von Lorenz Glatz
1.
Demokratie – Das Volk herrscht. Im Staat. Was wir heute unter den Namen Staat und Volk kennen, ist aber so alt gar nicht. Dieses Amalgam wurde in die Welt gesetzt und wuchs heran als Kampfmaschine der Fürsten in der Zeit der frühen Feuerwaffen. Kanonenrüstung und Festungsbau sowie Geldwirtschaft, Manufaktur und Markt zu deren Finanzierung und Bürokratie und Militär als Mittel, um sich durchzusetzen – so formierten sich die modernen Staaten, und diese ihr Volk, es musste sich so ziemlich alles ändern, damit es beim Alten bleibt, der alten Macht in neuen Formen. Auch in demokratischen eben.
Dieser moderne Staat ist einer und entwickelt sich, weil es mehr gibt als einen. In Japan und auch in China führte das von der neuen Kanonentechnik angeheizte Gemetzel zum Sieg einer zentralen Übermacht. Dann wurden (in gewissem Maß) „Schwerter zu Pflugscharen“. Auf Befehl der Macht, und nicht auf immer. In Europa nämlich blühte und gedieh die neue Form, Menschen zu beherrschen, in unermüdlichen, unentschiedenen Kriegen. Dort wuchsen in einem jahrhundertelangen Wettlauf militärischer und ökonomischer Modernisierung die Sorte Herren, Soldaten, Bauern, Arbeiter und Bürger heran, die diesen Machtkampf schließlich auf die Eroberung und Kolonisierung fast der ganzen Welt ausgeweitet haben.
Auch als Knecht, der seine Haut zu Markte tragen muss, lernt das Volk, worum es geht in solchen Zuständen – bei den Siegern zu sein, seinen kleinen Teil zu haben von der Beute. Der Lernprozess dauert in immer wieder aktualisierter Form schon seit mehr als einem Dutzend Generationen. Er hat dabei noch jeden Gedanken an Befreiung infiziert mit Wünschen nach und dem Gewöhntsein an Kommando, und jedes Aufstehen für ein gutes Leben krankte zuletzt an der Vorstellung, das sei das Leben derer, denen man es nehmen müsse. Vor allem aber kam von dort eine ungeheuerliche Dosis von Rassismus und Sexismus, die den „weißen Mann“, ob oben oder unten, als den legitimen Herrn der Welt fabulierte und wissenschaftlich begründete.
Der Gang der Entwicklung von absoluten Monarchien und Diktaturen zu Demokratien war, als man am Ziel stand, nicht der Aufbruch in ein freies Leben aller Menschen. Die Demokratie war und ist vor allem die Einbeziehung des ganzen Volks als eines von Politik und Ökonomie durchorganisierten Haufens in Organisation, Betrieb und Leitung der Staaten und der Wirtschaft. Demokratie ist Mobilisierung der Massen für die Logik der politischen und wirtschaftlichen Konkurrenz der einzelnen und der von ihnen gebildeten mehr oder minder ehrenwerten Banden auf dem Boden der Kapitalverwertung. Demokratie gelingt dort, wo Staaten in der Konkurrenz erfolgreich sind, wo es etwas zu verteilen gibt, das man den Verlierern der „Entwicklung“ aus der (meist „farbigen“) Hand schlagen konnte.
Die Resultate jedes politischen Prozesses und jeder Runde der Verwertung sind prekär, da Kompromisse unlösbarer Konflikte, Ergebnisse, die nicht befriedigen, sondern bloß Waffenstillstand sind, dessen Bruch alle Seiten gleich ab Abschluss vorbereiten. Die Stärke der Demokratie ist, dass sie in diese alles mitreißende Dynamik das ganze Volk, die Herren und die Leute, einbezieht, dass die Identifizierung mit dem auf der Höhe der „Entwicklung“ stehenden demokratischen Nationalstaat stärker, seine „thought control“ daher umfassender und das menschliche Potential größer ist, auf das er Zugriff hat. Demokratie zeigt den erreichbaren Höchststand an Affirmation herrschaftlicher Lebensweise, sie ist die sieg- und erfolgreichste Form, Staat und Politik zu machen.
2.
Das demokratische Staatsvolk ist eins nur gegen die anderen Völker. In sich ist es bis auf die Individuen zerspalten – one man one vote, seit einiger Zeit schon ist wo-man hier eingeschlossen. Individuen sind souverän, mit anderen verbindet und trennt sie zugleich von ihnen, dass sie vor einander Vorteil haben wollen. So geht das Spiel: „Eher sich an jene halten, aus deren Verbindung man selber eher als andere materiellen und gesellschaftlichen Vorteil davonträgt.“ (Hobbes) Was ich erreiche, fehlt anderen und umgekehrt. Das hält uns alle in Bewegung, lässt keins zur Ruhe kommen.
Jedes Wir, erst recht die Volksgemeinschaft, lässt sich unter solchen Bedingungen nur gegen Feinde konstituieren. Wir sind nur wir, weil und solange wir uns dieselben Feinde machen. Volk/Nation und Staat gibt es also nur in der Mehrzahl und zugleich nur als vom Gewaltmonopol regulierte Kampfarenen im Innern und als mit Gewalt gesicherte, drohende und zupackende Haufen nach außen. Als Gewalt-Kollektiv von Konkurrenzsubjekten. Die Gewalt bleibt Potenz oder aktualisiert sich, je nach dem Vorteil, der sich davon erwarten lässt. Konstitutiv ist sie auf jeden Fall. Und wenn eine Konkurrenz entschieden ist, hat sich die Hälfte aller Gegner verspekuliert. Vorläufig oder endgültig.
„Homo homini lupus“, „homo oeconomicus“, „survival of the fittest“, „das unternehmerische Selbst“ usw. sind prägnante Schlagworte aus den über die letzten Jahrhunderte entwickelten Beiträgen zu einer Anthropologie des bürgerlichen Individuums. Derlei Vorstellungen prägen – ihres eventuellen kritischen Potentials entkleidet, affirmiert und zur Norm erklärt – bis heute die verbreitetsten Auffassungen von menschlicher „Natur“ und geben der bürgerlichen Gesellschaft und allen ihren Strukturen und Erscheinungen eine theoretische Grundlage und Rechtfertigung. Vor allem aber recken und strecken sie das Subjekt in seinem Doppelsinn als Rollenträger und unterworfene Kreatur mit aller Kraft danach, diesen Vorgaben zu entsprechen.
Die Menschheit ist über die Ordnung der Kapitalverwertung schon bei einfachsten Bedürfnissen und Verrichtungen in Produktion und Diensten zusammengekettet. Im Zugang zu Arbeit und Konsum stehen – die Kontinente übergreifend – alle gegeneinander. Am Maßstab des Gelds und des Konsums und an den Stolpersteinen des Rassismus und Sexismus hat eine jede jeden und vor allem auch sich selbst wertzuschätzen oder zu verachten. Je mehr diese globale Lebensweise der Jagd nach Job und Geld allgegenwärtig, quasi-natürlich wird, desto umfassender wird auf allen Ebenen, von den Staaten(bünden) und Wirtschaftskonglomeraten abwärts bis zu den Monaden an der Basis der Kampf aller gegen alle. Je schwieriger und aussichtsloser die Ziele in der multiplen Krise der Verwertung und aller Herrschaft überhaupt zu erreichen sind, desto schriller und brutaler werden die Worte und die Taten.
3.
Eine bedrohte Staatsform schlägt um sich. So auch die Demokratie. Die um sich greifende Mentalität des „Für uns reicht’s schon noch“ biegt selbst noch die christliche Nächstenliebe zu einem Konzept des Ausschlusses aller derer zurecht, die z.B. nicht „zu den Unsern zählen“. Und auch unter denen haben selbstverständlich die „linkslinken Gutmenschen“ und erst recht die verschiedenen Minderleister und an den wachsenden Hürden vor einem Leben mit Arbeit und Geld Scheiternden von der Meute der „Tüchtigen und Fleißigen“ nichts Gutes zu erwarten. Auch die menschliche Erschütterung der Repräsentanten der EU über die Tragödie der in großer Zahl im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlinge führt bloß dazu, dass solche nunmehr militärisch daran gehindert werden sollen, erst in den europäischen Gewässern statt gleich in Afrika den Tod zu finden.
Die Wurzel jedes, auch des demokratischsten Staates ist nun einmal nicht das freundliche Zusammenleben der Leute – darin hatte die Menschheit schon lange davor eine gewisse Übung –, sondern vielmehr die Kontrolle der Bürger und Fremden zur Aufrechterhaltung, Adaption und Ausdehnung der herrschenden Ordnung, die von Linien der Unterdrückung, von Ein- und Ausschlüssen und miteinander prozessierenden Herrschaftsformen wie der kapitalistischen Verwertung, des Nationalismus und Rassismus oder des Sexismus durchzogen ist.
Die von dieser Ordnung dominierte Lebensweise stellt sich in allen ihren Kategorien nach einigen Jahrhunderten Entwicklung als destruktiv und unhaltbar heraus. Selbst Apokalypseblinde sehen da zuweilen schon Schatten. Die Leute und die Eliten, Staat und Politik genau so wie die Wirtschaft tun nur, was sie können: sie arbeiten oder suchen Arbeit, sie wählen und revoltieren, sie kontrollieren, analysieren und reformieren, ordnen und unterdrücken, sie jonglieren mit kargem Lohn oder mit Milliarden, sie probieren es auf alte wie auf neue Weisen, fleißig und mit List, treugläubig oder auch brutal – im Ganzen geht es bergab, die Weltordnung ist dabei, in Gewalt und Chaos umzuschlagen.
4.
Die den Menschen über ihre Empathie zuströmende Motivation zum freundlichen Umgang mit ihresgleichen und anderen Lebewesen ist für ihr Zusammenleben unabdingbar. Nicht einmal eine Verbrechergang lässt sich zusammenhalten ohne irgendwelche positiven, auch emotionalen Beziehungen, ohne den Brauch gegenseitiger Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. Die Geselligkeit des Menschen ist auf Dauer eben nicht unter einem Mindestmaß Zuneigung und Anerkennung zu haben. Freilich wird derlei vom Staat in allen seinen Formen einschließlich der Demokratie in rechtliche Grundsätze und Paragraphen eingefangen, je nach Lage und Interessen adaptiert, mit Orwellschem Neusprech in sein Gegenteil verkehrt. Schon die diversen Erklärungen der Menschenrechte in den bürgerlichen Revolutionen vertrugen sich durchaus mit dem Ausschluss der „minderwertigen Rassen“, der Sklaven und der Frauen und heute mit den empfindlichsten Einschränkungen im Namen des „Kampfs gegen den Terror“.
Und doch tut sich da – bei allem Wahnsinn und aller Gefahr – (vielleicht?) ein Fenster auf. Solange Erfolg mit Geld und Arbeit das akzeptierte globale Maß für gutes Leben ist, lässt sich trotz aller Krisen und Katastrophen die herrschende Ordnung nicht überwinden. Wer an der alten Ordnung nicht verzweifelt, sie für sich (was ist mit den Andern, wenigstens mit denen, die eins kennt?) „noch“ für lebbar hält, der mag mit Neuem kokettieren, wirklich offen ist er/sie dafür nicht. Es geht um Einsicht, doch beileibe nicht allein. Das, worauf wir hoffen und was wir für erreichbar halten, bringt uns voran, treibt uns dazu es zu versuchen. Das hilft übrigens auch der Einsicht erst so wirklich auf die Sprünge. Und den Experimenten, anders zu werden, besser zu leben.
Demokratie ist ein Kampfplatz, sie befreit nicht. Und der Zwang zur Konkurrenz im Dienst der steten Geldvermehrung, die „Kampfnatur“ des Menschen, führt uns in den Untergang. „Was auf dem Spiel steht, ist die Idee einer neuen Anthropologie, nicht nur als Theorie, sondern auch als Existenzweise, die Entstehung und Entwicklung eines vitalen Bedürfnisses nach Freiheit, und von vitalen Bedürfnissen der Freiheit“ (Herbert Marcuse 1968). Es wäre die Entfaltung all dessen, was wir unterhalb der Hobbes’schen „Wolfsnatur“ auch können, die unverzweckte Kooperation für nichts als das „Miteinander-in-Freiheit-und-in-Freundschaft-Leben“. Eine Fähigkeit, die sich im Wetterleuchten und in den Stürmen der Zersetzung und des Zusammenbruches regelmäßig auch erhebt. Es ist nicht das Gezerre und der Kampf der Interessen, das Ringen um das „Stück vom Kuchen“, sondern Sorge und Wohlwollen für einander, Freiheit, die wir einander gönnen. Vielleicht steckt dieser Gedanke schon in dem Satz, aus dem Hobbes sein „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ zitiert. Er heißt bei Plautus vollständig und beiläufig: „Wolf, nicht Mensch ist ein Mensch für einen Menschen, wenn er nicht weiß, wie der so ist.“ Auf einander zugehen, miteinander können, das ist der Kontext. Wir könnten und sollten den Faden aufnehmen – und Mittel und Wege finden, die Macht, Gewalt und Herrschaft aufzulösen, dass sie sich nicht von Neuem restaurieren.
Version 3 4.7.15