von Petra Ziegler
„Mit der Einsicht in den Zusammenhang stürzt, vor dem praktischen Zusammensturz, aller theoretische Glauben in die permanente Notwendigkeit der bestehenden Zustände.“
(Karl Marx, MEW 32:553, Brief an Kugelmann)
Befreiung beginnt mit Ent-Täuschung. Der ebenso hartnäckige wie für die psychische Ausgeglichenheit des menschlichen Individuums bedeutsame Glaube an die Selbstwirksamkeit, also daran, den Lauf der Dinge mit dem eigenen Handeln beeinflussen zu können, wirkt seltsam paradox für den Erhalt des Bestehenden. Wir überschätzen unsere Spielräume. Es sei denn, wir verwechseln Selbstbestimmung mit unserer gerne bemühten „Freiheit“ als Konsumierende, Wahlberechtigte, eklektisch Suchende wie Sammelnde, als Individualreisende auf all den Wegen, die uns angeblich offen stehen, oder dem Nonkonformismus belangloser Äußerlichkeiten und persönlicher Extravaganz.
Die vermeintliche Souveränität des modernen bürgerlichen Subjekts spiegelt sich in der Vorstellung, wir könnten’s uns allen als widrig erkannten Umständen zum Trotz irgendwie richten. Und die Alltagserfahrungen scheinen dies zu bestätigen: da eine Konkurrentin ausgestochen, dort ein wenig cleverer oder schneller als andere, einfach was Gescheites gelernt oder auch nur das Glück der Tüchtigen, schließlich sind wir kompetent und verstehen uns auch gekonnt in Szene zu setzen. Nützt alles nichts, sind zur Not eh alle erpressbar, nicht unbedingt finanziell, emotional allemal. So sehen wir denn auch bei diversen Umfragen zwar die Gesellschaft insgesamt mehrheitlich den Bach runtergehen, die eigene Zukunft dagegen tendenziell rosig.
Offenbar beharren wir desto intensiver auf den Gegebenheiten, umso härter wir um unseren Anteil gerungen haben oder je mehr wir uns herausgefordert fühlen. Argumente bleiben ohnehin wirkungslos, solange Imaginationen aufrecht gehalten werden, resp. aufrecht zu halten sind. Die eigene Position will jedenfalls mit Vehemenz verteidigt werden. Das kommt nicht von ungefähr: Lassen wir sie als Illusion platzen, stehen wir erst einmal vor dem Nichts. Alle bisherigen Zugeständnisse und Bemühungen wären vergeblich, unwiederbringlich im Alltagssumpf der kapitalistischen Verhältnisse vergeudete Lebenszeit. Wir hätten umsonst investiert.
Der Schmerz könnte kaum größer sein, eine Kränkung sondergleichen. Ein weiterer Schlag für das menschliche Selbstverständnis – und das nach Kopernikus, Darwin und Freud. Dann doch besser aufs eigene Vermögen setzen und den Besitzstand waren. Lieber halten wir uns an die bekannten Übel.
Absurde Verhältnisse
Der eigene Knecht zu sein, ist gerade noch auszuhalten, solange gesichert scheint, auch Herr zu sein. Wir wissen, was wir wollen, und es wäre doch gelacht, würde gerade unsereins es nicht erreichen. Eigenverantwortlich, zielstrebig und lernfähig, befindet das Selbstbild. Dass das nur zu gut mit dem krisenkapitalistischen Appell der letzten Jahrzehnte zusammengeht, mag schon mal verstören, im Wiederholungsfall bleiben aber immer noch Coaching oder die Segnungen der Pharmaindustrie. Als Getriebene einer blinden Dynamik wollen und dürfen wir uns nicht erkennen. Nicht einmal gedacht sollte derlei werden, der letzte Rest von Boden wäre uns entzogen. Es wäre unerträglich, empörend!
So zu empfinden geht nur haarscharf daneben, denkbar knapp am „Moment der Wahrheit“ vorbei sozusagen.
Eine Marionette, die selber die Fäden zieht, ist unmöglich. Und doch trifft dieses verrückte, aus Robert Kurz’ „Subjektlose Herrschaft“ entliehene Bild recht gut unsere alltägliche Wirklichkeit. Was uns zur kaum hinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist, unsere Existenz als Kauf- und Verkaufssubjekt, als ebenso besitzergreifendes wie verlustängstliches ewiges Mangelwesen schuldet sich eben dieser Verrücktheit. Wir reproduzieren sie in den Beiläufigkeiten des Alltags und bestätigen sie, indem wir mehr oder minder erfolgreich unsere subjektiven Interessen verfolgen. Indem wir an unseren Fäden zappeln, knüpfen wir das Netz dichter.
Ausgedacht hat sich das so niemand. Mit der Gleichsetzung und im Austausch unserer individuellen Arbeitsprodukte schaffen wir spontan, ohne Absicht oder Plan – sozusagen hinterrücks – die grundlegenden Struktur- und Bewegungsmuster unserer Gesellschaft. Es sind unsere eigenen wechselseitigen (Produktions-)Beziehungen, die uns in verselbständigter Gestalt konfrontieren. In unserem täglichen Tun, als Eigentümer von Produktionsmitteln und/oder Arbeitskraft, handeln wir uns eine im Wortsinn eigenwillige Form „sachlicher Abhängigkeit“ jenseits persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse und handgreiflich ausgeübter Herrschaft ein. Mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die zu keinem Zeitpunkt zur Verhandlung standen oder bewusst in Kraft gesetzt wurden. Diese Form bestimmt unser Leben weit über den Umstand hinaus, dass wir erst vermittels erfolgreichen Verkaufs der eigenen Arbeitskraft partiellen Zugriff auf Waren aller Art und damit die Produkte anderer erhalten. Als blindes Resultat unserer Handlungen bleiben ihre Regeln wirksam, solange wir an dieser Praxis festhalten.
Im Kapitalismus, und dadurch zeichnet er sich aus, besitzt die „eigne gesellschaftliche Bewegung“ für die Menschen „die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren“ (Marx). Bürgerlich frei leisten wir Fetischdienst. Wir dienen einer Diktatur der Sachen!
Ein mitreißender Konflikt
Unser kreatives, wissenschaftliches, technisch-automatives, kurz, unser produktives Potential, versetzt uns längst in die Lage, in immer kürzerer Zeit die notwendigen Gebrauchsgüter und darüber hinaus die Grundlagen für ein denkbar feines Auskommen aller bereitzustellen. Allein die moderne warenproduzierende Gesellschaft bringt das Kunststück fertig, potentielle Errungenschaften gegen sich selbst zu wenden. Ganz offensichtlich verträgt sich die Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten nicht mit den Notwendigkeiten der Wertakkumulation. „Die Kategorie des Werts, in ihrem Gegensatz zu der des stofflichen Reichtums, bedeutet, dass die Arbeitszeit der Stoff ist, aus dem im Kapitalismus Reichtum und gesellschaftliche Verhältnisse gemacht sind. Sie bezieht sich auf eine Form gesellschaftlichen Lebens, in der die Menschen von ihrer eigenen Arbeit beherrscht werden und gezwungen sind, diese Herrschaft aufrechtzuerhalten. Die in dieser gesellschaftlichen Form begründeten Imperative erzwingen ein rasantes Anwachsen der technologischen Entwicklung und ein Muster notwendigen fortdauernden ‚Wachstums‘: sie verewigen jedoch auch die Notwendigkeit unmittelbarer menschlicher Arbeit im Produktionsprozess, ungeachtet des Grads der technologischen Entwicklung und der Akkumulation stofflichen Reichtums.“ (Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 455)
Nur im Kapitalismus, so Marx unmissverständlich, hat gesellschaftliche Arbeit doppelten Charakter, nur hier existiert der Wert als spezifisch gesellschaftliche Form menschlicher Tätigkeit. Ein Spezifikum mit für uns alle schmerzhaft spürbaren Folgen:
Das „ungeheure Missverhältnis zwischen der angewandten Arbeitszeit und ihrem Produkt“ (Marx) lässt die Verwertungsmaschinerie zunehmend leerlaufen. Sichtbaren Ausdruck findet dieses Leerlaufen in den allgegenwärtigen Krisenerscheinungen. Während sich dem Alltagsverstand ein produktives, wertproduktives Einerlei präsentiert, fallen unter der Oberfläche stofflicher und wertförmiger Reichtum im Lauf der Produktivitätsentwicklung immer weiter auseinander. Die wachsenden Gütermengen repräsentieren eine sich tendenziell gegenläufig entwickelnde Wertmasse. Mit jedem Produktivitätssprung untergräbt der kapitalistische Selbstwiderspruch die Bedingungen der Wertschöpfung und damit die Grundlage der Arbeitsgesellschaft insgesamt. Diese Entwicklung ist unumkehrbar und sie aufzuhalten stößt absehbar und zunehmend an Grenzen. Aus sich heraus kann die Mesalliance zwischen Form und Inhalt zu keinem guten Ende kommen.
„Die Wert- und Warenform ist ein durch und durch imperiales Prinzip. Deren Geschichte bleibt, solange das Kapitalverhältnis auf seiner eigenen Grundlage prozessiert, stets eine Expansionsgeschichte. Ein immer weiter wachsender Teil des gesellschaftlichen Reichtums und der sozialen Beziehungen wird diesem Prinzip rigoros unterworfen. Die Wertform stößt sich nicht selber in den Orkus der Geschichte. Schon eine Eingrenzung des Herrschaftsbereichs der Wertform und erst recht natürlich deren De-Installation ist nur als antikapitalistische Praxis, als bewusstes Außerkraftsetzen der Prinzipien kapitalistischer Vermittlung vorstellbar. Das kann nur das Werk einer weltgesellschaftlichen Emanzipationsbewegung sein, die Formen direkter Gesellschaftlichkeit ausbildet und die die in Waren- und Geldmonaden aufgelöste ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit sukzessive durch eine freie Assoziation der Produzenten ersetzt.“
Dagegen wird die auf Arbeitsverausgabung zurückgehende Wertsubstanz „durch die innere kapitalistische Widerspruchsdynamik selbst ausgezehrt, indem das Kapital die Produktivkraftentwicklung bis zu dem Punkt vorantreibt, an dem die Anwendung der Wissenschaft die unmittelbare, isolierte private Produktionsarbeit als Hauptproduktivkraft ablöst. Dieser Prozess, der sich hinter dem Rücken der Gesellschaftsmitglieder vollzieht, muss sich früher oder später in einer Abnahme der produzierten Wertmasse niederschlagen. Im Zeichen der Verwissenschaftlichung der Produktion endet die säkulare Expansionsbewegung, die die Entwicklung der Wertmasse von den Anfängen des Kapitalismus bis zum Ende des fordistischen Zeitalters gekennzeichnet hat, und schlägt in eine langfristige Kontraktionsbewegung um.“ In anderen Worten: „Wertform und Wertsubstanz geraten in einen Konflikt.“ (Ernst Lohoff: Auf Selbstzerstörung programmiert, krisis 2/2013) Eine Entzweiung die uns – ganz nebenbei, aber unweigerlich – zu zerreißen droht.
Keine Frage
Geht es um Geld oder Leben, und nichts weniger steht zur Disposition, gilt es höchst einseitig Partei zu ergreifen. „In einer historischen Situation, in der Staat und Markt nicht mehr in der Lage sind, eine hochvergesellschaftete Reproduktion für alle sicherzustellen und in der die Welt in ständig wachsende abgekoppelte Elendsregionen und wenige High-tech-Wohlstandsinseln zerfällt, können die Menschen sich entweder dem Strudel barbarischer Entgesellschaftung überlassen, oder sie müssen dazu übergehen, ihre Gesellschaftlichkeit ohne diese versagenden Medien unmittelbar herzustellen; und das heißt eben gesellschaftliche Selbstorganisation.“ (Ernst Lohoff: Krise und Befreiung – Befreiung in der Krise, krisis 18/1996)
Die bewusste Überwindung des gesellschaftlich Unbewussten geht mit dem Abschied von den uns so vertrauten Formen wie Ware, Geld, Arbeit einher. Nur wenn wir Wert und Warenform restlos entsorgen, können wir unseren gleichsam ferngesteuerten Zustand hinter uns lassen. Erst danach kann die „eigentliche“ Geschichte der Menschen beginnen – ihre gesellschaftliche Selbst-Bewusstwerdung. Der Fetisch verliert seine Macht, sobald unser Tun, unsere Produkte und Zuwendungen, unmittelbar zum gesellschaftlichen Ganzen beitragen und nicht erst eine „von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt“ (Marx) annehmen müssen.
Formkritik ist also keine abgehoben abstrakt-theoretische Überlegung, sondern im Wortsinn radikale Kritik und Infragestellung der Verhältnisse im Jetzt und Heute. Mit der Ausgangsthese: Wie es ist, muss es nicht sein. Dieser Schritt kann auch nicht übersprungen werden, wollen wir nicht riskieren, mit unseren Vorstellungen einer post-kapitalistischen Gesellschaft ins Alte samt seinen Dynamiken zurückzufallen.
Abschied nehmen heißt es freilich auch von Politik-Illusion und Demokratiebekenntnis. Von all den Verschwörungstheorien mit irgendwelchen Strippenziehern im Hintergrund, von all den Gaunern und Gangstern, mit denen nur aufgeräumt werden müsste, oder den 99 Prozent, die doch ohnehin „das Richtige“ wollen und tun.
Ohne Umweg
„Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. (…) Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.“ (MEW 25:828)
Die Fragen, die sich stellen, liegen auf der Hand. Was brauchen wir? Wie kommen wir dazu? Und wie erfüllen wir unsere Bedürfnisse und Begehrlichkeiten – ohne die Umwelt in irreparablem Ausmaß zu schädigen, ohne nachkommenden Generationen den Planeten ausgeplündert, kontaminiert und vermüllt zu übergeben, ohne uns einseitig zu Lasten Dritter auszuleben und ohne unser jeweiliges Gegenüber willkürlich zu Handlungen oder Unterlassungen zu nötigen?
Oder anders: Wie koordinieren wir unsere sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Belange (Reproduktion, Verteilung, Ressourcenverbrauch etc.) bewusst, das meint direkt und nicht über den Umweg einer mit Eigenlogik behafteten abstrakten Form?
Deren auch nur gedankliche Eliminierung konfrontiert erst einmal mit einer Masse an Freisetzungen, die fast erschlagen könnte. Ganze Berufsgruppen, im Bereich Banken, Versicherungen, Marketing, Verkauf, Buchhaltung, Geldeintreibung, größere Teile des „organisierten Verbrechens“ und der hoheitlichen Verwaltung gehen ihrer Funktion verlustig. Zeitaufwändige Kostenkalkulation, Fundraising, Antragsschreiben … – alles Vergangenheit. Auch wäre niemand mehr gezwungen sich in Wert zu setzen, die innere Rechnungsprüfung darf anderen Neigungen Platz machen.
Mit dem Wegfall aller rein monetären Notwendigkeiten geschuldeten Tätigkeiten fangen die Einsparungen freilich erst an: Neuerungen bei technischen Geräten nur noch im Fall tatsächlich verbesserter Qualität, ressourcenschonende Herstellung statt betriebswirtschaftlicher Effizienz, schlaue update-Möglichkeiten usw. Generell längere Lebensdauer diverser den Alltag erleichternder Gerätschaften, keine durch Moden, die alle halben Jahre wechseln, künstlich verkürzten Produktzyklen, Schluss mit der geplanten Obsoleszenz, keine überflüssigen Parallelentwicklungen oder Produkte mit bloß andersfarbigen Aufklebern, vielleicht irgendwann das „ideale“ Sitzmöbel, von dem eins sich nicht mehr trennen möchte. Konsum aus Kompensationsgründen vermindert sich, keine Frustkäufe, keine Schnäppchenjagden, kein Mengenrabatt, keine Massenproduktion aufgrund steigender Skalenerträge etc. etc. Rückgang der materiellen Bedürfnisse überhaupt, jedenfalls in unseren Breiten. Das Ende der Wegwerfgesellschaft mit vermehrt echtem Recycling statt Downcycling und intelligenter „Reste-“Verwertung – insgesamt paradiesische Zeiten für TüftlerInnen. Forschungssynergien, aufbauend auf dem dann frei verfügbaren Wissen. Fortan gilt: Was ist die beste Idee, statt wer hat den größeren Werbeetat?
Nichts, womit bislang Geld gemacht wurde, bleibt unhinterfragt. Der Einwand etwa, wer dann noch bereit wäre, in irgendwelchen Minen zu malochen, zieht einen Rattenschwanz an aus heutiger Sicht nur teilweise absehbaren Veränderungen nach sich. Mobilität, Architektur, Ortsplanung – was für fantastische Herausforderungen liegen darin, geht es nicht darum, die Wirtschaft anzukurbeln oder finanzielle Mittel in die Gemeindekassen zu spülen.
Und nicht zuletzt spart Umwege vermeiden „leere“ Kilometer in gigantischem Ausmaß. Ein Drittel des Flugaufkommens fällt derzeit auf Geschäftsreisen, nocheinmal knapp halb so groß wie der Personenverkehr insgesamt ist der Flugfrachtverkehr (laut übereinstimmenden Schätzungen der NASA und des Wuppertal-Institut droht eine Verdoppelung in den nächsten 15 Jahren), nicht zu vergessen Rohprodukte und Halbfertigwaren, die aus Kostengründen zum Waschen, Montieren oder irgendeinem Verarbeitungsschritt quer über die Kontinente und retour gekarrt, geflogen und verschifft werden.
Was dann noch bleibt an Notwendigkeiten, beansprucht tatsächlich nur noch einen Bruchteil unserer Aufmerksamkeit und Energie. Auf gerade einmal durchschnittlich fünf bis zehn Stunden pro Woche kommen verschiedenste Schätzungen, und sie scheinen eher noch zu hoch gegriffen.
Miteinander entwickeln
Vermittlung über Geld und Markt schneidet uns von unseren Möglichkeiten ab, zwingt in einen Rationalismus, der einzig und allein der Vermehrung des Geldes um seiner selbst willen dient. Den „Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln“ heißt dagegen, die eigenen Lebensbedingungen bewusst und gemäß freier Übereinkunft zu gestalten, anstatt dabei „von einer blinden Macht beherrscht zu werden“.
Bereits heute verfügen wir über eine Vielzahl von Beispielen, wie Informationsaustausch und Koordinierung auch innerhalb sehr großer Netzwerke gelingen (etwa aus Open Source oder Peer-Commons-Projekten), die Herausforderung liegt eher darin, das Gewohnte zu verlernen. Oder auch, künftigen Generationen verständlich zu machen, warum einstmals, unabhängig von allem, was gewünscht, möglich und machbar war, erst einmal Geld aufgestellt werden musste, bevor Bedürfnisse befriedigt werden konnten. Der unablässige Tausch von Äquivalenten dürfte dann nur noch als barbarische Vorstufe des Teilens innerhalb einer vorgeschichtlichen Sozietät bestaunt werden.
Das menschliche Miteinander aus freien Stücken zu entwickeln bedeutet nicht zuletzt eine Schranke im Kopf loszuwerden. „Wie bringen wir also das Geld aus unseren Köpfen? Denn raus muss es. Mangel an Phantasie kann es ja nicht sein, der uns davon abhält. So gibt es ja kaum eine Absurdität, die wir uns nicht vorstellen können. Wir glauben Schauermärchen und sitzen den dümmsten Mythen auf. Wir nehmen kommerzielle Schrägheiten als bare Münze, wir folgen bereitwillig jeder abgedrehten Esoterik, der Zahlenmystik, den Horoskopen, den Latrinengerüchten oder gar den gefährlichen Mythen der Religionen. Uns kann man jeden Schwachsinn einreden, aber eine Welt ohne Geld zu denken, das kann nicht sein, das soll nicht sein, das darf nicht sein. Wir, die wir kein jenseitiges Diesseits auslassen, vermögen uns ein diesseitiges Jenseits nie und nimmer vorzustellen. Doch gerade dieser Schritt der Umschaltung setzt Emanzipation in Gang. Wir müssen lernen, uns und unsere Verhältnisse nicht über Geld zu synthetisieren.“ (Franz Schandl: Vom Schöpfen. Einwürfe jenseits des Bilderverbots, Streifzüge 45/2009)
Eine Assoziation freier Menschen muss ohne Formprinzip und immanente Logik auskommen, will sie ihr Miteinander aus freien Stücken gestalten. Menschliches Miteinander kann keinem Masterplan folgen, es muss der jeweiligen Situation entsprechend gestaltet und immer wieder neu erstritten und errungen werden. In ernsthafter Auseinandersetzung, in spielerischem Umgang, nach zu vereinbarenden Regeln oder den bloßen Zufälligkeiten folgend.
Wahrer Reichtum
Befreites Leben hat vor allem Zeit – für sich selbst, für das Miteinander. Zeit, die je eigenen Neigungen und Potentiale zu erkennen. Zeit für deren Verfeinerung, Ausdifferenzierung, Vervollkommnung oder einfach nur für die Freude am jeweiligen Tun. Zeit um sie anderen zu schenken, Anteil zu nehmen und Teil zu haben, um hinzusehen, nachzufragen und wahrzunehmen, für Dialog und Auseinandersetzung. Zeit, die individuellen und kollektiven Bedürfnisse und Begehrlichkeiten auszuloten, beizutragen, vorhandenen Mangel auszugleichen und gemeinsam aus dem Vollen zu schöpfen. „Reichtum ist verfügbare Zeit, und sonst nichts“ so erkannte schon Marx, „der wahre Reichtum ist disposable time“ für die Entwicklung der individuellen menschlichen Fähigkeiten und Talente als Selbstzweck.
Befreites Leben hat Gelegenheit für Muße, für geistige wie körperliche Aktivität, die nicht unter dem Zwang der Lebensnotwendigkeit steht, gleichgültig ist gegenüber dem Zeitaufwand; selbstbestimmt nicht selbstbeherrscht, gemäß eigenem Willen, ohne äußeren Zwang, weder von Dritten noch strukturell vorgegeben. Menschliche Verhältnisse sind solche, in denen die Notwendigkeiten einen Teil des Lebens bilden, ohne es einzunehmen.
Nicht ohne Hindernisse
Die kommenden Jahre und Jahrzehnte lassen kaum idyllische Verhältnisse erwarten, in denen zarte Pflänzchen vereinzelter selbstorganisierter Zusammenhänge langsam soweit heranwachsen, bis sie die kapitalistische Produktionsweise überwuchern. Eher geht das Zusammenbrechen der „auf dem Tauschwert ruhnden Produktion“ (Marx) mit massiven sozialen Verwerfungen einher, die zumindest regional fallweise plötzlich und unerwartet eintreten dürften. Derartige Szenarien – mit allen regressiven, repressiven und gewaltförmigen Begleiterscheinungen – lassen sich aktuell, siehe etwa Griechenland oder die Ukraine, bereits nur wenig außerhalb der europäischen Zentren beobachten.
Anstatt penibel ausgearbeiteter Blaupausen einer postkapitalistischen Weltgesellschaft wären wohl eher Kenntnisse leicht vermittelbarer und übertragbarer Organisationsstrukturen, wie unter derartigen Bedingungen zumindest eine vorübergehende Notversorgung aufrecht erhalten werden kann, gefragt.
Darüber hinaus freilich gilt: Ohne den Versuch einer emanzipatorischen Aufhebung werden wir von der selbstzerstörerischen kapitalistischen Dynamik einfach mitgerissen.
Hemmungslos altruistisch
Nicht so-sein zu wollen, wie uns von den Bedingungen des Werts diktiert wird, das Leben nicht im Konkurrenzkampf zu verbringen, ja, überhaupt sich nicht abfinden zu wollen mit Verhältnissen, die die Menschen unterdrücken, ausbeuten, verblöden und in jeder erdenklichen Hinsicht einengen, setzt nicht die umfassende Kenntnis des Marxschen Œuvres, geschweige denn der Hegelschen Philosophie voraus (helfen kann freilich beides) – es genügt, sich die täglichen Sachzwänge vor Augen zu führen, die eigene leidvolle Erfahrung einzugestehen und über sie nachzudenken.
Es gibt keine Transformation der gesellschaftlichen Strukturen ohne Änderung der mentalen Basis und keine Änderung der mentalen Basis ohne die Überwindung der Strukturen. Zweifellos. Doch für den Ausbruch aus dem Käfig der bürgerlichen Form braucht es nicht erst den „anderen“ Menschen. Wir verfügen über ausreichend geistiges, sinnliches, kreatives Vermögen. Vergeuden wir es nicht länger! Menschen mögen ebenso hemmungslos und unersättlich sein wie hingebungsvoll und fürsorglich. Kaum etwas ist da vorgegeben, die Schattierungen sind nahezu unendlich. Die Farbpalette des guten Lebens wird jedenfalls andere Töne hervorbringen als jene aus Zeiten, in denen Geld Leben frisst.
Befreiung beginnt, sobald wir unsere Unfreiheit an-erkennen. Erst wenn wir uns unsere Befangenheit in den Verhältnissen vergegenwärtigen, können wir erahnen, dass die engen Grenzen innerhalb der gesetzten Form nicht den Horizont unserer Möglichkeiten bilden.