht zuletzt, weil im Kontext der Peripherie Problemstellungen in den Vordergrund rücken, die sich aus Verarmungs- und Verelendungstendenzen der Bäuerinnen und Bauern ergeben, wie sie in den Zentren nicht zu beobachten sind. Zudem stellen diese an der Peripherie einen weit größeren Teil der Bevölkerung als in Ländern der Zentren. Während an der Peripherie die Stärkung der Bäuerinnen- und Bauernschaft daher eher ein klassenpolitisches Anliegen ist, sind in den Zentren auch die Konsumierenden ein sichtbarer, zahlenmäßig teilweise sogar der wichtigste Akteur von Ernährungssouveränität.
Die Frage, was Ernährungssouveränität im urbanen Raum bedeuten kann, eröffnet zunächst einmal einen neuen Kreis von Diskussionen und Betrachtungsweisen, den wir hier nur anreißen. Gegenwärtige städtische Initiativen und soziale Bewegungen bieten freilich einige Anknüpfungspunkte dafür. Zum einen den politischen Aktivismus von Gruppen, die zu Ernährungssouveränität Positionen entwickeln und Aufklärung betreiben. Zum anderen aber Ansätze praktischer Transformation des Ernährungssystems, wie sie in Projekten von Community Supported Agriculture (CSA) (dazu Exner 2013b) zum Ausdruck kommt, aber, und das wird unser Fokus sein, auch in Beispielen urbanen Gärtnerns.
Teil 2 erscheint in Streifzüge 62
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