Die Maßnahme

2000 Zeichen abwärts

von Annemarie Rieder

Die Kursleiterin öffnet das Fenster. „Nun testen wir die Flugtauglichkeit!“ Heute ist der 11.11.11. Ein gutes Heiratsdatum. Ich bin in einer „Maßnahme“, und wir verbessern gerade mit Basteln unsere „Teamfähigkeit“.

Nein, da mache ich nicht mit! Ich würde mich zu Tode schämen, wenn mich jemand sieht, der mich kennt. Ich setze mich zum Computer. Wikipedia versteht unter einer Maßnahme „hoheitliches Handeln, das in die (Grund-)Rechte einer Person eingreift und gegen deren Willen vollzogen wird“. Ich kenne den Begriff nur im Zusammenhang mit Exekutive, Legislative, Jugendämtern, Krankenanstalten und Pflegebereich. Der in meinem Fall zuständige „Amtsträger“ ist das Arbeitsmarktservice, die Maßnahme ein sechswöchiger Bewerbungskurs. Von Akademikern bis zu Personen ohne Berufsausbildung reicht der Bogen der Teilnehmer.

Während der ersten Woche wird versucht das Selbstvertrauen der Langzeitarbeitslosen anzuheben. Wer bin ich? Was will ich? Was sind meine Stärken? Habe ich Schwächen? (Ich frage mich, wie wir zwanzig Menschen hier ohne „zeitgemäße Bewerbungsstrategien“ bisher immerhin insgesamt 209 Arbeitsstellen finden konnten.)
Danach sollen computergestützt Bewerbungen verfasst werden. Zwei Personen ist es unmöglich, einen Computer zu bedienen: einer liebenswert-temperamentvollen serbischen Analphabetin und einem älteren Herrn aus dem Baugewerbe, der fürchtet, dass die Tasten dem Druck seiner kräftigen Finger nicht standhalten würden. Auch die Anwender-Kenntnisse der Trainerin sind eher bescheiden, aber erfahrene KollegInnen aus dem Kurs leisten tatkräftig Beistand.

Begeisterungsschreie der siegreichen Gruppe signalisieren: Das Ei ist gelandet! Heil noch dazu. Eingebettet im fragilen Flugkörper aus Papier, welcher im fiktiven Assessment-Center nur mit Hilfe von Bleistift, Schere und Fadenmaterial im Wettbewerb konstruiert wurde.

Ich wende mich meinen Mails zu. Ein Arzt hat mich angeschrieben, um meine EDV-Dienste in Anspruch zu nehmen. Freiberuflich, nicht angestellt. Meine drei Kinder habe ich alleine großgezogen, jetzt muss es wohl auch ohne regelmäßiges Einkommen gehen. Ich werde zusagen. Das Risiko weiterer Maßnahmen erscheint mir größer.

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