von Stefan Meretz
Die Begriffe Keimform und Elementarform werden gerne in eins gesetzt, so etwa von Robert Kurz in dem Buch „Geld ohne Wert“ (Kap. 3, S. 57-67). Er verwirft beide Begriffe grundsätzlich. Das „Problem des methodologischen Individualismus …, hier in seiner historischen Dimension“ sieht er hier gegeben. Der methodologische Individualismus erklärt Gesamtphänomene aus der Bewegung von Einzelentitäten, also etwa die Ökonomie aus dem Handeln der nutzenmaximierenden Individuen (homo oeconomicus). Um zu klären, ob die Kritik berechtigt ist, sei die von Kurz eingeebnete Differenz zwischen Elementarform und Keimform erhellt.
Die Elementarform ist eine logische Ausgangsabstraktion, die im Verlauf der Analyse ihrer Widersprüche differenziert und konkretisiert wird, was zu neuen Begriffen führt. Karl Marx hat das mit der Ware für die kapitalistische Gesellschaft vollzogen. Aus deren widersprüchlicher Bewegung entwickelt er die Begriffe Gebrauchswert, Tauschwert, Geld, Lohnarbeit, Kapital etc. Am Ende kehrt die Analyse zum Ausgangspunkt zurück und bestätigt die Ware als konkret-allgemeinen Begriff, der nun inhaltlich gefüllt ist. Entscheidend ist, dass die Ware ohne den gesamten Vermittlungszusammenhang des Kapitalismus, in dem sie steht, nicht verständlich ist. Gleichzeitig verschwindet sie auch nicht völlig darin, sondern behält ihren elementaren, das Gesamte konstituierenden Charakter: Kein Kapitalismus ohne Ware und umgekehrt.
Der Begriff Keimform hingegen bezieht sich nicht auf die Stellung eines konstitutiven Elements im konstituierten Gesamt, sondern auf einen historischen Entwicklungsprozess. Hier ist die Frage nicht, was das Ganze logisch erzeugt, sondern wie ein Resultat zeitlich entsteht. In diesem zeitlichen Entstehungsprozess ändern sich alle Komponenten über mehrere Schritte, jeweils für sich und in ihrem Verhältnis zueinander. Diese qualitativen Übergänge gilt es zu verstehen. Entwickelt sich etwa die Keimform zur relevanten Entwicklungsdimension, verliert sich ihr Keimform-Charakter zunehmend in dem Maße, wie sich ihre doppelte Funktionalität zu entfalten beginnt: Sie wird zur relevanten Entwicklungsdimension für das „alte“ Gesamte und geht dennoch nicht darin auf, sondern bleibt in ihrer eigenen Logik inkompatibel zum Ganzen. Entfaltet sie sich weiter, so kommt es zu einem erneuten Umschlag, mit dem sich die Erhaltungslogik des Gesamten so umbaut, dass diese nun nach der Logik des Neuen funktioniert. Die frühere Keimform hat sich in die neue Systemlogik transformiert. Die neue Systemlogik könnte nun wiederum auf konstituierende Elementarformen analysiert werden.
Elementarform und Keimform sind folglich nicht das Gleiche. Die logische Konstitution eines Gegenstands kann nicht umstandslos auf seine historische Konstituierung übertragen werden. Wer also etwa die Ware als Keimform bereits im antiken Griechenland identifiziert und sie mit der Ware als Elementarform im entfalteten Kapitalismus gleichsetzt, der begeht einen kategorialen Fehler. Die Ware ist im Vollsinne des Begriffs nur Ware in der Totalität, der sie angehört: dem Kapitalismus.
Diesen Aspekt hebt auch Kurz hervor, und darin ist ihm in seiner Kritik an traditionellen Ansätzen zuzustimmen: „Die Kategorien werden … sowohl strukturell als auch historisch ‚dekontextualisiert‘ verstanden, also falsch“. Es sei ein „Anachronismus, die Logik dieser basalen ‚einfachen‘ Formen [Ware und Geld, SM], die nur unter der Voraussetzung des Kapitalverhältnisses existiert, … auf vormoderne, nicht-kapitalistische Verhältnisse zu übertragen, wobei der kapitalistische Kontext erst ein ‚Modell‘ ermöglicht, das zuvor gar nicht denkbar war“. Kurz plädiert für „ein dialektisches Totalitäts-Verständnis“, welches „einem positivistischen ‚Modell‘-Verständnis des methodologischen Individualismus unversöhnlich gegenübersteht“. Dieses würde tatsächlich, so ist Kurz zuzustimmen, den inneren logisch-konstitutiven (Elementarform) wie historisch-konstituierenden Zusammenhang von Momenten und Totalität aufrecht erhalten, anstatt ihn wie im Modelldenken auseinanderzureißen. Dort ergibt sich das Ganze aus der Aggregation der Teile, wobei das Ganze wie auch die Teile inhaltlich keine innere Verbindung haben (etwa der Kapitalismus mit der antiken „Ware“).
Doch wo bleibt die konstruktive und differenzierte Nutzung von Keimform und Elementarform als Begriffe eines dialektischen Totalitäts-Verständnisses, die sich einer zukünftigen freien Gesellschaft zuwendet? Kurz ist nach seinem gescheiterten Versuch mit dem Artikel „Antiökonomie und Antipolitik“ (vgl. „Vergebliche Suche nach Keimformen“ in diesem Heft) nie wieder darauf zurückgekommen und hat fortan all jene denunziert, die genau dies versuchten. So nimmt es nicht wunder, dass er beide Begriffe in eins setzt, um sie gemeinsam als Ausdruck des methodischen Individualismus und des Modelldenkens schlechthin zu verwerfen und als Teil seiner eigenen Vergangenheit zu entsorgen.
Die „Abwehr“ ist gleichwohl verständlich und in wertkritischen Kreisen üblich. Ernsthaft als Herausforderung angenommen, stünden zwei theoretische Aufgaben auf der Agenda. Erstens wirft der Keimform-Begriff die Frage nach der Genese des Kapitalismus auf. Der Kapitalismus müsste als besondere Form innerhalb einer gesamtmenschlichen Entwicklung begriffen werden, womit eine ebenso abgewehrte Auseinandersetzung mit einer positiven Geschichtsphilosophie anstünde. So schwimmt der Kapitalismus als schwarzes Ungeheuer im unbestimmten Meer der Geschichte.
Zweitens würde eine konstruktive Nutzung der Elementarform-Kategorie die Frage nach einem anderen konstitutiven Zusammenhang von Momenten und Totalität jenseits des Kapitalismus aufwerfen. Indem aber bis in die Erkenntnistheorie hinein die Begriffe als isolierte Angehörige allein dem Kapitalismus zugeschrieben werden, wird diese Potenz abgeschnitten. Ein übergreifendes Allgemeines gibt es nicht oder bleibt völlig unbestimmt.
Es ist klar, dass eine konstruktive Nutzung von Keimform und Elementarform nicht trivial ist und auch neue Kontroversen hervorruft (vgl. „Wie der Kapitalismus entstand“ in diesem Heft). Doch genau das sind die Auseinandersetzungen, die wir brauchen und die uns voranbringen.